Sommer, Geister, Pilze und Steilklippen
Was ich in den letzten Monaten der Funkstille so gemacht (und gelesen) habe
Ihr Lieben,
Surprise! Ihr dachtet vielleicht, ich hätte diesen Newsletter vergessen, aber ich bin noch da! Über zwei Monate war es sehr still hier, was u.a. mit der großen Ankündigung aus meinem letzten Newsletter im April zusammenhängt. Ich war nämlich neben anderen Dingen vor allem mit der Recherche und dem Schreiben der Nachworte zu den ersten Titeln aus der von Nicole Seifert und mir herausgegebenen Buchreihe rororo Entdeckungen beschäftigt. Ich bin diesmal für Christa Anita Brücks Ein Mädchen mit Prokura und Louise Meriwethers Eine Tochter Harlems (Ü: Andrea O’Brien) zuständig, Nicole dagegen hat das Nachwort zu Mary Renaults Freundliche junge Damen (Ü: Gertrud Wittich) übernommen. Im nächsten Programm wechseln wir dann und Nicole schreibt zwei und ich eins der Nachworte.
Während meiner Recherche für diese Nachworte habe ich nicht nur weitere Romane von Brück und Meriwether, sondern auch verschiedene Bücher und Aufsätze über die Situation der (weiblichen) Angestellten in der Weimarer Republik bzw. der (Schwarzen) Bevölkerung Harlems zur Zeit der Weltwirtschaftskrise (quer)gelesen; außerdem habe ich mir mehrere vergleichbare Romane anderer Autor*innen angeschaut, die zu einer ähnlichen Zeit/über ähnliche Themen geschrieben haben. Bei Brück waren das u.a. Bücher von Irmgard Keun, Joe Lederer, Hans Fallada, Rudolf Braune und Paula Schlier; bei Meriwether dagegen u.a. Julian Mayfield, Rosa Guy, Paule Marshall, Michele Wallace, Betty Smith etc. Beide Listen ließen sich natürlich noch umfangreich verlängern und da ich grundsätzlich zu übergründlicher Recherche neige, deren Aufwand eigentlich weder zeitlich noch finanziell zu rechtfertigen ist, musste ich mir selbst aktiv verbieten, ständig neue Bücherstapel aus der Berliner StaBi heimzuschleppen oder doch nochmal last-minute eine Medimopsbestellung aufzugeben. Die geisteswissenschaftlichen Akademiker*innen unter euch kennen vermutlich das Problem…
Meine Nachworte zu Chista Anita Brück und Louise Meriwether waren aber nicht die einzigen Texte, an denen ich in den letzten Wochen gearbeitet habe. Ich freue mich ungemein darüber, dass im August noch ein weiterer Roman mit einem Nachwort von mir erscheinen wird:
Sarah Raich, die viele von euch hoffentlich wegen ihrer beiden dystopischen Jugendromane All that’s left und Equilon und/oder wegen ihrer fantastischen Kurzgeschichtensammlung Dieses makellose Blau kennen, veröffentlicht im August im Marix Verlag den historischen Roman Hell und Laut, der von Hrotsvit von Gandersheim, der ersten (namentlich bekannten) Dichterin Deutschlands, handelt. Sarah hatte mich vor einigen Monaten gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, dem Buch ein Nachwort beizusteuern, in dem ich auf die systematische Unsichtbarmachung von Frauen in der Literaturgeschichte eingehe, und da habe ich natürlich sofort ja gesagt. Sarahs Roman, der nicht nur Hrotsvits Lebensgeschichte und die Umstände ihres literarischen Schaffens imaginiert (in Wahrheit ist uns leider nur sehr wenig über ihre Lebensumstände überliefert), sondern auch zahlreiche andere historische Figuren aus der Zeit von Kaiser Otto dem Großen zu Wort kommen lässt, ist wirklich spannend und berührend, man merkt ihm an, wieviel Recherchearbeit Sarah da reingesteckt hat — und ihr wisst ja aus früheren Ausgaben dieses Newsletters, dass ich eh ein ziemliches Faible für Klostergeschichten habe. Ich fühle mich wirklich sehr geehrt, dass ich dieses tolle Buch um ein Nachwort ergänzen durfte und lege euch allen dringend ans Herz, es euch vorzubestellen, wenn ihr euch für historische Romane, Klostergeschichten und/oder weibliche Literaturgeschichte interessiert. (Wenn ihr z.B. Lauren Groffs Matrix mochtet, werdet ihr Hell und Laut sicher auch mögen!)
