jetzt sind wir schon mitten im dritten Band von Amalie Skrams Tetralogie, und wow, ist im ersten Drittel von S.G. Myre (wieder aus dem Norwegischen übersetzt von Christel Hildebrandt) viel passiert! Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll!
(Ich stehle jetzt einfach immer Birgits süße Katzenfotos zur Illustration dieser Posts, ok?)
Siverts ist zurück in Bergen mit festem Boden unter den Füßen, das Schiffsunglück, das er gerade so überlebt hat, ist etwa zwei Jahre her, und er arbeitet als Laufjunge und Hausbursche beim reichen Kaufmann Munthe, sprich: vormittags hilft er in dessen Kontor, und weil er so tüchtig ist und seine Arbeit dort so flink erledigt, verbringt er seine Nachmittage damit, den Hausangestellten von Munthe in dessen privaten Haushalt zur Hand zu gehen. Sivert ist froh, die Seefahrt hinter sich gelassen zu haben, denn wie sich zwischen den Zeilen herauslesen lässt, hat er aufgrund seiner traumatischen Erfahrungen auf der Zwei Freunde das entwickelt, was wir heute wohl PTSD nennen würden, er selbst nennt es "panische Angst vor dem Wasser" und "Todesangst", die er "in den Knochen spürt"; "keine Macht dere Welt" soll in wieder hinaus aufs Meer treiben können, das hat er sich geschworen.
Doch obwohl er sich bei der Arbeit für Munthe so geschickt erweist und sich gute Aufstiegschancen ausmalt, verspielt er diese Gelegenheit an einem einzigen Nachmittag, als er impulsiv mit Lydia, der braven, leicht hochnäsigen jugendlichen Tochter des Kaufmanns "anbandelt". Und diese Szene im Garten der Kaufmannsfamilie hat mich zunächst etwas ratlos zurückgelassen. Zum einen, weil Skram hier die Ereignisse so vage beschreibt und angedeutet lässt, dass mir erstmal gar nicht klar war, was genau überhaupt passiert ist, wie "weit" Sivert und Lydia gegangen sind. Im einen Moment sitzt Sivert noch "mit einer feinen Dame in den Armen", die sich "willig an ihn geschmiegt" hatte, im nächsten Augenblick, "und bevor er sich dessen noch wirklich bewusst war, hatte er mit Lydia das Gleiche erlebt wie der Segelmacher mit der feinen Kaufmannstochter". Die hier erwähnte Erzählung des Segelmachers im vorhergehenden Band hatte ich persönlich eindeutig als Schilderung einer Vergewaltigung interpretiert (und auch Sivert formuliert ja, der Segelmacher habe die junge Frau "mit Gewalt genommen"). Das ist in dieser Szene hier zwischen Sivert und Lydia wesentlich ambivalenter, Lydia scheint nicht grundsätzlich unwillig, sondern erstmal nur von ihrer strengen Erziehung gehemmt zu sein — weshlab sie sich erst auf Siverts "Verführung" einlässt, es jedoch hinterher sofort wieder bereut. In diesem ersten Kapitel war ich mir wie gesagt noch unsicher, was überhaupt zwischen den beiden vorgefallen ist, ich konnte mir irgendwie nicht vorstellen, dass die beiden tatsächlich spontan im Garten (tagsüber) Sex hatten, gleichzeitig wird schnell deutlich, dass auf jeden Fall mehr als nur ein Kuss stattgefunden hat. Einige Äußerungen und Gedanken von Lydia später im Buch (im Internatskapitel, ich komme gleich noch näher darauf zu sprechen) haben mich dann wieder zweifeln lassen, ob es nicht vielleicht doch richtiger Geschlechtsverkehr war, andererseits ist Lydia so naiv und unschuldig und idealistisch in ihren Ansichten über Liebe und Beziehungen, dass sie vielleicht doch nur eine vergleichsweise harmlose "Petting"-Session überinterpretiert hat?! Hilfe! Wie habt ihr diese Stelle interpretiert?
Nach dem Vorfall mit Lydia in Munthes Garten geht Sivert jedenfalls nach Hause zu seinen Eltern, wo er direkt in eine christliche Andacht hineinstolpert, wie sie Jens und Marthe inzwischen regelmäßig veranstalten. Und über diese "Erbauungsrede", die dort von einem Mann namens Tofte gehalten wird, musste ich sehr lachen, denn da heißt es z.B.: "Stell dir vor, dass all deine Gliedmaßen, jedes Glied für sich, aufgeschnitten und all deine Eingeweide und all deine blutenden Glieder mit glühenden Feuerzungen bestreut werden, so, als streutest du Salz und Pfeffer in eine Schweinewurst, bevor du sie zusammennähst." Erbaulich, in der Tat! Im englischen Sprachraum nennt man so etwas auch "Fire-and-Brimstone-Preaching", wie es Prediger wie Jonathan Edwards während des sog. ersten "Great Awakening” in den 1730er und 1740er Jahren etabliert haben. "Reports of one occasion when Edwards preached it said that many of the audience burst out weeping, and others cried out in anguish or even fainted”, heißt es auf Wikipedia, und genau das passiert ja auch während Toftes Predigt. Ich fand die Vorstellung sehr witzig und gleichzeitig befremdlich, wie die Leute reihenweise ohnmächtig geworden, aus der Stube von Siverts Eltern getragen und draußen im Schuppen abgelegt worden sind.
Am nächsten Tag wird Sivert aufgrund seiner Verfehlung mit Lydia (die aber ihren Eltern gegenüber nur den Kuss zugegeben hat) die Anstellung bei Munthe gekündigt, er traut sich aber nicht, seinen Eltern davon zu erzählen, und treibt sich deshalb stundenlang ziellos in der Stadt herum. Dabei stößt er auf eine Horde Kinder, die gerade dabei sind, seinen behinderten Cousin Hans, Sohn seiner Tante Ingeborg, aufs grausamste zu verprügeln und zu misshandeln; Sivvert bringt den verletzten und verdreckten Jungen nach Hause zu seiner Tante, und hier folgt nun der Teil des Leseabschnitts, mit dem ich mich wirklich am allerschwersten getan habe:
Ich hoffe, dass wir Hans im Laufe des Buches nochmal zu Gesicht bekommen und dass die Erzählung dann sanfter mit ihm umgeht. Was sind eure Gedanken zu dieser Passage und dem darin zur Schau gestellten Ableismus? Wo, denkt ihr, liegen Amalie Skrams eigene Sympathien?
Sivert lungert weiterhin tagsüber in der Stadt herum, weil er seinen Eltern nicht vom Verlust seiner Arbeitsstelle erzählen will und trifft auf nächstes auf seinen Onkel Magne und dessen Frau Berthe. Auch Magne scheint den Alkoholismus seiner Eltern Oline und Sjur Gabriel geerbt zu haben, was bei Sivert wiederum zu Scham über seine Familie führt, ziemlich interessant fand ich aber in dieser Szene den gänzlich anderen Umgang von Magnes Frau mit dessen Alkoholsucht. Berthe gibt zwar ihr Bestes, Magne bei sich zu Hause und quasi "out of trouble" zu behalten, ist dabei aber im Vergleich zu bspw. Ingeborg oder auch Siverts Mutter Marthe, die mit Oline und Sjur Gabriel sehr grob und unfreundlich umgehen, sehr liebe- und verständnisvoll ihm und seiner Suchterkrankung gegenüber. Das fand ich einen spannenden Kontrast in diesem Roman.
