Ein Jubiläum, ein literarisches Rätsel und ein Schleimsexbuch
Außerdem: Auf der Spur Schwarzer literarischer Traditionslinien
Ihr Lieben,
es ist mir fast ein wenig peinlich, aber ich habe doch glatt vor zwei Wochen mein eigenes zweijähriges Newsletterjubiläum verpasst! Die allererste Ausgabe von "Magda liest. Und liest. Und liest." habe ich nämlich am 10. Februar 2021 verschickt:
In diesen zwei Jahren ist viel passiert: ich habe 40 reguläre und ein paar Exklusivausgaben dieses Newsletters verschickt, in denen ich euch insgesamt vermutlich mehrere hundert Bücher empfohlen habe (hat jemand mitgezählt?), ich habe mit #HellemyrLesen kürzlich einen Lesekreis-Unternewsletter gestartet, habe mir eine treue Leser*innenschaft von inzwischen fast 2.100 Abonnent*innen aufgebaut und freue mich über jede*n einzelne*n von euch, die neu dazukommen.
Auch sonst hat sich bei mir in der letzten Zeit viel getan — ich habe neben meinem Hauptjob als Buchhändlerin im Ocelot auch meine freiberufliche Tätigkeit als Literaturvermittlerin immer weiter ausgebaut, moderiere jetzt immer öfter online und offline Literaturveranstaltungen, leite Webinare, schreibe Texte und trete auf Podien, in Podcasts und anderswo als Literaturexpertin auf uvm. Wer einen Überblick darüber haben möchte, was ich in der letzten Zeit so gemacht habe (oder mich für eine Kooperation anfragen möchte), findet allte relevanten Informationen auf meiner neuen persönlichen Website www.magdarine.com.
Darüber hinaus bin ich seit letztem Jahr zusammen mit der besten aller Mitstreiterinnen an einem absoluten Traumprojekt beteiligt, von dem ich euch ganz bald endlich ausführlicher erzählen darf und über das ich mich richtig krass freue, das aber auch viel Arbeitszeit in Anspruch nimmt.
All diese spannenden Projekte mit meiner 35h-Woche in der Buchhandlung unter einen Hut zu bringen, hat mich gegen Ende des letzten Jahres immer mehr an meine Grenzen gebracht, weshalb ich im Januar einen für mich persönlich großen, aufregenden (und beängstigenden) Schritt gegangen bin und meine Arbeitszeit in der Buchhandlung um ganze 10 Stunden auf 25 Wochenstunden verkürzt habe. Das bringt mir einerseits die nötige Zeit, um mich auf die Schreib- und Rechercheprojekte zu konzentrieren, auf die ich so unglaublich große Lust habe, bedeutet aber andererseits auch erstmal eine vergleichsweise schwerwiegende Reduktion meines geregelten monatlichen Einkommens als Festangestellte, ohne Garantie, dass ich diese Differenz durch freiberufliche Aufträge wirklich vollständig werde ausgleichen können. Es ist ein Experiment, auf das ich mich zumindest für dieses Jahr bewusst einlasse, um Klarheit darüber zu bekommen, wo ich beruflich noch überall hinwill, was meine Stärken sind, welche Arten von Arbeit mir liegen und welche nicht.
