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Habe den Abschnitt flugs noch gestern Abend gelesen und wow, so viele Eindrücke und Perspektiven. Die Szene zwischen Lydia und Sivert kann ich ebenfalls nicht eindeutig einordnen. Zwischen Vergewaltigung und ein bisschen angefasst zum Kuss scheint hier alles möglich zu sein. Es wird auch nicht berichtet, dass Sivert mittlerweile sexuell erfahren ist. Da es ihn (durch Religion und gesellschaftl. Umstände) ebenfalls belastet, was passiert, tendiere ich eher zu der seichten Variante, aber der Zweifel bleibt. Das, was der Segelmacher mit Gewalt gemeint hat, ist vielleicht nicht dasselbe, was Sivert damit assoziiert bzw. 'über sich gekommen gefühlt hat'. Impulsivität und Kontrollverlust durch den 'hormonellen Trieb' vs. der anerzogene 'Anstand' bereiten beiden Unbehagen. Ich finde es bezeichnend, dass sowohl Sivert wie Lydia im Anschluss an ihre Erfahrung extreme religiöse Einflussnahme erleben. Sivert in Form der Erbauungspredigt und Lydia in Form des Satzes aus einer Predigt, den sie nicht mehr aus ihrem Kopf bekommt.

Insgesamt wird bei vielen Figuren die psychische Belastung gezeigt. Siverts Rausschmiss führt ja dazu, dass uns Lesenden die anderen Verwandten gezeigt werden. Co-Abhängigkeiten beim Alkohol wie bei Berthe, Sjur Gabriels bekanntes Trauma, Ingeborgs Umgang mit ihrem Sohn, Merthes Gefühl der Unzulänglichkeit,... Und natürlich immer Sivert, der neuen psychischen Druck auf sich aufbaut, indem er den toten Großvater nutzt, um besser dazustehen und nicht für seine Fehler einzustehen. Ich befürchte, dass ihm dieses vermeidende Verhalten als people pleaser noch heftig auf die Füße fallen wird. Er ist nicht unschuldig, aber ich habe Mitleid mit ihm, weil es ja auch gesellschaftliche Umstände sind, die ihn zu seinen Handlungen verleiten.

Durch diese Schilderungen finde ich, dass Skram deutliche Kritik an den religiösen und gesellschaftlichen Zwängen betreibt und kann mir gut die Diskussionen damals dazu vorstellen.

Ein Indikator, dass sie auch den Umgang mit behinderten Menschen nicht gut findet, ist in Siverts Einwand zu finden, dass Ingeborg Hansemann nicht schlagen soll und in der positiven Beschreibung von dessen Lebensfreude und Liebe zur Mutter. Gleichzeitig zeigt sie durch Ingeborg, dass das Leben damals mit einem behinderten Kind nicht einfach ist und dass der Ableismus und die Missachtung und damit die Misshandlung behinderten Lebens durch Betreuungs- und Vertrauenspersonen existiert. Siverts Einwand zeigt, dass dies nicht richtig ist. Ich frage mich, ob dies in der Rezeption diskutiert wurde.

Große Freude hat mir die kleine Theaterszene bereitet, die genutzt wird, um sich gegenseitig zu küssen.

Skrams Stil gesellschaftliche Themen und progressive Aspekte einzubinden, gefällt mir weiterhin sehr gut.

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Ja, ich habe auch die Hoffnung, dass es eigentlich nur um ein bisschen harmlose Fummelei ging, die aber von Lydia und Sivert jeweils aufgrund ihrer Naivität überinterpretiert wird -- denn wenn Sivert als bisheriger Sympathieträger (trotz seiner "harmloseren" Schwächen) sich jetzt plötzlich als Vergewaltiger herausstellt, fände ich das ganz schön schlimm.

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Ja, geht mir auch so.

Und ich frag mich, ob das ein Beispiel für eine aktuelle Rezeptionsveränderung ist, dass wir dies mitdenken und auch, ob es uns als Lesende in die Position setzt, Sympathie mit einem Vergewaltiger zu haben. Wir mögen ihn, weswegen wir uns auch wünschen, dass es nicht übergriffig, Gewalt und Vergewaltigung ist. Der Interpretationsspielraum ist da und ich MÖCHTE ihm gerne die Naivität zugestehen. Ich find das sehr spannend. Weil es in eine gesellschaftliche Debatte hineinspielt, in der wir uns befinden, zu wem und zu welchen Aussagen aus (struktureller und patriarchaler) Sympathie gehalten wird. Nur dass hier nicht Aussage gegen Aussage steht, sondern bisher nur die eine Stimme der Erzählinstanz Informationen liefert. Ich find daher sehr gut, wie diese Sache hier diskutiert und weiterhin beobachtet wird.