Als nächstes verschlägt es Sivert, der sich auf dem Heimweg von Magne und Berthe vor lauter Scham über seine Familie gerade dazu durchringen wollte, sich das Leben zu nehmen, ins Haus seiner Großeltern, wo Sjur Gabriel gerade im Sterben liegt. Sein mit dem Tod und der "schweren Last” auf seinem Rücken fand ich sehr eindrücklich geschildert. Am folgenden Tag kommen im Rahmen des Begräbnisses von Sjur Gabriel alle dessen Kinder und deren Ehepartner*innen zusammen und in dieser Szene sind die vertrackten Familiendynamiken nochmal sehr schön zur Geltung gekommen. Besonders amüsant (aber auch irgendwie tragisch) fand ich, dass Sivert sich hier, ähnlich wie schon damals mit seinem Brief an die Eltern aus Jamaica), wieder eine ziemlich übertriebene Version der Ereignisse und seiner Rolle darin zurechtlegt, die seine Mutter Marthe wieder einmal nicht das kleinste bisschen in Frage stellt, sondern ganz im Gegenteil dazu nutzt, um sich vor ihren angeheirateten Verwandten zu profilieren. Weder Sivert noch seine Mutter scheinen aus ihren Fehlern im vorhergegangenen Band gelernt zu haben…
Im letzten Kapitel unseres Leseabschnitts verlassen wir schließlich Bergen und begeben uns in die Perspektive von Lydia, Kaufmann Munthes Tochter, die inzwischen auf eigenen Wunsch in ein Internat für junge Damen in Hamburg gekommen ist, wo sie sich jedoch zunehmend unglücklich fühlt — auch aufgrund der Gewissensbisse über das, was zwischen ihr und Sivert vorgefallen ist. Und in diesem Kapitel taucht meine absolute Lieblingsszene aus dem ganzen Leseabschnitt auf, die ich hier in ihrer Gänze wiedergeben möchte. Zwei Klassenkameradinnen von Lydia habn gerade eine heimlich einstudierte Theater-Liebesszene aufgeführt, nach der sich zwischen den Schülerinnen folgender Dialog entspinnt:
"Hab ich es wieder nicht richtig gemacht, Augusta?", fragte der Page.
"Oh, doch, aber du küsst immer noch mit geschlossenem Mund. Du hast keine Erfahrung, mein Mädchen."
"Nicht? Ich, die ich drei Wochen lang verlobt war! Aber er hat nie so geküsst, wie du es haben willst."
"Dann hast du es auch nicht verstanden, ihn an dich zu ziehen, Helenchen, und dann weißt du auch nicht, was es heißt, richtig von den Armen eines Mannes gedrückt zu werden. Du hättest meinen Gardeleutnant kennen sollen! Das war einer, der das konnte."
"Ist das der, von dem du die heimlichen Briefe in den letzten Tagen bekommen hast?”, fragte Lydia.
"Wo denkst du hin! Das war letztes Jahr. Ach nein, sie sind verschwunden, die schönen Tage der Liebe … Als der Sommer fort war, da war es mein Leutnant auch."
"Und — kam dann ein anderer?"
"Ja, dann kam ein anderer", Augusta blinzelte, nickte und lächelte verschmitzt.
"Und was hat er zu deinem Leutnant gesagt?"
"Zu meinem Gardeleutnant? Du denkst dir doch nicht, dass ich etwas gesagt habe? — Ein Geliebter soll immer glauben, dass er der Einzige und Erste ist, sonst ist die Verzauberung fort."
"Aber wenn er eines Tages auf die Idee käme, dich zu fragen?"
"Dann würde ich natürlich lügen."
"Oh, pfui", sagte Lydia.
"Würde ich all meine Liebesabenteuer jeder neuen Eroberung erzählen? Ach Gott, das wäre wirklich beschwerlich. Du weißt doch, dass ich angefangen habe, als ich zwölf war."
Ich muss sagen, Lydias pragmatische Klassenkameradinnen sind mir als Nebenfiguren sehr sympathisch, was sich in der nächsten Szene nochmal bestätigt. Hier tauscht sich Lydia vor dem Zubettgehen mit ihrer Zimemrnachbarin Rosa über die gesellschaftliche Doppelmoral hinsichtlich sexueller Erfahrungen bei Männern und Frauen aus, Lydia vertritt die konservative und Rosa im Vergleich eine ziemlich moderne Perspektive auf uneheliche sexuelle Erlebnisse:
"Aber sag mir", begann sie nach einer Pause und blieb hinter Rosa stehen, "wenn du es nun gewesen wärst, würdest du dann auch, ja, ich meine, würdest du das beispielsweise auch vor dem verbergen, den du heiraten wirst?"
"Glaubst du nicht, dass er auch etwas zu verbergen hätte?"
"Männer dürfen das ja."
"Und wir jungen Mädchen nicht", bemerkte Rosa trocken. "Deshalb halten wir es ja auch geheim."
[…]
"Ich habe gegört", sagte Lydia leise und blieb ein Stück von Rosa entfernt stehen, den Rücken ihr halb zugewandt, "dass solche Dinge nicht verborgen bleiben. Es heißt, dass man das in der Hochzeitsnacht merkt."
"Das ist nur etwas, das sie erfunden haben, um uns Angst zu machen", versicherte Rosa ihr.
Ich bin jetzt jedenfalls sehr gespannt darauf, wie sich Lydias Geschichte weiter entwickelt, ob sie ihre konservative Sichtweise irgendwann ablegen wird, ob sie Sivert noch einmal begegnet, etc. Was denkt ihr, wie es mit Lydia (und Sivert) weitergeht?
Und wie habt ihr dieses erste Drittel von Band 3 sonst so empfunden, was ist euch aufgefallen, was fandet ihr besonders interessant, was vielleicht eher schwierig? Ich freue mich auf eure Beiträge!
Bis nächste Woche, wenn wir hier das zweite Drittel von S.G. Myre diskutieren!
Ich habe die Szene mit Sivert und Lydia schon als Vergewaltigung interpretiert und war ziemlich erschrocken. Schließlich habe ich ja während der gesamten Seefahrt mit Sivert mitgelitten und war schon für ihn eingenommen (trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Angebereien und Fehler)
Zu Beginn des Buches ist Sivert ja fast schon zu gut (fleißig, höflich, zuverlässig usw.) Fast kitschig. Und dann ist mit diesem einen einzigen denkwürdigen Satz plötzlich alles anders.
Ich habe aber auch Eure Interpretationen sehr gerne gelesen und bin gespannt, ob uns die Autorin in der endgültigen Bewertung noch weiterhilft.
Interessant finde ich, wie Amalie Skram immer wieder die Erzählperspektive wechselt und fand auch das Bild mit der Kiepe, die Sjur Gabriel kurz vor seinem Tod endlich loswerden kann, sehr eindrücklich.
Besonders gut an der Szene im Internat fand ich erst einmal, dass endlich wieder von Lydia erzählt wird. Mir ist es mit Sivert zwischenzeitlich etwas lang geworden.
Ich hoffe auch sehr, dass wir noch erfahren, was sich tatsächlich zwischen Lydia und Sivert abgespielt hat. Mir ist es mit Sivert nicht zu lang geworden, da wir durch sein Herumstreifen ja unterschiedliche Menschen besuchen und so wieder mehr von deren Schicksal erfahren.
Ich fand die Erzählung rund um Sjur Gabriels Tod und Beerdigung sehr beeindruckend. Froh war ich, dass er im Sterben zufrieden war und dass jemand bei ihm war. Amüsiert und berührt hat mich, dass die sonst so verstreute Familie zusammenkommt und sich - feierlicher Anlass hin oder her - genauso zankt und (daneben-)benimmt wie sonst auch. Und ich fand ehrlich gesagt ziemlich lustig, dass ihnen die Leiche runterfällt..