Eines meiner Lieblingsprojekte, das von dieser gewonnenen Arbeitszeit profitieren soll, ist dieser Newsletter. Ich möchte in Zukunft versuchen, ihm (mindestens) einen vollständigen Arbeitstag im Monat zu widmen (also dem Schreiben — die Lektüre dafür läuft natürlich immer und überall parallel mit). Da meine "Homeofficetage" meistens auf Mittwoch und Donnerstag fallen, wird dieser Newsletter zukünftig (und beginnend mit dieser Ausgabe, wie ihr vielleicht bemerkt habt) donnerstags statt mittwochs erscheinen. Die 58 Leute unter euch Abonnent*innen, die momentan ein solidarisches Bezahlabo abgeschlossen haben (das sind ca. 2,8% aller Abos), tragen mit ihrer finanziellen Unterstützung dazu bei, dass ich mir diesen Newsletterschreibtag erlauben kann — vielen, vielen Dank dafür, dass ihr meine Schreibarbeit auf diese Weise wertschätzt! <3
Wer sich anschließen möchte, kann hier ihr*sein Abo auf ein Bezahlabo updaten. Zur Feier des zweijährigen Bestehens gibt es für die nächsten 7 Tage 20% Rabatt auf ein Jahresabo:
Und damit genug der Vorrede, widmen wir uns nun endlich den wichtigen Themen”
Wer mir auf Twitter folgt, hat vielleicht bereits mitbekommen, dass ich seit einigen Monaten in ein unglaublich faszinierendes literarisches Rätsel verwickelt bin. Am Dienstag hat sich mir ein weiteres Puzzleteil offenbart und ich denke, es ist an der Zeit, auch euch allen von diesem aufregenden Mysterium zu erzählen. Aber der Reihe nach:
Letzten Oktober habe ich während einer ganz normalen Arbeitsschicht in der Buchhandlung den Briefkasten vom Ocelot geleert und mich dabei ein bisschen gewundert, dass unter der übrigen Geschäftspost (Leseexemplare, Verlagsprospekte, Rechnungen etc.) auch ein an mich persönlich adressierter Brief dabei war, mit einem Poststempel aus dem US-Bundesstaat New Jersey und der Absenderangabe "Solveig Güzel, Independent Scholar". Diesen Namen hatte ich noch nie zuvor gehört. Ich öffnete den Brief neugierig und war dann zuerstmal eher enttäuscht, denn in dem Brief befand sich lediglich ein mehrseitiger Ausdruck von etwas, das auf den ersten Blick wie ein wissenschaftlicher Aufsatz besagter Absenderin Solvig Güzel wirkte, ohne Anschreiben, ohne Erklärung, warum das ausgerechnet an mich geschickt wurde, ohne irgendwelche weiteren Informationen. Ich war daher kurz davor, das Poststück einfach mit einem Schulterzucken in den Papierkorb zu werfen, schließlich habe ich sowohl während meiner Zeit als studentische Hilfskraft in meiner Institutsbibliothek als auch während meines Volontariats in der Onlinemarketing-Abteilung des Suhrkamp Verlags einen Haufen wirrer unverlangter Einsendungen zu Gesicht bekommen — von mormonischen Prophezeiungen über exzentrische linguistische Thesen bezüglich einer vermeintlichen Verwandtschaft zwischen dem Chinesischen und dem Deutschen bis hin zu den Memoiren eines Mannes, der von sich behauptete, die Zeit anhalten zu können, war da im Laufe der Jahre wirklich alles dabei! Ein Funken Neugierde regte sich aber doch bei mir, also wollte ich noch kurz den Namen meiner mysteriösen Korrespondentin googeln, ehe ich ihren Aufsatz ungelesen entsorgte. Tja, und nachträglich bin ich mir selbst für diesen Impuls ungaublich dankbar, denn in was für ein Rabbithole mich diese harmlose Googlesuche stürzen würde, hätte ich mir niemals erträumt!
Was ich fand, war nämlich ein Tweet. Genauer gesagt ein Antworttweet der Literaturwissenschaftlerin und Kritikerin Merve Emre auf einen Tweet des Autors und Kritikers Adam Dalva. Dieser wiederum erwähnte einen weiteren mir bis dahin völlig unbekannten Namen, Stokes Prickett, über den er ein Jahr zuvor einen New Yorker-Artikel geschrieben habe. Noch bevor ich mir meinen eigenen Brief genauer anschaute, klickte ich mich also zu diesem Artikel durch, und hier wurde es dann richtig spannend.
