Rinderwahn, Indie-Zines und ein Raum voller Adas
Wir wissen doch alle, dass Ihr eigentlich wegen Sharon Dodua Otoo hier seid!
Hallo Ihr Lieben,
willkommen zu Ausgabe Nummer 2 von „Magda liest. Und liest. Und liest.“ Schön, dass Ihr wieder alle mit von der Partie seid. Wie Ihr vermutlich bemerkt hat, gab es letzte Woche keinen Newsletter von mir. Ich muss mich da erstmal ein bisschen ausprobieren und will mich auch generell nicht so ganz strengen Regeln unterwerfen, aber ich glaube, alle zwei Wochen ist ein ganz guter Rhythmus, um Euch und mich selbst nicht zu überfordern. Aber genug der Vorrede, los geht’s mit zwei Empfehlungen von mir (ein Roman über – ja, ihr lest richtig – Kühe und eine Reihe toller unabhängiger Zines, die ich in letzter Zeit für mich entdeckt habe), bevor ich die Bühne frei mache für die großartige Sharon Dodua Otoo, deren beeindruckender erster Roman Adas Raum heute erscheint und die mir freundlicherweise und sehr ausführlich ein paar der Fragen beantwortet hat, die mir nach der Lektüre ihres großartigen Buchs unter den Nägeln brannten:
Ich hätte ja selbst nicht erwartet, dass ausgerechnet ein Roman über das Schlachten von Rindern und die britische BSE-Krise der 90er Jahre zu einem meiner Monatshighlights werden würde, but here we go…
Ich weiß gar nicht mehr genau, wo und wie ich vor ein paar Wochen auf den Roman der irischen Autorin Ruth Gilligan aufmerksam geworden bin, aber es war auf jeden Fall das Coverdesign der US-amerikanischen Ausgabe von The Butchers‘ Blessing, das mich sofort angezogen hat. Umso größer dann (da hatte ich schon entschieden, das Buch zu lesen) meine Enttäuschung, als ich feststellen musste, dass ich hier in Deutschland erstmal nur an die britische Originalausgabe herankommen konnte, die nicht nur einen langweiligeren Titel trägt (The Butchers), sondern deren Cover mich in hundert Jahren nicht dazu bewegt hätte, in einer Buchhandlung danach zu greifen:
Schon faszinierend, wie unterschiedlich ein und dasselbe Buch vermarktet werden und so komplett unterschiedliche Zielgruppen ansprechen kann. (Oder was meint Ihr? Welche Variante hätte Euch eher angesprochen, wenn Ihr sonst nichts über das Buch wüsstet?) Anyway, zurück zur BSE-Krise…
Gilligans Roman spielt, wie gesagt, hauptsächlich Mitte der 90er Jahre im ländlichen Irland, und zwar in einem Irland, in dem die wenigen verbliebenen Anhänger*innen eines alten Volksglaubens beim Schlachten ihrer Kühe ein bestimmtes (fiktives) Ritual zelebrieren: vor hunderten von Jahren hat nämlich eine Witwe, die ihren Mann und ihre sieben Söhne im Krieg verloren hatte, einen Fluch über das Land verhängt:
And since the war had claimed all eight of her men
She decreed, henceforth, no man could slaughter alone;
Instead, seven others had to be by his side
To stop the memory of her grief from dying too.