Und ich habe etwas gestutzt, als die Familie nach Sjur Gabriels Tod darüber nachdenkt, wer sich nun um Oline kümmert - ich hatte angenommen, dass das einfach niemand kann oder will. Und wunderte mich dann entsprechend, dass ihnen der Gedanke erst jetzt kommt. Ich befürchte, dass der Streit um Olines Pflege und das Erbe/Anwesen noch weiter eskaliert. Wir werden sehen.
Himmel! War ich froh, als der dritte Band mit Siverts Stellung im Haus Munthe startete. Ein Stein fiel mir vom Herzen, dass dieser junge Mann nicht mehr dieser Brutalität der Seefahrt ausgesetzt war.
Wieder einmal hofften Sivert und auch seine Eltern darauf, er könne es schaffen zu einem gewissen Ansehen zu kommen und die soooo peinliche Vergangenheit hinter sich zu lassen. Und wieder kommt alles anders. Es tat mir so leid um ihn, gleichzeitig hätte ich ihn schütteln mögen und rufen „Du Idiot!“
Mir ging es beim Lesen der Szene im Gartenhaus genau wie Martha. Ich fragte mich, was ist nun eigentlich passiert. Mehr als ein Kuss kann es doch nicht gewesen sein…. Nur der Einschub über den Segelmacher ließ mich Übles ahnen. Nachdenken musste ich über Siverts Reaktion auf Lydias plötzliche Verzweiflung: „Warum packt Ihr denn auch immer in mein Haar?….. Nur davon kommt das doch.“ Sie reagiert zum Glück (finde ich) wütend: „Oje, wie gemein! Mir die Schuld zu geben - ….“ Sofort schoss mir die MeToo Debatte in den Kopf. Wie oft wird Frauen die Schuld gegeben, „hättest du dich anders angezogen, anders geschaut….“ Natürlich kann ich Sivert verstehen und aus seiner ebenfalls verzweifelten Sicht ist es richtig; doch Lydias Naivität ist ihrer Jugend, Unerfahrenheit und der Zeit geschuldet. Ich erinnere mich an eine Äußerung einer meiner Töchter im Zusammenhang mit stoffarmer Kleidung in ihrer Jugend: „ Und wenn ich nackt auf der Straße herumlaufe, hat mich niemand anzufassen, Mama!“ Recht hat sie. Ich stecke in dem Dilemma, Verständnis für Lydia und auch Sivert zu haben. Nun hoffe ich, dass Amalie Skram beide ihr Glück finden lässt. Interessant fand ich, wie Sivert es versteht, den Tod des Großvaters für sich als Erklärung seiner Misere den Eltern gegenüber zu nutzen. Immerhin ist er so davon abgekommen, sich das Leben nehmen zu wollen. Vielleicht sollte er Schriftsteller werden, Phantasie hat er jedenfalls.
Über die Andachtsszene und diese schwachsinnige Predigt war ich stinksauer, weil ich daran denken musste, wie viel Unglück solche Prediger ( früher waren es nur Männer!) über Menschen gebracht haben.
Amüsiert habe ich mich tatsächlich auch über die Szene im Mädchenpensionat. Ich finde es so grandios, wie diese lebenslustigen jungen Frauen die Doppelmoral erkennen und sich damit auseinander setzen. Nun hoffe ich, dass es Lydia gelingen wird, sich von ihren Gewissensbissen zu lösen. Für mich, die ich in einer völlig anderen Zeit aufgewachsen bin und jetzt als 67jährige lebe, ist es allerdings leichter so zu denken als für die behütete in ihren gesellschaftlichen Konventionen gefangene Lydia.
Beeindruckt bin ich, wie es Amalie Skram gelingt, ihre Protagonist*innen mit ihren Leben so zu gestalten, dass ein phantastisches Gesellschaftspanorama entsteht.
Danke für die ausfürliche Zusammenfassung, durch die ich noch ein paar Dinge für mich ordnen konnte.
Ach je, Sivert, hab ich mir öfter gedacht beim Lesen. Da währ er so ein geschickter und tüchtiger junger Mann, der es „weit bringen“ könnte, aber er zerstört immer alles durch seine Dummheiten. Erstaunlich fand ich, dass seine Lügengeschichte nicht aufgeflogen ist, aber vielleicht kommt ja noch was. Und was die Sache mit Lydia angeht - ich hätte das schon für Sex gehalten, aber es ist schon richtig, genau weiß man es nicht. Mir fehlt da auch etwas der Vergleich: Wie wurde zu jener Zeit Sex beschrieben, wie harmloses Gefummel? War den damaligen LeserInnen klar, was genau passiert ist zwischen den beiden?
Was mich an dem Band mitgenommen hat, war dieser Kontrast zwischen körperlicher und psychischer Gewalt und der aus heutiger Sicht absurden Religiosität. Diese schreckliche Szene mit Hans! Und wie Berthe in einer Randbemerkung erklärt, dass der Tod ihrer Kinder (Babys? Kleinkinder?) vielleicht dadurch verursacht wurde, dass der Vater ihnen Alkohol gab. Uff. Und auf der anderen Seite die Frömmelei, diese allegegenwärtige Religion, die doch nicht dazu führt dass man mit Kindern und Mitmenschen besser umgeht. Bin dann immer sehr froh im hier und jetzt zu leben und nicht zu dieser Zeit.
Eine hübsche Abwechslung war dann die Szene im Internat in Altona, wo Lydia von ihren Altersgenossinen ein bisschen auf andere Gedanken gebracht wird.
Jetzt bin ich gespannt wie es weiter geht mit Sivert und seinen Torheiten.
P.S. Werde natürlich weiterhin mit Katzenfotos dienen, die zwei begleiten mich ja auch meistens beim Lesen.
ich musste mich gestern ein bisschen beeilen, da ich nachmittags noch zu einer Lesung des wunderbaren Romans "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" gegangen bin. Hat aber dann doch geklappt, bin nur so durch den Text geglitten.
Ich war direkt wieder drin im Roman, als wäre ich in der letzten Woche nicht auf See gewesen. Über die Szene zwischen Sivert und Lydia habe ich auch lange nachgedacht. Ich weiß nicht, wie es euch ging, aber ich hatte bereits auf Seite 9 ein ungutes Gefühl, als die Figur eingeführt wurde. Es kam mir fast so vor, als wolle die Schriftstellerin mich denken lassen, dass Lydia ihren Anteil an dem Geschehen hat. Zeigt Amalie Skram uns hier ein gängiges Vorurteil?? (Bei Missbrauch trägt die/der Missbrauchte eine Mitschuld???) Mir ist jedenfalls auch nicht klar, was dort passsiert ist. Da Sivert sich mit dem Segelmacher vergleicht, habe ich zuerst auch eine Vergewaltigung gedacht.
Wie auch die letzten Male spielt "Scham" wieder eine große Rolle. Nicht nur, wenn Sivert an seine Großeltern denkt, auch er schämt sich für sein Verhalten Lydia gegenüber, Ingeborg schämt sich für den gehandicapten Sohn.