Denn es stellte sich heraus, dass ein mysteriöser Autor mit dem Pseudonym Stokes Prickett vor über zwei Jahren damit angefangen hatte, einen unveröffentlichen Roman namens Foodie in Fortsetzungen per Post an ahnungslose, scheinbar zufällig ausgewählte Empfänger*innen zu verschicken. Im Sommer 2022 war das Stokes Prickett-Universum bereits um mehrere weitere Figuren angewachsen, statt Texten von Prickett selbst fanden die Empfänger*innen nun literaturwissenschaftliche Sekundärliteratur über das Prickettsche Oeuvre von zwei Personen namens Sherbert Taylor und Solveig Güzel in ihren Briefkästen vor. Und irgendwie war ich selbst auch auf die Adressliste von Frau Güzel geraten. Endlich las ich nun selbst ihren Aufsatz, der die ganze Geschichte für mich losgetreten hatte und stellte fest, dass es sich bei Solveig Güzel wohl um die Exfrau von besagtem Stokes-Prickett-Experten Sherbert Taylor und bei ihrem als wisseschaftlichen Aufsatz getarntem Text mit dem Titel "Erratum" eigentlich um einen sehr eigenwilligen, aber stilistisch teilweise geradezu brillianten persönlichen Essay über das Scheitern ihrer Ehe handelte.
Nach der Lektüre war ich uneingeschränkt begeistert über die Tatsache, völlig ohne mein Zutun mitten in dieses literarische Rätsel gestolpert zu sein, und hoffte auf baldige weitere Mysterypost aus den USA. Und wurde nicht enttäuscht, denn nur zwei Wochen später fand sich wieder ein persönlich an mich adressierter Umschlag im Ocelot-Briefkasten, diesmal von Professor Sherbert Taylor höchstpersönlich. Wieder befand sich in dem Umschlag ein Ausdruck eines Artikels, wieder ohne jegliche beigefügte Erklärung. Dieser Artikel mit dem Titel "Notes from the Kansas City Poetics Conference: Investigation into who Keyed my Subaru Forester" beschreibt ein Ereignis — nämlich das Zerkratzen von Taylors Auto mithilfe eines Schlüsselbunds —, auf das auch Solveig Güzel in ihrem Text angespielt hatte. Für aufmerksame Leser*innen beider Artikel wird schnell klar, dass vermutlich Güzel selbst für diesen vandalistischen Akt verantwortlich ist. Ich hoffte auf weitere Updates in dieser akademischen Familienfehde oder auf Post vom Meister Stokes Prickett persönlich, doch die nächsten paar Monate über schien das Mastermind hinter diesem postalischen Literaturnetzwerk mich vergessen zu haben, was mich ein wenig traurig machte. Bis Anfang dieses Monats etwas wirklich Aufregendes passierte: An einem meiner freien Tage kam jemand in den Laden und gab persönlich einen dicken braunen Umschlag für mich ab!!! Diesmal war statt einer Absenderadresse das Logo der sog. "Tuftnagle School for the Fancier Lad" auf die linke obere Ecke des Umschlags gestempelt. Der Brief enthielt ein Anschreiben einer Person namens Zenith Calhoun, anscheinend der Direktor besagter Tuftnagle School (die sich wohl in New Jersey befindet und an der man einen Zwei-Fach-Abschluss in "Cuisine and Creative Writing" machen kann), sowie ein kleines Heftchen mit dem Titel DoorDash Manifesto.
Calhoun nennt dieses Manifest, das ihm selbst auf mysteriöse Art und Weise bei einer abendlichen Essenslieferung durch DoorDash (so ähnlich wie in Deutschland Wolt usw.) zugespielt wurde, "as sublime as a prickly-pear Margarita sans salted rim, […] acounterculture gut punch, […] no bargain-bin fond but an object abjectly sound in its reasoning" und ich kann ihm nur zustimmen, wenn er sagt, dass "no other volume of literary or culinary output can further our wellbeing so much."
Ich hatte dieses brilliante Stück Literatur (erzählt aus der Sicht eines Collegedozenten für Literatur, der nebenher für DoorDash Essensbestellungen ausliefert), von dem ich vermute, dass es von Stokes Prickett verfasst wurde, noch kaum verdaut, als meine Kollegin vorgestern schon wieder einen Brief aus dem Stokes Prickett Extended Universe aus dem Briefkaste fischte. Diesmal erreichte mich darin ein neuer Aufsatz von Solveig Güzel über das DoorDash Manifesto sowie eine Stellenausschreibung für die geplante Besetzung des Sherbert Taylor Endowed Chairs im "Program for Innovations in Mailed Fictions" am Tuftnagle College. Ich hege große Hoffnungen, bald weitere Post von Stokes Prickett etc. zu erhalten und so schließlich zur absoluten Expertin für Mailed Fictions zu werden — mit etwas Glück kann ich mich dann nämlich bald auf diese spannende Professur bewerben…
Der Februar ist bekanntlich immer Black History Month und auch wenn ich mich das ganze Jahr über gerne mit Schwarzer Literatur befasse, hat eine von einem meiner noch geheimen Projekte angestoßene Recherche mal wieder einen ganzen Rattenschwanz an weiteren Lektüren nach sich gezogen, die jetzt eher zufällig genau auf den Februar gefallen sind.