Nachdem ich alle meine Nachworte bei den zuständigen Lektorinnen abgegeben hatte, bin ich endlich in den langersehnten Urlaub gefahren und hatte dabei folgenden Stapel an Urlaubslektüren mit im Gepäck (plus einen Tolino):
Vollständig gelesen habe ich von diesem Stapel sieben Bücher (drei weitere habe ich angefangen), außerdem habe ich während des Urlaub einen Roman als eBook auf meinem Tolino gelesen. Und mal wieder war bei meiner Lektüreauswahl eine seltsame (unbewusste) Magie am Werk, denn alle acht Romane (die mir alle gut gefallen haben) haben einander mal wieder perfekt ergänzt und schienen alle in einem großen Dialog miteinander zu stehen, der mir bei der Auswahl des Stapels vorher gar nicht so wirklich bewusst war.
Das erste Buch, das ich im Urlaub gelesen habe, war Elfi Conrads Roman Schneeflocken wie Feuer, der gerade bei Mikrotext erschienen ist. Ich kannte Elfi vage von Twitter (wo sie als "Phil Mira" unterwegs ist), wusste aber nichts persönliches über sie und war dann erstmal sehr überrascht, als ich in der Verlagsankündigung las, dass sie schon fast 80 Jahre alt ist. Der Roman kam mit enthusiastischer Empfehlung von Sarah Raich und von meiner Twitterfreundin SchlimmeHelena, die ihn beide schon vorab gelesen und begeisterte Blurbs für die Buchrückseite geliefert hatten — da war mir schon klar, dass ich das Buch auch mögen würde. Und tatsächlich hat mir Elfis Roman, in dem die fast 80jährige Erzählerin Dora im Rahmen eines Klassentreffens auf ihre 60 Jahre zurückliegende Jugend im patriarchalen Nachkriegsdeutschland und eine Affäre mit ihrem damaligen Musiklehrer zurückblickt, ziemlich gut gefallen. Besonders positiv überrascht war ich davon, wieviele von Doras Überlegungen über den Sexismus ihrer Schulzeit sich in meinem eigenen Nachwort zu Sarah Raichs Roman widerspiegeln.
Hier könnt ihr die digitale Buchpremiere zum Roman nachgucken:
Ich konnte natürlich nicht zwei Sommerwochen an einem griechischen Strand verbringen, ohne einen griechischen Sommerroman zu lesen! Deshalb habe ich Margarita Liberakis Klassiker Three Summers (Ü: Karen van Dyck, dt. Drei Sommer, Ü: Michaela Prinzinger) mitgenommen, den ich schon ewig ungelesen zuhause rumliegen hatte.
Der Roman begleitet drei Schwestern, die in den 30er Jahren auf einem Landgut in der Nähe von Athen aufwachsen, über drei Sommer ihrer Jugend hinweg, und trifft dabei für mich diesen "perfect sweet spot between sultry and sinister", wie ich ihn in einer früheren Newsletterausgabe vor zwei Jahren schonmal für meine liebsten Sommer-Coming-of-Age-Romane definiert hatte. Es geht um die erste Liebe und den Verlust kindlicher Unschuld, es geht um die einengenden Rollenvorstellungen, denen Frauen sich unterordnen mussten (und viel zu oft immer noch müssen), es geht um Familiengeheimnisse und Identitätskonflikte und all das hat mich so gepackt, dass ich den Roman neben Sagans Bonjour Tristesse, Matutes The Island, Goddens Greengage Summer und Smiths I Capture the Castle in meinen persönlichen Pantheon meiner allerliebsten Sommerbücher aufgenommen habe! Außerdem habe ich mir in Athen dann gleich noch ein weiteres Buch von Liberaki in englischer Übersetzung gekauft.