Im Klartext bedeutet das: beim Schlachten einer Kuh müssen immer insgesamt acht Männer anwesend sein, sonst bringt es Unglück. Aufgrund dieser alten folkloristischen Tradition hat sich daher im Irland des Romans im Laufe der Jahrhunderte die Gruppe der sog. "Butchers" gebildet, acht Männer unterschiedlichen Alters, die Jahr für Jahr monatelang gemeinsam durch das ganze Land ziehen, um den Farmern ihre Dienste beim rituellen Schlachten anzubieten. Doch im 20. Jahrhundert haben sich die Regeln der irischen Fleischindustrie geändert, es gibt immer weniger kleine, private Farmen und dadurch immer weniger Anhänger*innen des alten Glaubens. Trotzdem ziehen auch 1996 zur Zeit der Romanhandlung die Butchers noch wie gewohnt durchs Land, auch wenn sie längst nicht mehr überall gern gesehen werden. Die sich immer drastischer zuspitzende BSE-Krise, die im benachbarten England tobt und auch den irischen Fleischmarkt mehr und mehr bedroht, trägt ihr übriges dazu bei, dass den acht Männern auf ihrer Route mit immer größerem Misstrauen begegnet wird, bis es schließlich zur Katastrophe kommt…
Der Roman folgt vier verschiedenen Figuren, je einem Mutter-Tochter- und einem Vater-Sohn-Gespann, die alle auf unterschiedliche Weise mit den Butchers und ihren Ritualen verbunden sind und sich alle in einem Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, zwischen von außen aufgedrängten gesellschaftlichen Rollenvorstellungen und individueller Emanzipation befinden. Es geht um Geschlechterrollen und -verhältnisse, um Care-Arbeit, Alkoholismus und häusliche Gewalt, um zerrüttete Familienverhältnisse und vorsichtige Wiederannäherungen, um das Erkunden der eigenen Sexualität in einem Land, das zutiefst vom Katholizismus geprägt ist und in dem sowohl Scheidungen als auch Homosexualität erst wenige Jahre vor Beginn der Romanhandlung legalisiert bzw. dekriminalisiert wurden. Ich habe mir dieses Buch gekauft, weil ich einen ungewöhnlichen Thriller mit Folk-Horror-Elementen erwartet habe, und dann hat es mich vollkommen aus den Socken gehauen, denn dieses Buch ist so viel mehr! Große Leseempfehlung!
Müssen es denn immer nur Bücher sein? Das kommt vielleicht überraschend aus meinem Mund, aber: nein! Im Laufe des letzten Jahres habe ich auch mit großer Begeisterung die Welt der Indie-Zines für mich entdeckt und dabei einige großartige Projekte kennengelernt, die ich für sehr spannend und unterstützenswert halte und euch deshalb nicht vorenthalten möchte:
Ich bin grundsätzlich ein großer Fan vom Genre des Folk Horror und liebe z.B. Filme wie den Kultklassiker The Wicker Man (1973) oder, neueren Datums, Midsommar (2019). Umso größer war meine Begeisterung, als ich Ende letzten Jahres das ungemein liebevoll gestaltete Folk Horror Zine Hellebore auf Twitter entdeckt habe:
HELLEBORE is a collection of writings and essays devoted to British folk horror and the themes that inspire it: folklore, myth, history, archaeology, psychogeography, witches, and the occult.
Das von Maria J Pérez Cuervo herausgegebene Zine lebt neben den faszinierenden Essays, Artikeln und Interviews vor allem auch von seiner aufwendigen Gestaltung, (jedes Heft ist durchgehend illustriert) für die Nathaniel Hébert verantwortlich ist. Außerdem hat es sich eine dezidiert antifaschistische Einstellung auf die Fahnen geschrieben, was bei allem rund um das Thema Folklore ja leider nicht unbedingt eine übliche Haltung ist und deshalb gar nicht oft genug betont werden kann.
Inzwischen sind vier Ausgaben von Hellebore erschienen. Ein absolutes Muss für alle Fans von Hexerei, Grusel und Okkultem.
Um Myth & Magic geht es auch in CUSP, einer Sammlung von feministischen Texten rund um die Themen Körper, Mythen und Magie, die kürzlich vom Ache Magazine herausgegeben wurde. Der Band enthält Kurzgeschichten, Gedichte und Essays unterschiedlichster Autorinnen, die sich alle irgendwie mit Körpern, Krankheit und Schmerz befassen, viele davon aus einer surrealen oder übernatürlichen Perspektive. Bei CUSP handelt es sich um eine Sonderausgabe des Magazins, von dem bisher außerdem auch zwei reguläre Ausgaben erschienen sind:
We are Ache, a feminist magazine by self-identifying women exploring illness, health, bodies and pain through fiction, poetry, essays and art.
Aber nicht nur die Brit*innen können tolle Indie Zines. Eine meiner liebsten Literaturzeitschriften im deutschsprachigen Raum ist mischen, die u.a. von Julia Knaß herausgegeben wird. (Julia ist übrigens meiner Meinung nach momentan eine der aufregendsten und innovativsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, aber das nur am Rande.)