Angefangen hat mein Deep Dive in die afroamerikanische Literaturgeschichte mit dem Interviewband Black Women Writers at Work, den die Schwarze Literaturwissenschaftlerin und Kritikerin Claudia Tate ursprünglich Mitte der 80er Jahre herausgegeben hat und der vor ein paar Monaten endlich wieder neu aufgelegt wurde. Darin spricht Tate mit 14 wichtigen Schwarzen amerikanischen Schriftstellerinnen (Maya Angelou, Toni Cade Bambara, Gwendolyn Brooks, Alexis De Veaux, Nikki Giovanni, Kristin Hunter, Gayl Jones, Audre Lorde, Toni Morrison, Sonia Sanchez, Ntozake Shange, Alice Walker, Margaret Walker, und Sherley Anne Williams) über deren Werk, darüber, wie ihre Erfahrungen als Schwarze Frauen in einer rassistischen und sexistischen Gesellschaft ihr Schreiben prägen, über Mutterschaft und Geschlechterkampf, über Themen und Techniken, über die gesellschaftliche Verantwortung von künstlerischem Schaffen uvm.
Eine äußerst anregende Lektüre, die natürlich auch meine Leselisten mal wieder um zahlreiche Titel hat wachsen lassen! Als nächstes habe ich dann nach der von Marissa Constantinou herausgegebenen neuen Anthologie Women of the Harlem Renaissance: Poems & Stories gegriffen, die letzten Herbst erschienen ist und schon seit längerem auf meinem Nachttischstapel lag:
Ich muss gestehen, dass mich die darin enthaltenen Gedichte nicht so besonders "abgeholt" haben, aber unter den Prosatexten waren einige sehr interessante Erzählungen dabei von Autorinnen, die ich bisher noch nicht kannte. Besonders gut gefallen hat mir u.a. die längere Erzählung "The Sleeper Wakes" von Jessie Fauset, die mich in bestimmten Gesichtspunkten sowohl an Nella Larsens großartigen Roman Passing als auch an Kate Chopins feministischen Klassiker Awakening erinnert hat. Auch die Geschichte "The Closing Door" von Angela Weld Grimké, hat mich sehr beeindruckt (und erschüttert). Bei letzterer bin ich übrigens über eine für mich erstmal kuriose Quellenangabe gestolpert, laut der die Erzählung ursprünglich erstmals 1919 in einer Zeitschrift namens The Birth Control Review abgedruckt wurde. Wie sich nach einer kurzen Wikipedia-Recherche herausstellte, wurde das Magazin 1917 von der Birth-Control-Aktivistin Margaret Sanger gegründet, "[she] published the first issue while imprisoned with Ethel Byrne and Fannie Mindell for giving contraceptives and instruction to poor women at the Brownsville Clinic in New York."
Das Hauptziel des Magazins war "to increase public support for birth control by attracting the support of doctors, legislators, academics, and the middle class and wealthy society women. […] Content included news of birth control activities, articles by scholars, activists, and writers on birth control, and reviews of books and other publications. The Review also included art and fiction in the form of cartoons, poetry and short stories as well as case studies and first hand account/testimonies from women, often lower class persons of color." Die letzte Ausgabe des Magazins erschien 1940; Sanger selbst gilt einerseits als wichtige Vorreiterin der Birth Control Bewegung, als Anhängerin von Eugenik ist sie aber aus heutiger Sicht eine durchaus kontroverse Persönlichkeit gewesen.