Louise Kennedys Trespasses hatte ich mir gekauft, weil ich in letzter Zeit ein ziemliches Faible für irische Literatur entwickelt habe (dazu demnächst hoffentlich mal einen extra Newsletter!) und er für zahlreiche englischsprachige Literaturpreise nominiert war und außerdem von vielen aus meiner englischsprachigen Literatur-Twitter-Bubble sehr gelobt wurde. Trotzdem hatte ich vor der Lektüre ein wenig Bedenken, ob mir die Geschichte um eine Affäre zwischen der 24jährigen Protagonisin Cushla und einem wesentlich älteren verheirateten Mann, die laut Klappentext im Mittelpunkt des Romans steht, wirklich gefallen würde. Ich hätte aber keine Sorgen haben müssen, denn in diesem Buch, das im vom Bürgerkrieg bedrohten Belfast der 70er Jahre, also zu einer der Hochzeiten und in einer der Hochburgen der "Irish troubles" spielt, geht es um so viel mehr als nur eine unschöne Affäre mit fragwürdigem Altersunterschied. Cushla, eine junge Lehrerin an einer katholischen Grundschule in einem von Protestanten dominierten Vorort von Belfast, lebt nach dem Tod des Vaters allein mit ihrer alkoholsüchtigen Mutter und hilft nach dem Unterricht im Pub ihres älteren Bruders aus. Beide Jobs bedeuten eine tägliche Gratwanderung, denn als Angehörige der katholischen Minderheit schweben Cushla und ihre Familie, genauso wie die Familien ihrer Schüler*innen, in ständiger Gefahr, der überall um sie herum grassierenden Gewalt zum Opfer zu fallen. Sich ausgerechnet in einen verheirateten, protestantischen Prozessanwalt, der auf die Verteidigung von IRA-Mitgliedern spezialisiert ist, zu verlieben, ist in dieser angespannten politischen Situation keine besonders gute Idee…
Louise Kennedys Erzählstil, ihre sorgfältige Figurenzeichnung und wie eindrücklich sie aufzeigt, dass Gewalt und Alltagsleben in Konfliktgebieten untrennbar miteinander verflochten sind, haben mich wirklich tief beeindruckt und ich habe mir sofort nach meiner Rückkehr aus dem urlaub auch noch ihren vor einigen Jahren erschienenen Kurzgeschichtenband bestellt. Definitv eines meiner bisherigen Jahreshighlights! Im August erscheint der Roman bei Steidl auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel Übertretung (Ü: Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser).
Das nächste Urlaubslektüre-Highlight stammt auch von einer Autorin namens Kennedy, diesmal allerdings eine Margaret, deren spannender und unterhaltsamer Sommerroman The Feast ursprünglich 1949 erschien und erst vor ca. zwei Jahren im englischen Original und diesen Monat auf Deutsch (Das Fest, Ü: Mirjam Madlung) "wiederentdeckt" wurde. Er handelt von Pendizack Manor, einem am Fuße von Steilklippen an der Küste Cornwalls gelegenen ehemaligen Herrenhaus, das von der verarmten Familie Siddal nach dem zweiten Weltkrieg in ein Hotel umfunktioniert wurde und im Sommer 1947 eine ziemlich exzentrische Mischung an Gästen beherbergt. Gleich zu Beginn des Romans erfahren wir, dass ein Felssturz das Hotel verschüttet und einige der Insassen unter sich begraben hat; der Rest der Gäste hat sich zum Zeitpunkt des Unglücks für ein abendliches festliches Picknick am Strand versammelt und ist so dem Tod entgangen. Wer die Toten und die Überlebenden jeweils waren, wie es zu dem Strandfest kam und warum einige der Personen nicht an den Feierlichkeiten teilgenommen haben, erzählt dann der Rest des Romans, der uns rückblickend die letzte Woche vor dem Felssturz und das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen den einzelne Figuren schildert. Selten habe ich bei einem Buch so mitgefiebert, obwohl (oder weil?) ich von vornherein wusste, dass ein Drittel der Figuren am Ende nicht überleben werden; trotzdem war das Buch aber überhaupt nicht deprimierend für mich, sondern vielmehr ein Paradebeispiel einer bitterbösen britischen Gesellschaftskomödie, wie ich sie am liebsten mag. Ich denke, dass ich das (auch dank der sehr schön gestalteten deutschen Ausgabe von Schöffling) diesen Sommer sehr viel in der Buchhandlung empfehlen werde! Und von Margaret Kennedy habe ich noch mehrere weitere Romane auf dem Lesestapel liegen.