Alle Hefte werden mühsam in Handarbeit per Riso-Druck-Verfahren hergestellt und anschließend, viele blutige Finger als Opfer fordernd, auch von Hand zusammengenäht. Was Euch inhaltlich erwartet, könnte ich gar nicht schöner sagen als die Heruasgeberinnen selbst:
UNSTREITIG IST
der Vorwurf der Beliebigkeit, keinem Ziel, keiner Orientierung und keiner Beschränkung zu unterliegen. Doch unstreitig ist auch: Mischen ermöglicht neue Formen und löst Bestehendes (ineinander) auf, randomisiert scheinbar Eindeutiges und sucht nach Zwischenräumen. In diesen bewegen sich die versammelten Texte, rütteln auf, mixen, setzen zusammen und zersetzen.
Wir wollen ein Gemenge, wir wollen neue Stoffe, wir wollen alte Stoffe erneuern, wir werden
MISCHEN
Und zu guter Letzt möchte ich euch noch ein tolles neue(re)s Magazin aus dem Bereich der Phantastik vorstellen, nämlich Queer*Welten, das den Fokus auf „queerfeministische Science-Fiction und Fantasy“ legt. Veröffentlicht werden darin alle drei Monate Kurzgeschichten, Debattenbeiträge und (queere) Neuigkeiten aus der Science-Fiction und Fantasy Literatur und das ist genau das Richtige für Leute wie mich, die sich bisher wenig mit deutschsprachiger Phantastik befasst haben, weil ihnen der Mainstream in diesem Genre bisher so langweilig, eintönig und konservativ vorkam. Queer*Welten zeigt, dass es durchaus auch anders geht.
Einer der tollsten Aspekte meiner Arbeit im Ocelot ist die Tatsache, dass ich dort in den letzten Jahren (in etwas über zwei Wochen habe ich schon mein dreijähriges Oceläum!) so viele tolle Schriftsteller*innen persönlich kennenlernen durfte. So auch die großartige britische Autorin (und politische Aktivistin) Sharon Dodua Otoo, deren Arbeit ich fasziniert verfolge, seit sie 2016 mit ihrer Erzählung „Herr Gröttrup setzt sich hin“, ihrem ersten auf Deutsch verfassten literarischen Text, den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hat. Vor einigen Jahren sind zwei (auf Englisch verfasste) Novellen von ihr in deutscher Übersetzung von Mirjam Nuenning erschienen und 2020 beeindruckte sie mit ihrer Eröffnungsrede der Klagenfurter Tage der deutschsprachigen Literatur das Publikum:
Heute erscheint nun endlich ihr erster Roman Adas Raum, den ich Euch nur allerwärmstens ans Herz legen kann.
Ada ist nicht eine, sondern viele Frauen: In Schleifen bewegt sie sich von Ghana nach England, um schließlich in Berlin zu landen. Sie ist aber auch alle Frauen, denn die Schleifen transportieren sie von einem Jahrhundert zum nächsten. So erlebt sie das Elend, aber auch das Glück, Frau zu sein, sie ist Opfer, leistet Widerstand und kämpft für ihre Unabhängigkeit.
Mit einer bildreichen Sprache und unendlicher Imagination, mit Empathie und Humor zeichnet Sharon Dodua Otoo in ihrem Roman »Adas Raum« ein überraschendes Bild davon, was es bedeutet, Frau zu sein.
Zu diesem freudigen Anlass habe ich Sharon gebeten, ein paar Fragen für mich und Euch zu beantworten:
Sharon, deine ersten beiden Bücher hattest du ja auf Englisch, deiner Erstsprache, verfasst. Wie war es nun für Dich, einen ganzen Roman auf Deutsch zu schreiben?
Nicht schön. [lacht] Es war sehr schwer. Das hat mit vielen Dingen zu tun. Erstmal mit einer grundsätzlichen Unsicherheit, wenn ich auf Deutsch schreibe, die wahrscheinlich nie weggehen wird. Ich glaube, mein Sprachgefühl ist an sich eigentlich ganz gut, aber es wird immer ein letzter Schliff fehlen. Ich bin nicht auf Deutsch sozialisiert worden, deswegen haben Begriffe für mich eine ganz andere Schwere als auf Englisch. Wenn ich etwas schreibe, denke ich manchmal, es bedeutet eine Sache, und erst, wenn die Menschen es dann lesen, merke ich: es bedeutet eigentlich etwas ganz anderes. Das ist ungünstig.