Aber zurück zur Harlem Renaissance bzw. Harlem im Allgemeinen. Ich habe diesen Monat auch eine sehr schöne ruhige Nachmittagsstunde mit einem unglaublich berührenden kleinen Fotobuch verbracht, The Sweet Flypaper of Life (1955), einer Kollaboration zwischen dem Fotografen Roy DeCarava und dem Dichter Langston Hughes, einem der "Anführer" der Harlem Renaissance.
Der Band enthält eine Menge an Scharzweißfotos von DeCarava und extra dazu verfasste kurze Prosatexte von Hughes, die zusammen von Schwarzem Familienleben im New Yorker Stadtteil Harlem der 50er Jahre erzählen. Erzählerin von Hughes’ Text ist die fiktive Sister Mary Bradley, Großmutter von zehn Enkelkindern, die zwar immer gebrechlicher wird, aber noch lange nicht ihren Lebensmut verloren hat:
"Of course, when I wake up some morning and find my own self dead, then I'll come home. But right now, you understand me, Lord, I'm so tangled up in living, I ain't got time to die."
Schwarze Autorinnen spielten bereits in der Harlem Renaissance eine wichtige Rolle, in den 1970er Jahren eroberten sie dann aber erst recht die amerikanische Literaturszene. So erschien beispielsweise der erste Band von Maya Angelous Autobiographie, I Know Why The Caged Bird Sings, im Jahr 1969, ein Jahr darauf folgten die Debütromane von Toni Morrison und Alice Walker.
Beim Versuch, einige verstreut erschienene Kurzgeschichten einer bestimmten Autorin aufzutreiben, mit der ich mich gerade für mein bereits erwähntes Geheimprojekt befasse, bin ich auf einige wichtige Anthologien aus den 70er und 80er Jahren gestoßen, die zeitgenössische literarische Texte afroamerikanischer Autorinnen versammeln und konnte dann natürlich nicht widerstehen, mir alle drei Bücher antiquarisch zu besorgen.
Der von Amiri Baraka und Amina Baraka herausgegebene Band Confirmation: An Anthology of AfricanAmerican Women (1983) enthält sowohl Lyrik als auch Prosa als auch vereinzelte Dramentexte und ist vor allem deshalb sehr interessant, weil darin so viele verschiedene Autorinnen vertreten sind, von denen ich viele bisher nicht einmal dem Namen nach kannte.
Die beiden von Mary Helen Washington herausgegebenen Anthologien Black-Eyed Susan/Midnight Birds: Stories by and about Black Women (ursprünglich in zwei Bänden 1975 und 1980 erschienen, diese Gesamtausgabe dann 1990) und Invented Lives: Narratives of Black Women 1860-1960 (1987) sind unter den diesen Monat (an)gelesenen Anthologien bisher mein Highlight, weil sie nicht nur eine sehr gute allgemeine Einleitung und eine spannende Textauswahl beeinhalten, sondern weil Mary Helen Washington auch jeden einzelnen enthaltenen Text noch einmal ausführlich literaturwissenschaftlich kommentiert und einordnet. Einen besseren Weg, die afroamerikanische (weibliche) Literaturgeschichte zu erkunden und die unterschiedlichen Traditionslinien weiblichen Schwarzen Schreibens nachzuvollziehen, kann ich mir kaum vorstellen.