Amalie Skrams Kniff, uns zu zeigen, wie es den verschiedenen Familienmitgliedern geht, hat mir gut gefallen. Sie lässt Sivert umherstreifen und wir erleben Ingeborg, Magne und die Großeltern. Herzzerreißend fand ich die Szene mit Hans, der von Kindern geschlagen und gedemütigt wird. Wie schön, dass Sivert sich für ihn einsetzt. Schrecklich, wie die Mutter ihr Kind behandelt. Ingeborgs Verhalten ist wahrscheinlich beispielhaft für den damaligen Umgang mit Behinderten. Eine Behinderung wurde als Strafe Gottes angesehen. So schwankt Ingeborg zwischen Abscheu und Mutterliebe.
Magne und seine Frau schaffen es wie Siverts Großeltern nicht, sich aus den Klauen des Alkohls zu befreien. Ich habe befürchtet, dass Sivert sich früher oder später auch in den Alkohl füchtet.
Die Predigt des Erweckungspredigers hat mich überhaupt nicht amüsiert. Hier wird das Bild eines strafenden Gottes gezeigt, der denMenschen eine Hölle auf Erden bereitet, indem sie permanent mit der Angst vor der Verdammnis leben müssen.
Traurig zu erleben, wenn auch erwartet, dass sich für Oline und Sjur Gabriel nichts geändert hat. Und wie tröstlich dagegen, dass Sjur Gabriel in Frieden sterben konnte.
Den Ortswechsel im 9. Kapitel nach Hamburg-Altona habe ich als großen Schnitt empfunden. Was für ein unterschiedliches Umfeld wir plötzlich erleben. Eine Schule für begüterte Mädchen, die sich mitten in der Pubertät befinden! Die Theaterszene hat dann auch mich zum Schmunzeln gebracht.
Die Überlegungen von Rosa, wie unterschiedlich voreheliche sexuelle Erfahrungen von Frauen und Männern bewertet werden, habe ich auch als deutliche Gesellschaftskritik von Amalie Skram gelesen.
Die Lektüre hat mich wieder sehr beeindruckt und ich freue mich auf nächste Woche.
Da das Rheinland am Donnerstag in die tollen Tage startet, werde ich zusehen, dass ich die nächste Etappe vorher lesen kann. Bis dahin!
Du hast natürlich recht, wirklich lustig ist die "Erbauungspredigt" nicht, sondern inhaltlich natürlich total erschreckend. Ich fand es nur einfach so "over the top", dass ich es nur mit Humor lesen konnte, um es auszuhalten.
Tatsächlich überwältigt mich im ersten Drittel des dritten Bandes die Vielzahl an gesellschaftlichen und familiären Themen.
Sieverts „Fehltritt“: mir geht es auch so wie Magda, im einen Moment denke ich, es ist nur zu einer Annäherung gekommen, im nächsten dass es zum Vollzug kam. Aber arbeitet hier Skram nicht bewusst mit dem Vagen, um heraus zu stellen, wie sehr das Denken der Menschen von den Zwängen der Religion geprägt war? Jungen Frauen waren diesen Zwängen mehr ausgesetzt, ich finde sehr interessant, wie Skram diese Kritik in einen einzigen Satz packt, den sie die Zimmergenossin von Lydia sagen lässt.
Alkoholismus: die Beziehung zwischen Merthe und Magnus stellt einen anderen Umgang damit dar. Im ersten Moment liebevoll, ich sehe aber Merthes Verzweiflung unter dem Deckmantel der vorgespielten Fröhlichkeit. Was bleibt ihr schon übrig, sie bilden eine Schicksalsgemeinschaft. Alle Kinder sind tot. Und hier kommt für mich die allerschlimmste Stelle: Merthe deutet an, dass sie unter anderem deshalb gestorben sind, weil Magnus ihnen Schnaps einträufelte, um sie ruhig zu stellen. Die Kinder seien sowieso sehr schwächlich gewesen, ich vermute Alkoholkonsum in der Schwangerschaft. Hier zeigt sich die direkte Folge des Alkoholmissbrauchs auf die nächste Generation (möglicherweise auch schon bei Oline und Sjurs jüngstem Kind?).
Ableismus: schön, grausam und traurig wird anhand von Hans der Umgang mit behinderten Menschen durch Gesellschaft und Familie dargestellt. Ist das Handeln seiner Mutter Konsequenz des gesellschaftlichen Drucks und auch ihrer Hilflosigkeit? Und wie lange ist das noch der normale Umgang mit behinderten Menschen? Wie lange wurden behinderte Familienmitglieder noch in Hinterzimmern weggesperrt oder man überließ sie tagsüber sich selbst, weil niemand Zeit hatte, sich um sie zu kümmern. Hans gerät auch immer wieder in Situationen, in denen er verprügelt wird, weil er ein gutes Opfer ist. Und wünscht sich seine Mutter nicht manchmal auch seinen Tod?
Wie anfangs erwähnt überwältigt mich die Vielzahl der Themen, ich hab mir nur die drei für mich prägnantesten heraus gesucht.
Du hast natürlich recht, dass unter Merthes oberflächlich liebevollem Umgang mit ihrem Mann auch Verzweiflung steckt und das mit den verstorbenen Kindern, denen Magne Alkohol gegeben hat, hat mich beim lesen so schockiert, dass ich es glatt verdrängt hatte, als ich meinen Post schrieb.
Habe den Abschnitt flugs noch gestern Abend gelesen und wow, so viele Eindrücke und Perspektiven. Die Szene zwischen Lydia und Sivert kann ich ebenfalls nicht eindeutig einordnen. Zwischen Vergewaltigung und ein bisschen angefasst zum Kuss scheint hier alles möglich zu sein. Es wird auch nicht berichtet, dass Sivert mittlerweile sexuell erfahren ist. Da es ihn (durch Religion und gesellschaftl. Umstände) ebenfalls belastet, was passiert, tendiere ich eher zu der seichten Variante, aber der Zweifel bleibt. Das, was der Segelmacher mit Gewalt gemeint hat, ist vielleicht nicht dasselbe, was Sivert damit assoziiert bzw. 'über sich gekommen gefühlt hat'. Impulsivität und Kontrollverlust durch den 'hormonellen Trieb' vs. der anerzogene 'Anstand' bereiten beiden Unbehagen. Ich finde es bezeichnend, dass sowohl Sivert wie Lydia im Anschluss an ihre Erfahrung extreme religiöse Einflussnahme erleben. Sivert in Form der Erbauungspredigt und Lydia in Form des Satzes aus einer Predigt, den sie nicht mehr aus ihrem Kopf bekommt.
Insgesamt wird bei vielen Figuren die psychische Belastung gezeigt. Siverts Rausschmiss führt ja dazu, dass uns Lesenden die anderen Verwandten gezeigt werden. Co-Abhängigkeiten beim Alkohol wie bei Berthe, Sjur Gabriels bekanntes Trauma, Ingeborgs Umgang mit ihrem Sohn, Merthes Gefühl der Unzulänglichkeit,... Und natürlich immer Sivert, der neuen psychischen Druck auf sich aufbaut, indem er den toten Großvater nutzt, um besser dazustehen und nicht für seine Fehler einzustehen. Ich befürchte, dass ihm dieses vermeidende Verhalten als people pleaser noch heftig auf die Füße fallen wird. Er ist nicht unschuldig, aber ich habe Mitleid mit ihm, weil es ja auch gesellschaftliche Umstände sind, die ihn zu seinen Handlungen verleiten.
Durch diese Schilderungen finde ich, dass Skram deutliche Kritik an den religiösen und gesellschaftlichen Zwängen betreibt und kann mir gut die Diskussionen damals dazu vorstellen.