Um ein heruntergekommenes Herrenhaus ging es auch in meinem nächsten Urlaubsbuch, allerdings nicht am sonnigen Strand Cornwalls, sondern in den nebligen Wäldern Chiles. Die chilenische Autorin María Luisa Bombal (1910-1980) hat nur ein relativ kleines literarisches Werk hinterlassen, gilt mit ihren Novellen und Kurzgeschichten aber als eine Vorreiterin des magischen Realismus. Ihr Roman House of Mist (1947) ist eine von ihr selbst (mithilfe ihres Mannes) verfasste englische Erweiterung ihrer früheren, auf spanisch geschriebenen Novelle La última niebla. Letztere habe ich noch nicht gelesen und kann daher noch nichts zu den Unterschieden zwischen den beiden Versionen sagen, sie ist aber in der englischen Sammlung New Islands (Ü: Richard und Lucia Cunningham) enthalten, die ich mir als nächstes vornehmen möchte (diese Sammlung ist auch auf Deutsch unter dem Titel Die neuen Inseln, übersetzt von Thomas Brons, erschienen, aber leider schon lange vergriffen). House of Mist jedenfalls ist eine Art Gothic Novel (mit deutlichen Anklängen bspw. an Daphne Du Mauriers Rebecca) über eine unscheinbare junge Frau, die als Vollwaise von ihren reichen Verwandten aufgezogen wurde und schließlich ihre Jugendliebe heiratet, den Besitzer des titelgebenden Haus des Nebels, der noch dazu der Witwer ihrer schönen, von ihr sehr verehrten Cousine ist. Doch das Eheleben der beiden ist alles andere als harmonisch, die Erinnerung an die vorherige, kurze Zeit nach der Hochzeit verstorbene Braut (die ähnlich wie Rebecca unter mysteriösen Umständen im See ertrunken ist) steht zwischen ihnen, und während einer rauschenden Ballnacht im Haus ihrer Schwägerin lässt sich die unglückliche Erzählerin schließlich auf einen charmanten Verehrer ein…
Obwohl mir wie gesagt teilweise deutliche Parallelen zu Rebecca (und dadurch im Grunde auch zu Jane Eyre) aufgefallen sind, fühlte sich die Geschichte viel märchenhafter an als diese anderen Texte, der Erzählstil war einerseits poetischer, auch blumiger, andererseits dadurch aber auch irgendwie weniger packend, alles wirkte irgendwie traumartig und surreal, aber nicht unbedingt spannend. Trotzdem bin ich gespannt auf den Rest von Bombals Erzählungen.
Trotz des hohen Stapels an Printbüchern hatte ich antürlich auch noch meinen eReader mit dabei, und darauf habe ich endlich, mit langer Verspätung, auch mal Ling Mas fantastischen postapokalyptischen Pandemieroman Severance (dt. New York Ghost, Ü: Zoë Beck) gelesen, von dem ich schon so viel Gutes gehört hatte. Obwohl der Roman, in dem es um eine von Pilzsporen übertragene Krankheit namens Shen Fever geht, die sich von China aus epidemisch ausbreitet und der bald fast die gesamte Bevölkerung der USA zum Opfer fällt, im Original schon 2018 erschienen ist, fühlt er sich unglaublich prophetisch im Bezug auf die Corona-Pandemie an. Es geht aber darin vorrangig gar nicht um das Überleben in einer (post)apokalyptischen Landschaft, sondern das Buch ist vielmehr eine ziemlich bissige Satire auf die moderne kapitalistische Arbeitswelt, in der die Protagonistin Candace so lange an ihrem immer sinnloser werdenen Bürojob als Koordinatorin für die Herstellung von Bibeln festhält, bis sie schließlich nicht nur die letzte in ihrer Firma, sondern auch die letzte nicht infizeirte Überlebende in ganz New York ist…
Nach dem New York Ghost hatte ich dann Lust auf eine richtige Geistergeschichte und habe mir den vor ein paar Jahren von meinem liebsten irischen Indie-verlag Tramp Press wiederaufgelegten Haunted-House-Roman The Uninvited (1941) der irischen Autorin Dorothy Macardle vorgenommen. Er handelt vom Geschwisterpaar Roderick und Pamela Fitzgerald, die das Großstadtleben in London leid sind und ihr Vermögen zusammenlegen, um gemeinsam ein leerstehendes Haus an der Küste Devons zu erwerben, in dem sie zukünftig zusammen leben wollen. Leider müssen sie vor Ort feststellen, dass Cliff End, in dem rund 15 Jahre zuvor die Ehefrau und kurze Zeit später auch die Geliebte eines Malers unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen sind, von bösen Mächten heimgesucht zu werden scheint — und dass die Geister ein besonderes Interesse an Stella zeigen, der 19-jährigen Tochter des Malers und seiner Frau. Roddy, der schnell starke Gefühle für die junge Frau entwickelt hat, und seine Schwester setzen alles daran, dem Spuk ein Ende zu bereiten, bevor Stella in tödliche Gefahr gerät…
Bis auf die Liebesgeschichte zwischen Roddy und Stella, die mir eher übel aufgestoßen ist (er ist Anfang 30 und erfolgreicher Journalist und Autor, sie 19, Vollwaise und frisch aus der Schule), fand ich diesen Roman (der auch wieder stellenweise Parallelen zu Du Mauriers Romanen Rebecca oder auch My Cousin Rachel aufweist) wirklich sehr spannend und gut geschrieben und freue mich darauf, bald auch die anderen beiden von Macardles Romanen zu lesen, die bei Tramp Press in Neuauflagen erschienen sind. Außerem habe ich mir vorgenommen, weil ich so in Gothic Novel- und in Pilzsporenstimmung bin, mir endlich auch mal Silvia Garcia-Morenos Mexican Gothic genauer anzuschauen.