"Imagine this: in 1966 I had been in school for nearly twenty years and I had never read a book written by a black woman. […] I began to immerse myself in collecting the stories of black women, and I realized that I had not been able to commit myself to my work because in the literature I had been taught and in the world I was expected to negotiate, my face did not exist. I know that I felt an immediate sense of community and continuity and joy in the discovery of these writers as though I had found something of my ancestry, my future, and my own voice. And I do know that my commitment to my work—to teaching and writing—began when I joined this circle of sisters." (Mary Helen Washington, Introduction to: Black-Eyed Susans/Midnight Birds)
Alle drei Anthologien lese ich gerade parallel, immer mal wieder abwechselnd einen Text aus jedem Buch, und bekomme dabei unglaubliche Lust, noch tiefer in das Werk vieler der vertretenen Autorinnen einzutauchen. Es wird euch auch kaum wundern, dass ich in den letzten Tagen wieder zahlreiche Booklooker- und Medimopsbestellungen aufgegeben habe
Wichtige Traditionslinien Schwarzer Literatur gibt es übrigens natürlich nicht nur innerhalb der US-amerikanischen/englischsprachigen sondern auch innerhalb der deutschsprachigen Literaturgeschichte. Letztes Jahr hat die Autorin und Aktivistin Sharon Dodua Otoo (die ich vor zwei Jahren in diesem Newsletter über ihren deutschsprachigen Debütroman Adas Raum interviewt habe!) im Rahmen der Ruhrfestspiele das Schwarze Literaturfestival Resonanzen kuratiert, bei dem Schwarze Literatur gewürdigt und gefeiert werden sollte. Deshalb haben dort sechs junge Schwarze deutschsprachige Autor*innen eigens für dieses Festival geschriebene Prosatexte vorgelesen, die dann live auf der Bühne von einer Jury unterschiedlicher Schwarzer Literaturexpert*innen gewürdigt, analysiert und auch kritisiert wurden — allerdings ohne den Wettbewerbscharakter ähnlicher Veranstaltungen wie z.B. dem jährlich stattfindenden Wettlesen um den Bachmannpreis in Klagenfurt.
Und was das tollste ist: eine komplette Dokumentation des Festivals, inklusive aller Reden, Lesungen und Jurydiskussionen, ist vor kurzem als Buch erschienen, so dass alle, die wie ich nicht live vor Ort bei der Veranstaltung dabei sein konnten, trotzdem Teil dieser so dringend notwendigen "Intervention" werden können. Große Empfehlung!
Auch 2023 kuratiert Sharon Dodua Otoo übrigens wieder (diesmal zusammen mit Patricia Eckermann) eine Veranstaltung im Rahmen der Ruhrfestspiele, die sich sehr interessant anhört. Ich bin gespannt, welche weiteren Projekte zu Schwarzer deutschsprachiger Literatur aus dieser Kooperation noch folgen werden!
"Ich liebe Bücher, ich liebe das Lesen, ich liebe das Schreiben. Ich gehe gerne zu Veranstaltungen und diskutiere über Literatur. Und so oft bin ich die einzige Schwarze Person im Raum. Deshalb frage ich mich ständig, was wäre, wenn mehr Menschen ermutigt würden, ihre Geschichten zu erzählen? Sie aufzuschreiben und zu veröffentlichen? Und was wäre, wenn mehr Menschen sie lesen und feiern würden? Vor allem Menschen aus Schwarzen und afrikanischen diasporischen Gemeinschaften, die wunderschöne Gedichte, bewegende Kurzgeschichten und fantastische Romane schreiben, aber bisher nicht von Agent*innen vertreten werden, die keinen Kontakt zu großen Verlagen haben und nicht zu Literaturfestivals eingeladen werden. Und selbst wenn diese Bücher es in die Regale der Buchhandlungen und in die Aufmerksamkeit der Literaturkritiker*innen schaffen, werden sie oft mit einem "sozialpolitischen" Fokus gelesen. Zum Beispiel was haben diese Autor*innen über den Rassismus zu sagen?
Beim Schreiben von Schwarzen Menschen geht es allerdings um so viel mehr."
Ich wohne im Prenzlauer Berg und hier gibt es wirklich eine Menge Antiquariate und öffentliche Bücherschränke, denen ich sehr regelmäßig einen Besuch abstatte. Vor allem in diesen Bücherschränken finden sich neben den üblichen veralteten Reiseführern und Kochbüchern, all den zerfledderten und vergilbten Simmels, Konsaliks, Danellas und co., auch immer wieder auffällig viele Bücher aus DDR-Zeiten — zugrunde liegt dem vermutlich die einfache wie traurige Erklärung, dass immer mehr alteingesessene Haushalte, die sich seit Jahrzehnten und eben teilweise schon lange vor der Wende in diesem Kiez befanden, aufgelöst werden, sei es durch den Tod ihrer Bewohner*innen oder durch deren Umzug in Alten- und Pflegeheime etc. Jedenfalls habe ich in den bald sieben Jahren, die ich jetzt in diesem Kiez wohne, schon ziemlich viele dieser aussortierten DDR-Bücher mit nach Hause genommen, und zwar meistens weniger von inhaltlichen als von ästhethischen Gesichtspunkten geleitet.