Dann kommt noch hinzu, dass in den 4,5 Jahren, die ich jetzt an dem Roman geschrieben habe, sehr viel passiert ist, emotional, persönlich und auch gesundheitlich hatte ich meine Herausforderungen. Es war physisch sehr sehr schwer, diesen Roman zu schreiben. Einen Roman, auf den außerdem sehr, sehr viele Leute gewartet haben. Es gab hohe Erwartungen, oder zumindest ich hatte hohe Erwartungen an diesen Roman gestellt, ich hatte eine Wunschvorstellung, wie er werden soll, und versucht, diese Vorstellung so gut wie möglich umzusetzen.
Zu guter Letzt bin ich einfach sehr, sehr ungeduldig. Ich schreibe gerne kurze Sachen, zu denen ich sehr schnell eine Rückmeldung bekomme. Bei einem Roman ist dieser Prozess sehr in die Länge gezogen. Ich schreibe irgendwie vor mich hin, week in, week out, über Monate, über JAHRE - ich schreibe daran, seit mein jüngster Sohn vier Jahre alt war, und der ist jetzt fast neun! Sein halbes Leben! Musiker*innen oder Schauspieler*innen, die auf der Bühne stehen, bekommen direkt ein Feedback, aus dem sie die Energie gewinnen, weiterzumachen, und das ist so ein magischer Prozess, diese direkte Interaktion mit dem Publikum. Das ist beim Romanschreiben ein ganz anderer Prozess, eine ganz andere Art der Kommunikation, und das ist mir sehr sehr schwer gefallen. Es wird sich zeigen, wie gut das funktioniert hat.
Wie sah dein Schreibprozess aus? Was waren dabei besondere Herausforderungen für dich?
Die größte Herausforderung war es, die Kinderbetreuung zu managen. Ich lebe momentan mit drei meiner vier Kinder zusammen, die alle ganz unterschiedliche Herausforderungen mit sich bringen. Also das läuft nicht immer alles harmonisch. Selbst, wenn sie schon "erwachsen" sind, sind sie immer noch meine Kinder und brauchen immer noch Unterstützung, vor allem, wenn andere Sachen, Diskriminierungsformen zum Beispiel, dazu kommen. Da bin ich einfach sehr gefordert. In der Zeit, als ich an dem Roman gearbeitet habe, gab es auch Probleme in der Kita von meinem jüngsten Sohn, dann bin ich dort dem Vorstand beigetreten - was ich eigentlich nicht vorhatte, ich wollte ja schreiben - und das hat mich sehr viel Zeit gekostet. Fast ein Jahr, ehrlich gesagt.
Ich hatte auch finanzielle Schwierigkeiten, weil ich immer abgewogen habe, ob ich doch noch irgendeine andere Arbeit dazwischen schiebe - Lesungen, Artikel -, ich habe mir Geld geliehen, bin auf meinem Konto ins Minus gegangen, damit ich dieses Ding fertig kriege. Das war eine große Bürde.
Ich glaube aber, am schwierigsten ist, dass ich in einem Umfeld bin, wo ich im tagtäglichen Leben nicht so viel Austausch habe mit anderen Menschen, die auch schreiben, die auch an längeren Romanprojekten arbeiten. Das heißt, die Menschen um mich herum haben nicht so den Einblick, was es genau bedeutet, an so einem Werk zu arbeiten. Inzwischen würde ich sagen, zum Schreiben eines Romans gehört viel mehr dazu, als sich einfach an den Schreibtisch zu setzen und die Finger über die Tastatur zu bewegen. Es nimmt einen gänzlich ein. Hätte ich das vorher gewusst, wäre ich vielleicht entspannter an die Sache herangegangen. Ich hab mich immer unter Druck gesetzt, dass ich mich jetzt endlich hinsetzen und etwas schreiben muss, mindestens eine Seite pro Tag, ich hab's wirklich versucht. Aber die eigentliche Herausforderung ist, das richtig gut ins eigene Leben zu integrieren. Das heißt, während ich daran schreibe, ist das halt ein Teil von mir, dieser Roman, er bestimmt meinen Alltag und begleitet mich bei allen möglichen Sachen, und alles ist eine Möglichkeit, mich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. 4,5 Jahre lang war ich im Prozess, Adas Raum zu schreiben, auch als ich geschlafen, gekocht, geduscht habe. Es war ein ständiges Abwägen - wenn ich eingeladen war auf eine Geburtstagsparty z.B., musste ich überlegen: Geh ich da hin und dann fehlt mir wieder ein Abend am Schreibtisch? Mache ich eine Pause? Ich glaube, es ist ein Lebensgefühl, einen Roman zu schreiben.