Im Anschluss an Macardles sehr guten Gruselroman habe ich dann als letzte Urlaubslektüre gleich noch eine Geistergeschichte drangehängt. In Louise Erdrichs The Sentence (dt. Jahr der Wunder, Ü: Gesine Schröder) spukt es allerdings nicht in einem alten Landsitz, sondern in einer kleinen unabhängigen, auf indigene Literatur spezialisierten Buchhandlung in Minneapolis. Im November 2019 stirbt Flora, die "nervigste" Stammkundin des Ladens, und sucht fortan regelmäßig die Buchhandlung heim, was anfangs nur von Tookie, einer ehemaligen Gefängnisinsassin, die nach ihrer zehnjährigen Haftstrafe in der Buchhandlung zu arbeiten begonnen hat, bemerkt wird. Schnell muss Tookie feststellen, dass sie mehr als nur die Liebe zur Literatur mit Flora verbindet. Der Roman ist nicht nur a) unglaublich politisch (die Proteste gegen rassistische Polizeigewalt nach dem Mord an George Floyd spielen u.a. eine zentrale Rolle) und b) eine Liebeserklärung an die Macht von Literatur besonders in Krisenzeiten, sondern noch dazu ein Coronaroman, der insbesondere die Arbeit im Buchhandel unter Pandemiebedingungen und Lockdowns unglaublich gut einfängt — ich habe mich und meine Kolleg*innen (und Kund*innen) in so vielen Szenen wiedererkannt. Es war mein erster Roman von Erdrich, aber es wird definitiv nicht mein letzter bleiben!
(Apropos spukende Buchhandlungen, in dem Zusammenhang möchte ich auch Penelope Fitzgeralds sehr charmanten Roman The Bookshop (1978, dt. Die Buchhandlung, Ü: Christa Krüger) nicht unerwähnt lassen, in dem die Protagonistin Florence Green entgegen aller Widerstände eine Buchhandlung im verschlafenen Küstendorf Hardborough eröffnet und fortan mit der Skepsis der lokalen Bevölkerung, dem Skandal um die Veröffentlichung von Nabokovs Lolita und einem die Buchhandlung heimsuchenden Poltergeist zu kämpfen hat…)
Weil ich dank Ling Mas wirklich gutem Roman schon so in postapokalyptischer Pilzstimmung war, habe ich auf der Rückreise dann noch Aliya Whiteleys "Fungal Horror"-Novelle The Beauty angefangen, von der ich viel gutes gehört und an die ich entsprechend hohe Erwartungen gestellt hatte. Das ist der Klappentext:
"Somewhere away from the cities and towns, in the Valley of the Rocks, a society of men and boys gather around the fire each night to listen to their history recounted by Nate, the storyteller. Requested most often by the group is the tale of the death of all women.
They are the last generation.
One evening, Nate brings back new secrets from the woods; peculiar mushrooms are growing from the ground where the women’s bodies lie buried. These are the first signs of a strange and insidious presence unlike anything ever known before…
Discover the Beauty."