Ein Indikator, dass sie auch den Umgang mit behinderten Menschen nicht gut findet, ist in Siverts Einwand zu finden, dass Ingeborg Hansemann nicht schlagen soll und in der positiven Beschreibung von dessen Lebensfreude und Liebe zur Mutter. Gleichzeitig zeigt sie durch Ingeborg, dass das Leben damals mit einem behinderten Kind nicht einfach ist und dass der Ableismus und die Missachtung und damit die Misshandlung behinderten Lebens durch Betreuungs- und Vertrauenspersonen existiert. Siverts Einwand zeigt, dass dies nicht richtig ist. Ich frage mich, ob dies in der Rezeption diskutiert wurde.
Große Freude hat mir die kleine Theaterszene bereitet, die genutzt wird, um sich gegenseitig zu küssen.
Skrams Stil gesellschaftliche Themen und progressive Aspekte einzubinden, gefällt mir weiterhin sehr gut.
Ja, ich habe auch die Hoffnung, dass es eigentlich nur um ein bisschen harmlose Fummelei ging, die aber von Lydia und Sivert jeweils aufgrund ihrer Naivität überinterpretiert wird -- denn wenn Sivert als bisheriger Sympathieträger (trotz seiner "harmloseren" Schwächen) sich jetzt plötzlich als Vergewaltiger herausstellt, fände ich das ganz schön schlimm.
Und ich frag mich, ob das ein Beispiel für eine aktuelle Rezeptionsveränderung ist, dass wir dies mitdenken und auch, ob es uns als Lesende in die Position setzt, Sympathie mit einem Vergewaltiger zu haben. Wir mögen ihn, weswegen wir uns auch wünschen, dass es nicht übergriffig, Gewalt und Vergewaltigung ist. Der Interpretationsspielraum ist da und ich MÖCHTE ihm gerne die Naivität zugestehen. Ich find das sehr spannend. Weil es in eine gesellschaftliche Debatte hineinspielt, in der wir uns befinden, zu wem und zu welchen Aussagen aus (struktureller und patriarchaler) Sympathie gehalten wird. Nur dass hier nicht Aussage gegen Aussage steht, sondern bisher nur die eine Stimme der Erzählinstanz Informationen liefert. Ich find daher sehr gut, wie diese Sache hier diskutiert und weiterhin beobachtet wird.
Ich sehe das ähnlich, Sievert widerspricht (ich glaube mehr als einmal) der Behandlung des behinderten Sohnes, daher habe ich es auch so gelesen, dass die Autorin dies kritisiert. Gleichzeitig wird sie aber sicher auch nicht komplett frei von Ableismus gewesen sein, als Frau der damaligen Zeit (sind wir ja heute auch nicht).
Ich muss sagen, ich bin eher schwer in diesen Band hineingekommen, ich fand Sieverts Handlungen und ständige Lügen (und dass er eben nicht lernt) teilweise schwer zu ertragen, gleichzeitig haben mich dann Stellen wie die, wo er Ingeborg widerspricht oder wie er reagiert, als er hört, dass die Babys seiner Tante Alkohol bekommen haben, wieder mit ihm versöhnt. Außerdem habe ich das Gefühl, dass er sich noch mehr um seine Großeltern sorgt als die anderen Familienmitglieder, die diese vor allem als Last wahrnehmen. Er scheint momentan der einzige zu sein, der die gesellschaftlichen Konventionen und Handlungen hinterfragt. Bis zu dem Moment, wo es nach Hamburg geht, und wir die schon oben zitierten Stellen zu lesen bekommen haben - das Kapitel hat mir sehr gut gefallen und ich bin gespannt, wo Lydia und ihre Freundinnen uns noch hinführen werden.
Ich hatte, durch den Vergleich mit dem Segelmacher, die Szene schon als Sex interpretiert (ich glaube, Sievert hat durch seine Reise zur See einiges gelernt und ist da nicht mehr ganz so unschuldig), gleichzeitig habe ich die ganze Zeit darauf gewartet, dass Lydia sich Sorgen macht, schwanger zu sein...oder liegt das wieder am Unwissen der Mädchen ihrer Klasse in der damaligen Zeit? Ich fand es jedenfalls sehr bezeichnend, dass sie sich nur um Gott sorgt, aber nicht um eine mögliche Schwangerschaft. Genauso, wie oben schon stand, die Rolle von Religion, die ja in den vorangegangenen Bänden oft eher angedeutet wurde, kommt hier mit aller Macht zum Tragen...
Ja, ich bin momentan auch sehr ambivalent Sivert gegenüber, bin immer wieder abwechselns angewidert und beeindruckt von seinem Verhalten. Was natürlich wiederum ein Zeichen von Skrams großem Talent ist, eben keine der Figuren einfach nur gut oder nur schlecht darzustellen, sondern in allen ihren Facetten zu zeigen. Insofern schon irgendwie beeindruckend.
Ich habe auch in dere letzten Szene damit gerechnet, dass Lydia sich als schwanger entpuppt -- ich bin sehr gespannt, wie sich ihre Geshcichte noch entwickelt und ob sie bald zurück nach Bergen kommt.
Und ja, die Religion steht in diesem Band wirklich nochmal viel deutlicher im Vorddergrund, und ich finde es spannend, dass Skram auch hier das Thema von ganz vielen unterschiedlichen Seiten beleuchtet.
Ich hatte, auch durch den Vergleich mit dem Segelmacher und Lydias Weinen, die Szene zwischen Sievert und Lydia zunächst als Vergewaltigung interpretiert. Mich hat aber die Formulierung irritiert - „und bevor er sich dessen noch wirklich bewusst war, hatte er mit Lydia dasselbe erlebt”. Später denkt Lydia etwas im Sinne von: „Es war alles so schnell gegangen.“ Das fand ich merkwürdig, es klingt so, als sei dieser Sex beiden so passiert ohne dass sie darauf wirklich Einfluss nehmen konnten. Wobei, ganz unbekannt ist diese Vorstellung von Sex im Sinne von „es ist halt passiert, es kam eins zum anderen“ oder vielleicht auch „Männer sind so, Boys will be Boys“ nicht. Ich vermute nun, dass die Szene (nach früheren Maßstäben?) zumindest nicht als Vergewaltigung angelegt ist. Und heute hat man andere Vorstellungen davon, was sexuelle Gewalt ist und dass „es ging so schnell“ und Weinen wirklich keine Hinweise auf Einvernehmlichkeit sind.
Und beim Lesen der Altona-Episode habe ich ständig erwartet, dass Lydia eine Schwangerschaft bemerkt. Du hast total recht, diese Möglichkeit hätte auch zur Sprache kommen können…
Ich habe die Szene mit Sivert und Lydia schon als Vergewaltigung interpretiert und war ziemlich erschrocken. Schließlich habe ich ja während der gesamten Seefahrt mit Sivert mitgelitten und war schon für ihn eingenommen (trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Angebereien und Fehler)
Zu Beginn des Buches ist Sivert ja fast schon zu gut (fleißig, höflich, zuverlässig usw.) Fast kitschig. Und dann ist mit diesem einen einzigen denkwürdigen Satz plötzlich alles anders.
Ich habe aber auch Eure Interpretationen sehr gerne gelesen und bin gespannt, ob uns die Autorin in der endgültigen Bewertung noch weiterhilft.
Interessant finde ich, wie Amalie Skram immer wieder die Erzählperspektive wechselt und fand auch das Bild mit der Kiepe, die Sjur Gabriel kurz vor seinem Tod endlich loswerden kann, sehr eindrücklich.
Besonders gut an der Szene im Internat fand ich erst einmal, dass endlich wieder von Lydia erzählt wird. Mir ist es mit Sivert zwischenzeitlich etwas lang geworden.