Hättest du diesen Roman auch auf Englisch schreiben können?
Nein. Das wäre eine ganz andere Geschichte geworden. Ich glaube, ich kann es vielleicht mit Kochen vergleichen. Wenn ich ein Gericht mit Hackfleisch machen möchte, dann macht es einen Unterschied, welche Zutaten ich bereitstehen habe. Je nachdem, welche Zutaten ich zur Verfügung habe, kann ich Spaghetti Bolognese machen oder ein Moussaka. Irgendwie geht es zwar bei beiden um Hackfleisch, aber es wird jeweils etwas anderes - ich habe andere Vokabeln, andere Bilder auf Englisch zur Verfügung als auf Deutsch. Deshalb habe ich auch einen großen Respekt für Menschen, die übersetzen, weil es nicht einfach nur darum geht, eine Vokabel nachzuschlagen und dann einfach in einen Text einzubauen. Es geht darum, ein gewisses Gefühl rüberzubringen, ähnliche Bilder zu schaffen. Das ist auch der Grund, warum ich meinen eigenen Text nicht selbst übersetzen möchte, denn das würde ja bedeuten, dass ich das neu interpretiere. Ich habe eine Mitteilung geschrieben an Personen, die Deutsch lesen können, wenn ich das jetzt auch nochmal neu interpretieren würde für Leute, die Englisch sprechen, dann passiert etwas mit dem Original, und das will ich nicht, das ist nicht meine Aufgabe. So empfinde ich das zumindest und bin dankbar, dass es andere Leute gibt, die sich dieser Sache widmen.
Deine Erzählung Herr Gröttrup setzt sich hin, die in gewisser Hinsicht der Vorläufer zu deinem Roman ist, hat eine sehr ungewöhnliche Erzählperspektive aus der Sicht von einem Frühstücksei, das sich weigert, hart zu werden. Wie bist du damals auf die Idee zu dieser Geschichte gekommen?
Ich wollte etwas über kritisches Weißsein schreiben und ich wusste, dass dieses Privilegiertsein, Privilegien haben, etwas mit einem macht, besonders, wenn man sich nicht bewusst ist, dass man privilegiert ist. Das führt zu einer gewissen Ahnungslosigkeit - hm, das ist ein hartes Wort, aber ich meine das, wenn es irgendwie geht, wertschätzend! Ich spreche oft von dem Beispiel, dass ich selber nicht im Rollstuhl sitze. Deshalb muss ich, wenn ich z.B. eine Anfrage für eine Lesung bekomme, nicht großartig darüber nachdenken, wie ich da hinkomme oder ob der Ort überhaupt rollstuhltauglich ist, ob das Hotel rollstuhltauglich ist, ob ich Unterstützung brauche, in den Zug ein- und auszusteigen. I don't need to think about that! Und deswegen muss ich eine extra Schleife in meinem Kopf drehen, um das wirklich mitzudenken. Es sind Sachen, mit denen Menschen sich selten auseinandersetzen, wenn sie selber nicht betroffen sind. Und dieses Gefühl vom Sich-durch-die-Welt-Bewegen und sich keine Gedanken darüber machen zu müssen, auf welche Toilette mensch geht z.B. - viele trans Personen haben es nicht so leicht, einfach auf das Klo zu gehen, wo sie sich wohlfühlen würden - dieses Gefühl wollte ich beschreiben mit dem Text. Und ich habe lange überlegt, wie kommt es zu dieser Erschütterung? Also es gibt in der Geschichte einen weißen, deutschen cis Mann, der jeden Morgen pünktlich sein perfektes Frühstücksei bekommt, und irgendwie kommt es zu einer Erschütterung in seinem Selbstverständnis. Und ich habe ein paar Nächte darüber geschlafen, weil ich am Anfang dachte, vielleicht ist es seine Frau, die irgendwas mit dem Ei angestellt hat, aber irgendwann ist es mir klar geworden: es muss das Ei selbst sein! Es muss etwas ganz Unerwartetes sein, es ist eine Herausforderung an die Lesenden, zu schauen: was machen die jetzt damit?