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Ich sehe das ähnlich, Sievert widerspricht (ich glaube mehr als einmal) der Behandlung des behinderten Sohnes, daher habe ich es auch so gelesen, dass die Autorin dies kritisiert. Gleichzeitig wird sie aber sicher auch nicht komplett frei von Ableismus gewesen sein, als Frau der damaligen Zeit (sind wir ja heute auch nicht).

Ich muss sagen, ich bin eher schwer in diesen Band hineingekommen, ich fand Sieverts Handlungen und ständige Lügen (und dass er eben nicht lernt) teilweise schwer zu ertragen, gleichzeitig haben mich dann Stellen wie die, wo er Ingeborg widerspricht oder wie er reagiert, als er hört, dass die Babys seiner Tante Alkohol bekommen haben, wieder mit ihm versöhnt. Außerdem habe ich das Gefühl, dass er sich noch mehr um seine Großeltern sorgt als die anderen Familienmitglieder, die diese vor allem als Last wahrnehmen. Er scheint momentan der einzige zu sein, der die gesellschaftlichen Konventionen und Handlungen hinterfragt. Bis zu dem Moment, wo es nach Hamburg geht, und wir die schon oben zitierten Stellen zu lesen bekommen haben - das Kapitel hat mir sehr gut gefallen und ich bin gespannt, wo Lydia und ihre Freundinnen uns noch hinführen werden.

Ich hatte, durch den Vergleich mit dem Segelmacher, die Szene schon als Sex interpretiert (ich glaube, Sievert hat durch seine Reise zur See einiges gelernt und ist da nicht mehr ganz so unschuldig), gleichzeitig habe ich die ganze Zeit darauf gewartet, dass Lydia sich Sorgen macht, schwanger zu sein...oder liegt das wieder am Unwissen der Mädchen ihrer Klasse in der damaligen Zeit? Ich fand es jedenfalls sehr bezeichnend, dass sie sich nur um Gott sorgt, aber nicht um eine mögliche Schwangerschaft. Genauso, wie oben schon stand, die Rolle von Religion, die ja in den vorangegangenen Bänden oft eher angedeutet wurde, kommt hier mit aller Macht zum Tragen...

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Ja, ich bin momentan auch sehr ambivalent Sivert gegenüber, bin immer wieder abwechselns angewidert und beeindruckt von seinem Verhalten. Was natürlich wiederum ein Zeichen von Skrams großem Talent ist, eben keine der Figuren einfach nur gut oder nur schlecht darzustellen, sondern in allen ihren Facetten zu zeigen. Insofern schon irgendwie beeindruckend.

Ich habe auch in dere letzten Szene damit gerechnet, dass Lydia sich als schwanger entpuppt -- ich bin sehr gespannt, wie sich ihre Geshcichte noch entwickelt und ob sie bald zurück nach Bergen kommt.

Und ja, die Religion steht in diesem Band wirklich nochmal viel deutlicher im Vorddergrund, und ich finde es spannend, dass Skram auch hier das Thema von ganz vielen unterschiedlichen Seiten beleuchtet.

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Ich hatte, auch durch den Vergleich mit dem Segelmacher und Lydias Weinen, die Szene zwischen Sievert und Lydia zunächst als Vergewaltigung interpretiert. Mich hat aber die Formulierung irritiert - „und bevor er sich dessen noch wirklich bewusst war, hatte er mit Lydia dasselbe erlebt”. Später denkt Lydia etwas im Sinne von: „Es war alles so schnell gegangen.“ Das fand ich merkwürdig, es klingt so, als sei dieser Sex beiden so passiert ohne dass sie darauf wirklich Einfluss nehmen konnten. Wobei, ganz unbekannt ist diese Vorstellung von Sex im Sinne von „es ist halt passiert, es kam eins zum anderen“ oder vielleicht auch „Männer sind so, Boys will be Boys“ nicht. Ich vermute nun, dass die Szene (nach früheren Maßstäben?) zumindest nicht als Vergewaltigung angelegt ist. Und heute hat man andere Vorstellungen davon, was sexuelle Gewalt ist und dass „es ging so schnell“ und Weinen wirklich keine Hinweise auf Einvernehmlichkeit sind.

Und beim Lesen der Altona-Episode habe ich ständig erwartet, dass Lydia eine Schwangerschaft bemerkt. Du hast total recht, diese Möglichkeit hätte auch zur Sprache kommen können…

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Ich wüsste wirklich zu gerne, wie zeitgenössische Leser*innen von Skram die Szene zwischen Lydia und Sivert interpretiert haben...

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