Ich hoffe auch sehr, dass wir noch erfahren, was sich tatsächlich zwischen Lydia und Sivert abgespielt hat. Mir ist es mit Sivert nicht zu lang geworden, da wir durch sein Herumstreifen ja unterschiedliche Menschen besuchen und so wieder mehr von deren Schicksal erfahren.
Ich fand die Erzählung rund um Sjur Gabriels Tod und Beerdigung sehr beeindruckend. Froh war ich, dass er im Sterben zufrieden war und dass jemand bei ihm war. Amüsiert und berührt hat mich, dass die sonst so verstreute Familie zusammenkommt und sich - feierlicher Anlass hin oder her - genauso zankt und (daneben-)benimmt wie sonst auch. Und ich fand ehrlich gesagt ziemlich lustig, dass ihnen die Leiche runterfällt..
Und ich habe etwas gestutzt, als die Familie nach Sjur Gabriels Tod darüber nachdenkt, wer sich nun um Oline kümmert - ich hatte angenommen, dass das einfach niemand kann oder will. Und wunderte mich dann entsprechend, dass ihnen der Gedanke erst jetzt kommt. Ich befürchte, dass der Streit um Olines Pflege und das Erbe/Anwesen noch weiter eskaliert. Wir werden sehen.
Himmel! War ich froh, als der dritte Band mit Siverts Stellung im Haus Munthe startete. Ein Stein fiel mir vom Herzen, dass dieser junge Mann nicht mehr dieser Brutalität der Seefahrt ausgesetzt war.
Wieder einmal hofften Sivert und auch seine Eltern darauf, er könne es schaffen zu einem gewissen Ansehen zu kommen und die soooo peinliche Vergangenheit hinter sich zu lassen. Und wieder kommt alles anders. Es tat mir so leid um ihn, gleichzeitig hätte ich ihn schütteln mögen und rufen „Du Idiot!“
Mir ging es beim Lesen der Szene im Gartenhaus genau wie Martha. Ich fragte mich, was ist nun eigentlich passiert. Mehr als ein Kuss kann es doch nicht gewesen sein…. Nur der Einschub über den Segelmacher ließ mich Übles ahnen. Nachdenken musste ich über Siverts Reaktion auf Lydias plötzliche Verzweiflung: „Warum packt Ihr denn auch immer in mein Haar?….. Nur davon kommt das doch.“ Sie reagiert zum Glück (finde ich) wütend: „Oje, wie gemein! Mir die Schuld zu geben - ….“ Sofort schoss mir die MeToo Debatte in den Kopf. Wie oft wird Frauen die Schuld gegeben, „hättest du dich anders angezogen, anders geschaut….“ Natürlich kann ich Sivert verstehen und aus seiner ebenfalls verzweifelten Sicht ist es richtig; doch Lydias Naivität ist ihrer Jugend, Unerfahrenheit und der Zeit geschuldet. Ich erinnere mich an eine Äußerung einer meiner Töchter im Zusammenhang mit stoffarmer Kleidung in ihrer Jugend: „ Und wenn ich nackt auf der Straße herumlaufe, hat mich niemand anzufassen, Mama!“ Recht hat sie. Ich stecke in dem Dilemma, Verständnis für Lydia und auch Sivert zu haben. Nun hoffe ich, dass Amalie Skram beide ihr Glück finden lässt. Interessant fand ich, wie Sivert es versteht, den Tod des Großvaters für sich als Erklärung seiner Misere den Eltern gegenüber zu nutzen. Immerhin ist er so davon abgekommen, sich das Leben nehmen zu wollen. Vielleicht sollte er Schriftsteller werden, Phantasie hat er jedenfalls.
Über die Andachtsszene und diese schwachsinnige Predigt war ich stinksauer, weil ich daran denken musste, wie viel Unglück solche Prediger ( früher waren es nur Männer!) über Menschen gebracht haben.
Amüsiert habe ich mich tatsächlich auch über die Szene im Mädchenpensionat. Ich finde es so grandios, wie diese lebenslustigen jungen Frauen die Doppelmoral erkennen und sich damit auseinander setzen. Nun hoffe ich, dass es Lydia gelingen wird, sich von ihren Gewissensbissen zu lösen. Für mich, die ich in einer völlig anderen Zeit aufgewachsen bin und jetzt als 67jährige lebe, ist es allerdings leichter so zu denken als für die behütete in ihren gesellschaftlichen Konventionen gefangene Lydia.
Beeindruckt bin ich, wie es Amalie Skram gelingt, ihre Protagonist*innen mit ihren Leben so zu gestalten, dass ein phantastisches Gesellschaftspanorama entsteht.
Danke für die ausfürliche Zusammenfassung, durch die ich noch ein paar Dinge für mich ordnen konnte.
Ach je, Sivert, hab ich mir öfter gedacht beim Lesen. Da währ er so ein geschickter und tüchtiger junger Mann, der es „weit bringen“ könnte, aber er zerstört immer alles durch seine Dummheiten. Erstaunlich fand ich, dass seine Lügengeschichte nicht aufgeflogen ist, aber vielleicht kommt ja noch was. Und was die Sache mit Lydia angeht - ich hätte das schon für Sex gehalten, aber es ist schon richtig, genau weiß man es nicht. Mir fehlt da auch etwas der Vergleich: Wie wurde zu jener Zeit Sex beschrieben, wie harmloses Gefummel? War den damaligen LeserInnen klar, was genau passiert ist zwischen den beiden?
Was mich an dem Band mitgenommen hat, war dieser Kontrast zwischen körperlicher und psychischer Gewalt und der aus heutiger Sicht absurden Religiosität. Diese schreckliche Szene mit Hans! Und wie Berthe in einer Randbemerkung erklärt, dass der Tod ihrer Kinder (Babys? Kleinkinder?) vielleicht dadurch verursacht wurde, dass der Vater ihnen Alkohol gab. Uff. Und auf der anderen Seite die Frömmelei, diese allegegenwärtige Religion, die doch nicht dazu führt dass man mit Kindern und Mitmenschen besser umgeht. Bin dann immer sehr froh im hier und jetzt zu leben und nicht zu dieser Zeit.
Eine hübsche Abwechslung war dann die Szene im Internat in Altona, wo Lydia von ihren Altersgenossinen ein bisschen auf andere Gedanken gebracht wird.
Jetzt bin ich gespannt wie es weiter geht mit Sivert und seinen Torheiten.
P.S. Werde natürlich weiterhin mit Katzenfotos dienen, die zwei begleiten mich ja auch meistens beim Lesen.
Guten Morgen,
ich musste mich gestern ein bisschen beeilen, da ich nachmittags noch zu einer Lesung des wunderbaren Romans "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" gegangen bin. Hat aber dann doch geklappt, bin nur so durch den Text geglitten.
Ich war direkt wieder drin im Roman, als wäre ich in der letzten Woche nicht auf See gewesen. Über die Szene zwischen Sivert und Lydia habe ich auch lange nachgedacht. Ich weiß nicht, wie es euch ging, aber ich hatte bereits auf Seite 9 ein ungutes Gefühl, als die Figur eingeführt wurde. Es kam mir fast so vor, als wolle die Schriftstellerin mich denken lassen, dass Lydia ihren Anteil an dem Geschehen hat. Zeigt Amalie Skram uns hier ein gängiges Vorurteil?? (Bei Missbrauch trägt die/der Missbrauchte eine Mitschuld???) Mir ist jedenfalls auch nicht klar, was dort passsiert ist. Da Sivert sich mit dem Segelmacher vergleicht, habe ich zuerst auch eine Vergewaltigung gedacht.