Ich finde in den 60er, 70er und 80er Jahren in der DDR erschienene Bücher oft einfach unglaublich ansprechend gestaltet. Was nicht weiter verwundert, denn laut dem Buchgestalter Matthias Gubig galt "die Buchkunst […] im Leseland DDR als die Krone typografischen Gestaltens", war gleichsam ein "Aushängeschild ostdeutscher Gebrauchsgrafik". Weil ich nach diesen DDR-Ausgaben inzwischen immer extra Ausschau halte, kam mir vor einigen Monaten im Bücherschrank ein Roman unter, dem ich bei einer weniger ansprechenden Ausstattung bestimmt keine besondere Beachtung geschenkt hätte — und das wäre jammerschade gewesen, denn dieses Buch war ein echter Glückstreffer!
Es handelt sich um den Roman Azarel des ungarischen Schriftstellers Károly Pap, der 1897 als Sohn einer jüdisch-konservativen Rabbinerfamilie in Sopron, Ungarn geboren wurde. "Nach dem Abitur meldete er sich als Kriegsfreiwilliger an die Front, kämpfte 1919 in der Roten Armee, wurde für anderthalb Jahre von den Weißgardisten eingesperrt; freigekommen lebte er von 1923 an wieder in Budapest" und veröffentlichte ab 1926 seine ersten Erzählungen. Den autobiografischen Roman Azarel schrieb Pap 1937, er führte zu einem regelrechten Skandal, "Kritiker hielten den Roman für einen Angriff auf das aufgeklärte Judentum, und Pap musste sich sogar in einem literarischen Tribunal dafür verantworten", seine Familie verstieß ihn. Im zweiten Weltkrieg wurde Pap zu Zwangsarbeit einberufen und 1944 nach Buchenwald verschleppt, bevor er 1945 vermutlich im KZ Bergen-Belsen ermordet wurde. Die Ausgabe von Azarel, die ich nun fasziniert un begeistert gelesen habe, ist vermutlich etwa 1981 (keine genaue Angabe im Impressum) im Berliner Union Verlag erschienen und wurde von Friederika Schag aus dem Ungarischen übersetzt. Soweit ich das anhand der Daten der Deutschen Nationalbibliothek anchvollziehen kann, gab es damals keine entsprechende Westdeutsche Ausgabe, erst 2004 ist der Roman in einer neuen Übersetzung von Hans Skirecki im Luchterhand Verlag (und später als Taschenbuchausgabe bei btb) erschienen; beide Ausgaben sind jedoch schon lange vergriffen. Und wenn ich ehrlich bin: hätte ich eine dieser beiden neueren Ausgaben im Bücherschrank gesehen, hätte ich sie wahrscheinlich eher nicht mit nach Hause genommen:
Erzählt wird der Roman von Gyuri, dem Sohn eines fortschrittlichen ungarischen Rabbiners, der bereits als sehr kleines Kind von seinen Eltern in die Obhut seines strenggläubigen Großvaters gegeben wird. Als er nach dessen Tod zurück in den Schoß seiner Familie kehrt, kann er sich in die "von Sparsamkeit, Vernunft, Bescheidenheit bestimmte prosaische Lebens- und Geisteswelt seiner Eltern und seiner beiden Geschwister" nur schwer einleben und die gesellschaftlich akzeptierten Grenzen zwischen Fiktion und Realität, zwischen Märchenwelt und Alltagsleben, kaum akzeptieren. "Unfähig zur Kommunikation mit dem tief, spontan und echt empfindenden Kind, unvermögend, auf seinen Erlebnisreichtum einzugehen, stellen die Erwachsenen seiner Umwelt ein Reglement auf das zwischen der Forderung nach blindem Gehorsam und demütiger Unterordnung keinen Raum für die kindliche Persönlichkeit lässt." Gyuri bleibt nicht anderes übrig, als gegen seine Rabbiner-Familie zu rebellieren…
"Meine Mutter sagt fast flüsternd: 'Mein Gott, sollte er wirklich nicht bei Trost sein?' und murmelt: 'Vielleicht hätten wir ihn gar nicht schlagen sollen? Sondern ihm nur alles erklären?'"