Leider hat das Buch mir aber überhaupt nicht gefallen, und auch wenn die Erzählung nur < 120 Seiten lang ist, haben mich einige Aspekte daran so gestört, dass ich mich nach 70 Seiten nicht länger quälen wollte und das Buch abgebrochen habe. Einerseits fand ich den Schreibstil total trocken und langweilig, so dass ich von vornherein nur wenig motiviert war, am Ball zu bleiben. Viel mehr als die stilistischen Mängel jedoch hat mich gestört, dass die Geschichte, wie leider die meisten solcher "Gender Plague"-Romane (also Geschichten, in denen alle Vertreter*innen von einem von zwei — binären! — Geschlechtern auf irgendeine Art und Weise, sei es durch Krankheit, Magie, oder irgendeine andere Katastrophe, komplett ausgelöscht werden), extrem heteronormativ, genderessentialistisch und biologistisch — und also auf jeden Fall auch transexkludierend — daherkommt, zumindest in dem Teil, den ich noch gelesen habe. (SPOILERALERT ab hier:) Der Plot in der zweiten Hälfte besteht, soweit ich das den Goodreads-Rezensionen entnehmen konnte, dann unter anderem darin, dass die aus den Gräbern der verstorbenen Frauen gewachsenen gesichtslosen, sexbessessenen Pilzwesen einen Weg finden, ihre menschlichen, männlichen monogamen Partner zu schwängern, denen daraufhin die Penisse abfallen, dafür aber neue Öffnungen im Unterleib wachsen, durch welche die Pilzfrauen sie fortan penetrieren können… In einem Setting, in dem Homosexualität nur als beschämende Notlösung stattfindet (vor der Ankunft der Pilzfrauen verschaffen sich einige der jüngeren Männer heimlich und verschämt gegenseitig sexuelle Befriedigung, lassen das aber schnell bleiben, sobald sie mongame Beziehungen mit den Pilzfrauen eingegangen sind) und Transidentitäten überhaupt nicht vorkommen, fühlte sich das alles für mich irgendwie eher ungut an, so dass ich dann keine Lust hatte, mich weiter durchzuquälen. Hat jemand von euch das ganze Buch gelesen und eine (andere) Meinung dazu?
Im Urlaub angefangen und dann doch erstmal wieder zur Seite gelegt habe ich außerdem Yiyun Lis Book of Goose, weil mich die ersten 50 Seiten irgendwie viel zu sehr an Elena Ferrantes Meine geniale Freundin erinnert haben, von dem ich ja gar nicht so der Fan bin (habe die Neapolitanische Saga nach zwei der vier Bände nie zuende gelesen; ich persönlich mag Ferrantes Frau im Dunkeln — übrigens auch ein sehr guter "düsterer" Sommerroman — viel lieber). Eventuell gebe ich Lis Roman irgendwann nochmal eine Chance, aber gerade habe ich irgendwie wenig Lust darauf. Nur temporär beiseite gelegt habe ich dagegen Kim Sherwoods feministischen Abenteuerroman A Wild & True Relation, der mir definitiv gut gefällt, ich war nur in der zweiten Urlaubshälfte irgendwie nicht in ganz der richtigen Stimmung dafür. Ich werde die Lektüre aber sicherlich bald wieder aufnehmen.
Zu den Büchern von Anita Brookner, Elizabeth Jane Howard und Virginia Woolf bin ich einfach zeitlich während der zwei Urlaubswochen nicht mehr gekommen, aber sie bleiben relativ weit oben auf meinem Nachttischstapel liegen! Direkt neben den Büchern, die ich mir im Urlaub gekauft habe. Ich dachte ja ganz naiv, ich sei diesmal ausnahmsweise sicher vor den Buchhandlungen, weil ich ja kein (Neu)Griechisch kann… Tja, leider hat Athen aber u.a. eine deutschsprachige Buchhandlung und mehrere Buchhandlungen mit gut sortierter englischer Abteilung zu bieten, was sollte ich also machen? Immerhin habe ich mir selbst die Einschränkung auferlegt, dass ich nur Übersetzungen griechischer Autorinnen kaufen darf — da gab es aber trotzdem noch so viel spannende Auswahl, dass es am Ende fünf deutsche und fünf englische Bücher geworden sind:
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich irgendwann im Juli verschicken. Bis dahin findet ihr mich mit buchnahem Content auf Twitter (solange es noch funktioniert).
Sollte diese Ausgabe nicht in eurem Postfach auftauchen, dann checkt euren Spam-Ordner und fügt ggf. diese Mailadresse eurem Adressbuch hinzu. Grundsätzlich könnt ihr alle alten Ausgaben des Newsletters auch jederzeit im Archiv auf der Substack-Seite nachlesen.
Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda
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