Wie auch die letzten Male spielt "Scham" wieder eine große Rolle. Nicht nur, wenn Sivert an seine Großeltern denkt, auch er schämt sich für sein Verhalten Lydia gegenüber, Ingeborg schämt sich für den gehandicapten Sohn.
Amalie Skrams Kniff, uns zu zeigen, wie es den verschiedenen Familienmitgliedern geht, hat mir gut gefallen. Sie lässt Sivert umherstreifen und wir erleben Ingeborg, Magne und die Großeltern. Herzzerreißend fand ich die Szene mit Hans, der von Kindern geschlagen und gedemütigt wird. Wie schön, dass Sivert sich für ihn einsetzt. Schrecklich, wie die Mutter ihr Kind behandelt. Ingeborgs Verhalten ist wahrscheinlich beispielhaft für den damaligen Umgang mit Behinderten. Eine Behinderung wurde als Strafe Gottes angesehen. So schwankt Ingeborg zwischen Abscheu und Mutterliebe.
Magne und seine Frau schaffen es wie Siverts Großeltern nicht, sich aus den Klauen des Alkohls zu befreien. Ich habe befürchtet, dass Sivert sich früher oder später auch in den Alkohl füchtet.
Die Predigt des Erweckungspredigers hat mich überhaupt nicht amüsiert. Hier wird das Bild eines strafenden Gottes gezeigt, der denMenschen eine Hölle auf Erden bereitet, indem sie permanent mit der Angst vor der Verdammnis leben müssen.
Traurig zu erleben, wenn auch erwartet, dass sich für Oline und Sjur Gabriel nichts geändert hat. Und wie tröstlich dagegen, dass Sjur Gabriel in Frieden sterben konnte.
Den Ortswechsel im 9. Kapitel nach Hamburg-Altona habe ich als großen Schnitt empfunden. Was für ein unterschiedliches Umfeld wir plötzlich erleben. Eine Schule für begüterte Mädchen, die sich mitten in der Pubertät befinden! Die Theaterszene hat dann auch mich zum Schmunzeln gebracht.
Die Überlegungen von Rosa, wie unterschiedlich voreheliche sexuelle Erfahrungen von Frauen und Männern bewertet werden, habe ich auch als deutliche Gesellschaftskritik von Amalie Skram gelesen.
Die Lektüre hat mich wieder sehr beeindruckt und ich freue mich auf nächste Woche.
Da das Rheinland am Donnerstag in die tollen Tage startet, werde ich zusehen, dass ich die nächste Etappe vorher lesen kann. Bis dahin!
Susanne (@lesetier57)
Du hast natürlich recht, wirklich lustig ist die "Erbauungspredigt" nicht, sondern inhaltlich natürlich total erschreckend. Ich fand es nur einfach so "over the top", dass ich es nur mit Humor lesen konnte, um es auszuhalten.
Wahrscheinlich lässt mich meine katholische Sozialisation den Humor an dieser Stelle nicht zu.
Tatsächlich überwältigt mich im ersten Drittel des dritten Bandes die Vielzahl an gesellschaftlichen und familiären Themen.
Sieverts „Fehltritt“: mir geht es auch so wie Magda, im einen Moment denke ich, es ist nur zu einer Annäherung gekommen, im nächsten dass es zum Vollzug kam. Aber arbeitet hier Skram nicht bewusst mit dem Vagen, um heraus zu stellen, wie sehr das Denken der Menschen von den Zwängen der Religion geprägt war? Jungen Frauen waren diesen Zwängen mehr ausgesetzt, ich finde sehr interessant, wie Skram diese Kritik in einen einzigen Satz packt, den sie die Zimmergenossin von Lydia sagen lässt.
Alkoholismus: die Beziehung zwischen Merthe und Magnus stellt einen anderen Umgang damit dar. Im ersten Moment liebevoll, ich sehe aber Merthes Verzweiflung unter dem Deckmantel der vorgespielten Fröhlichkeit. Was bleibt ihr schon übrig, sie bilden eine Schicksalsgemeinschaft. Alle Kinder sind tot. Und hier kommt für mich die allerschlimmste Stelle: Merthe deutet an, dass sie unter anderem deshalb gestorben sind, weil Magnus ihnen Schnaps einträufelte, um sie ruhig zu stellen. Die Kinder seien sowieso sehr schwächlich gewesen, ich vermute Alkoholkonsum in der Schwangerschaft. Hier zeigt sich die direkte Folge des Alkoholmissbrauchs auf die nächste Generation (möglicherweise auch schon bei Oline und Sjurs jüngstem Kind?).
Ableismus: schön, grausam und traurig wird anhand von Hans der Umgang mit behinderten Menschen durch Gesellschaft und Familie dargestellt. Ist das Handeln seiner Mutter Konsequenz des gesellschaftlichen Drucks und auch ihrer Hilflosigkeit? Und wie lange ist das noch der normale Umgang mit behinderten Menschen? Wie lange wurden behinderte Familienmitglieder noch in Hinterzimmern weggesperrt oder man überließ sie tagsüber sich selbst, weil niemand Zeit hatte, sich um sie zu kümmern. Hans gerät auch immer wieder in Situationen, in denen er verprügelt wird, weil er ein gutes Opfer ist. Und wünscht sich seine Mutter nicht manchmal auch seinen Tod?
Wie anfangs erwähnt überwältigt mich die Vielzahl der Themen, ich hab mir nur die drei für mich prägnantesten heraus gesucht.
Du hast natürlich recht, dass unter Merthes oberflächlich liebevollem Umgang mit ihrem Mann auch Verzweiflung steckt und das mit den verstorbenen Kindern, denen Magne Alkohol gegeben hat, hat mich beim lesen so schockiert, dass ich es glatt verdrängt hatte, als ich meinen Post schrieb.
Habe den Abschnitt flugs noch gestern Abend gelesen und wow, so viele Eindrücke und Perspektiven. Die Szene zwischen Lydia und Sivert kann ich ebenfalls nicht eindeutig einordnen. Zwischen Vergewaltigung und ein bisschen angefasst zum Kuss scheint hier alles möglich zu sein. Es wird auch nicht berichtet, dass Sivert mittlerweile sexuell erfahren ist. Da es ihn (durch Religion und gesellschaftl. Umstände) ebenfalls belastet, was passiert, tendiere ich eher zu der seichten Variante, aber der Zweifel bleibt. Das, was der Segelmacher mit Gewalt gemeint hat, ist vielleicht nicht dasselbe, was Sivert damit assoziiert bzw. 'über sich gekommen gefühlt hat'. Impulsivität und Kontrollverlust durch den 'hormonellen Trieb' vs. der anerzogene 'Anstand' bereiten beiden Unbehagen. Ich finde es bezeichnend, dass sowohl Sivert wie Lydia im Anschluss an ihre Erfahrung extreme religiöse Einflussnahme erleben. Sivert in Form der Erbauungspredigt und Lydia in Form des Satzes aus einer Predigt, den sie nicht mehr aus ihrem Kopf bekommt.