Ich habe relativ lange für die Lektüre dieses Romans gebraucht, weil es sich dabei in vieler Hinsicht um ein sehr trostloses Buch handelte, das ich deshalb nur in kleinen Portionen weiterlesen konnte, aber der Text hat mich trotzdem inhaltlich und sprachlich unglaublich fasziniert und ich kann es kaum erwarten, den einzigen anderen bisher ins Deutsche übersetzten Roman von Károly Pap (ebenfalls in einer sehr hübschen DDR-Ausgabe erschienen) auch noch antiquarisch in die Finger zu bekommen.
Was soll auf ein Bärensexbuch und ein Segelsexbuch noch folgen? Easy — natürlich ein Schleimsexbuch! Ich habe bereits Elisabeth Klars vorherigen Roman Himmelwärts (über eine Füchsin, die sich eine Menschenhaut stiehlt und sich, fortan als Menschenfrau lebend, mit den Stammgästen eines queeren Nachtclubs anfreundet) sehr gerne gelesen, deshalb hätte ich mir auch ihr neues Werk bestimmt irgendwann von selbst genauer angeguckt. Als sie mich dann auch noch auf Twitter mit dem Versprechen von Schleim- und Quallensex zu locken versucht hat, war völlig klar, dass ich ihren neuen Roman Es gibt uns unbedingt brauche!
Leute, so ein stranges, schleimiges, trauriges, kinky, kompliziertes, poetisches, rundherum völlig neues und eigenständiges Buch, zu dem mir auf Anhieb gar keine vergleichbaren Tete einfallen, habe ich schon lange nicht mehr gelesen! Ich weiß gar nicht genau, wie ich diese futuristisch-apokalyptische Geschichte rund um Oberon und Titania, Theater und Consent Culture, Quallen und Schleimtierchen zusammenfassen soll, weil es so unglaublich komplex ist, deshalb verweise ich euch einfach auf diese sehr schöne Besprechung in der Frankfurter Rundschau.
"Wenn ich aber unter anderen leben soll, […] weil ich ohne andere nicht leben kann, so will ich, dass ich Nein sagen kann auf jede Bitte, jede Frage, jedes Verlangen, bis zum Schluss. Dass dieses Nein nie übergangen werden wird, nie überhört, denn nur so kann ich Ja sagen zu allem."
(Was mir aber besonders gut gefallen hat: wie völlig selbstverständlich alle Figuren in diesem Buch einander jeweils nach ihren Pronomen fragen oder diese von sich aus mitteilen, ohne dass es unnatürlich, erzwungen oder aufgesetzt wirkt, und mit welcher Selbstverständlichkeit dabei auch ganz unterschiedliche Arten von Neopronomen in den Text integriert werden. Ich hoffe wirklich sehr, dass sich in Zukunft noch viel mehr Autor*innen auch in hochliterarsichen Texten auf solch kreative Art und Weise mit dem Thema auseinandersetzen.)
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich an einem Donnerstag im März verschicken. Bis dahin findet ihr mich mit buchnahem Content auf Twitter (solange es noch funktioniert).
Sollte diese Ausgabe nicht in eurem Postfach auftauchen, dann checkt euren Spam-Ordner und fügt ggf. diese Mailadresse eurem Adressbuch hinzu. Grundsätzlich könnt ihr alle alten Ausgaben des Newsletters auch jederzeit im Archiv auf der Substack-Seite nachlesen.
Wenn ihr innerhalb der nächsten Woche ein Bezahlabo abschließt, bekommt ihr 20% Rabatt auf ein Jahresabo:
Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda
Ich habe mitgezählt: Es sind 191 bei der Open Library ausleihbare Bücher https://openlibrary.org/people/bilch7822/lists/OL212115L/Magdarine und 316 bisher nicht ausleihbare https://openlibrary.org/people/bilch7822/lists/OL212153L/Magdarine_Warteliste . Ein paar kommen (aus Versehen oder wegen unterschiedlicher Sprachen) doppelt vor, also insgesamt um die 500.
Unfassbar informative Ausgabe. Besonders gespannt bin ich darauf, wie das Literaturrätsel weitergeht. So was ist genau mein Ding. 😅