Insgesamt wird bei vielen Figuren die psychische Belastung gezeigt. Siverts Rausschmiss führt ja dazu, dass uns Lesenden die anderen Verwandten gezeigt werden. Co-Abhängigkeiten beim Alkohol wie bei Berthe, Sjur Gabriels bekanntes Trauma, Ingeborgs Umgang mit ihrem Sohn, Merthes Gefühl der Unzulänglichkeit,... Und natürlich immer Sivert, der neuen psychischen Druck auf sich aufbaut, indem er den toten Großvater nutzt, um besser dazustehen und nicht für seine Fehler einzustehen. Ich befürchte, dass ihm dieses vermeidende Verhalten als people pleaser noch heftig auf die Füße fallen wird. Er ist nicht unschuldig, aber ich habe Mitleid mit ihm, weil es ja auch gesellschaftliche Umstände sind, die ihn zu seinen Handlungen verleiten.
Durch diese Schilderungen finde ich, dass Skram deutliche Kritik an den religiösen und gesellschaftlichen Zwängen betreibt und kann mir gut die Diskussionen damals dazu vorstellen.
Ein Indikator, dass sie auch den Umgang mit behinderten Menschen nicht gut findet, ist in Siverts Einwand zu finden, dass Ingeborg Hansemann nicht schlagen soll und in der positiven Beschreibung von dessen Lebensfreude und Liebe zur Mutter. Gleichzeitig zeigt sie durch Ingeborg, dass das Leben damals mit einem behinderten Kind nicht einfach ist und dass der Ableismus und die Missachtung und damit die Misshandlung behinderten Lebens durch Betreuungs- und Vertrauenspersonen existiert. Siverts Einwand zeigt, dass dies nicht richtig ist. Ich frage mich, ob dies in der Rezeption diskutiert wurde.
Große Freude hat mir die kleine Theaterszene bereitet, die genutzt wird, um sich gegenseitig zu küssen.
Skrams Stil gesellschaftliche Themen und progressive Aspekte einzubinden, gefällt mir weiterhin sehr gut.
Ja, ich habe auch die Hoffnung, dass es eigentlich nur um ein bisschen harmlose Fummelei ging, die aber von Lydia und Sivert jeweils aufgrund ihrer Naivität überinterpretiert wird -- denn wenn Sivert als bisheriger Sympathieträger (trotz seiner "harmloseren" Schwächen) sich jetzt plötzlich als Vergewaltiger herausstellt, fände ich das ganz schön schlimm.
Ja, geht mir auch so.
Und ich frag mich, ob das ein Beispiel für eine aktuelle Rezeptionsveränderung ist, dass wir dies mitdenken und auch, ob es uns als Lesende in die Position setzt, Sympathie mit einem Vergewaltiger zu haben. Wir mögen ihn, weswegen wir uns auch wünschen, dass es nicht übergriffig, Gewalt und Vergewaltigung ist. Der Interpretationsspielraum ist da und ich MÖCHTE ihm gerne die Naivität zugestehen. Ich find das sehr spannend. Weil es in eine gesellschaftliche Debatte hineinspielt, in der wir uns befinden, zu wem und zu welchen Aussagen aus (struktureller und patriarchaler) Sympathie gehalten wird. Nur dass hier nicht Aussage gegen Aussage steht, sondern bisher nur die eine Stimme der Erzählinstanz Informationen liefert. Ich find daher sehr gut, wie diese Sache hier diskutiert und weiterhin beobachtet wird.
Ich sehe das ähnlich, Sievert widerspricht (ich glaube mehr als einmal) der Behandlung des behinderten Sohnes, daher habe ich es auch so gelesen, dass die Autorin dies kritisiert. Gleichzeitig wird sie aber sicher auch nicht komplett frei von Ableismus gewesen sein, als Frau der damaligen Zeit (sind wir ja heute auch nicht).
Ich muss sagen, ich bin eher schwer in diesen Band hineingekommen, ich fand Sieverts Handlungen und ständige Lügen (und dass er eben nicht lernt) teilweise schwer zu ertragen, gleichzeitig haben mich dann Stellen wie die, wo er Ingeborg widerspricht oder wie er reagiert, als er hört, dass die Babys seiner Tante Alkohol bekommen haben, wieder mit ihm versöhnt. Außerdem habe ich das Gefühl, dass er sich noch mehr um seine Großeltern sorgt als die anderen Familienmitglieder, die diese vor allem als Last wahrnehmen. Er scheint momentan der einzige zu sein, der die gesellschaftlichen Konventionen und Handlungen hinterfragt. Bis zu dem Moment, wo es nach Hamburg geht, und wir die schon oben zitierten Stellen zu lesen bekommen haben - das Kapitel hat mir sehr gut gefallen und ich bin gespannt, wo Lydia und ihre Freundinnen uns noch hinführen werden.
Ich hatte, durch den Vergleich mit dem Segelmacher, die Szene schon als Sex interpretiert (ich glaube, Sievert hat durch seine Reise zur See einiges gelernt und ist da nicht mehr ganz so unschuldig), gleichzeitig habe ich die ganze Zeit darauf gewartet, dass Lydia sich Sorgen macht, schwanger zu sein...oder liegt das wieder am Unwissen der Mädchen ihrer Klasse in der damaligen Zeit? Ich fand es jedenfalls sehr bezeichnend, dass sie sich nur um Gott sorgt, aber nicht um eine mögliche Schwangerschaft. Genauso, wie oben schon stand, die Rolle von Religion, die ja in den vorangegangenen Bänden oft eher angedeutet wurde, kommt hier mit aller Macht zum Tragen...
Ja, ich bin momentan auch sehr ambivalent Sivert gegenüber, bin immer wieder abwechselns angewidert und beeindruckt von seinem Verhalten. Was natürlich wiederum ein Zeichen von Skrams großem Talent ist, eben keine der Figuren einfach nur gut oder nur schlecht darzustellen, sondern in allen ihren Facetten zu zeigen. Insofern schon irgendwie beeindruckend.
Ich habe auch in dere letzten Szene damit gerechnet, dass Lydia sich als schwanger entpuppt -- ich bin sehr gespannt, wie sich ihre Geshcichte noch entwickelt und ob sie bald zurück nach Bergen kommt.
Und ja, die Religion steht in diesem Band wirklich nochmal viel deutlicher im Vorddergrund, und ich finde es spannend, dass Skram auch hier das Thema von ganz vielen unterschiedlichen Seiten beleuchtet.
Ich hatte, auch durch den Vergleich mit dem Segelmacher und Lydias Weinen, die Szene zwischen Sievert und Lydia zunächst als Vergewaltigung interpretiert. Mich hat aber die Formulierung irritiert - „und bevor er sich dessen noch wirklich bewusst war, hatte er mit Lydia dasselbe erlebt”. Später denkt Lydia etwas im Sinne von: „Es war alles so schnell gegangen.“ Das fand ich merkwürdig, es klingt so, als sei dieser Sex beiden so passiert ohne dass sie darauf wirklich Einfluss nehmen konnten. Wobei, ganz unbekannt ist diese Vorstellung von Sex im Sinne von „es ist halt passiert, es kam eins zum anderen“ oder vielleicht auch „Männer sind so, Boys will be Boys“ nicht. Ich vermute nun, dass die Szene (nach früheren Maßstäben?) zumindest nicht als Vergewaltigung angelegt ist. Und heute hat man andere Vorstellungen davon, was sexuelle Gewalt ist und dass „es ging so schnell“ und Weinen wirklich keine Hinweise auf Einvernehmlichkeit sind.
Und beim Lesen der Altona-Episode habe ich ständig erwartet, dass Lydia eine Schwangerschaft bemerkt. Du hast total recht, diese Möglichkeit hätte auch zur Sprache kommen können…
Ich wüsste wirklich zu gerne, wie zeitgenössische Leser*innen von Skram die Szene zwischen Lydia und Sivert interpretiert haben...