Und wie kamst du dann dazu, diese Geschichte zu einem Roman auszubauen?
Ich wusste, ich wollte über Ada schreiben, und ich wusste, es würde mehrere Adas geben, ich wusste, ich wollte zeigen, warum die Ada in der Kurzgeschichte [Anmerkung: Ada ist auch der Name der Putzfrau in Herr Gröttrup setzt sich hin] so viel Ahnung hat von dem, was passiert. Und ich wusste auch, dass ich mit drei Ländern arbeiten wollte, für meinen ersten Roman wollte ich irgendwie diese drei Länder verbinden: Ghana, wo meine Eltern herkommen, England, wo ich herkomme, und Deutschland, wo meine Kinder herkommen. Deswegen ist die Struktur des Romans eigentlich relativ schnell entstanden.
Welche der Adas war für dich zuerst da?
Die Putzfrau aus der Kurzgeschichte natürlich, aber abgesehen davon hab ich tatsächlich sehr früh die erste Szene des Romans geschrieben, also das, was 1459 an einem Küstenort in Ghana stattfindet. Das war glaube ich die erste Ada.
Eine deiner Adas ist sehr stark von einer echten historischen Persönlichkeit inspiriert, nämlich von der englischen Mathematikerin und Programmiererin Ada Lovelace. Wie kamst du auf die Idee, sie als Figur in deinem Roman zu verwenden?
Ich habe sehr früh gewusst, dass ich gerne über Ada Lovelace schreiben möchte - eigentlich nur wegen dem Namen! Also der war die erste Inspiration. Und ohne viel über sie zu wissen, schien mir, dass die Art, wie die Lebensläufe von Frauen aus der Vergangenheit behandelt werden, also was wir überhaupt über Frauen erfahren oder was nachhaltig bis zu uns durchdringt, sehr limitiert ist. Wir lernen sehr viel aus einer männlichen Perspektive, es geht immer um "den Größten" und "den Ersten" und "Stärksten" usw., und mich hat es interessiert, eine Geschichte zu erzählen, wo die Dinge, die vielleicht für einzelne Menschen wichtig waren, mehr in den Vordergrund rücken. Wir werfen also in dem Roman einen ziemlich genauen Blick auf Ada Lovelace, das ist alles mehr oder weniger erfunden, ich hab einfach versucht mir vorzustellen, wie es ihr gegangen ist als mathematisches Genie in einer Zeit, in der sie nicht mal alleine zur Bibliothek gehen konnte, sondern ihren Mann schicken musste. Das fand ich sehr schräg. Und dann hat mich interessiert, wie das wirklich ist in einer Beziehung mit den Männern, also die tagtäglichen Interaktionen, nicht das, was bei uns durch die historische Überlieferung angekommen ist. Die Affäre mit Charles Dickens habe ich frei erfunden. Wobei die beiden sich gekannt haben, Ada hatte auf jeden Fall Affären, Charles Dickens hatte auch auf jeden Fall Affären, also wäre es nicht völlig abwegig, zu denken, dass die beiden vielleicht etwas miteinander hatten, ich habe nur eben kein Indiz dafür. Und das hat mich auch interessiert, also diese Geschichten, die nicht ans Tageslicht gelangen. Es hat mich außerdem interessiert, so eine Mann-Frau-Beziehung zu zeigen, wo er den künstlerischen, empfindlichen Part übernimmt und Ada diesen wissenschaftlichen, eher kalten, emotionsarmen Part.
Dein Roman spielt auf verschiedenen Zeitebenen in verschiedenen Gegenden der Welt und behandelt verschiedene historische Sachverhalte. Wie hast du dafür recherchiert?
Mir ging es um Gefühle und Emotionen und diese Zusammenhänge zwischen dem Großen, was in der Welt passiert, und diesen kleinen Momenten der Interaktion zwischen Menschen. Ich hatte irgendwann ein Bild vor Augen: als die ersten Europäer [in Ghana] ankamen, wie haben die überhaupt kommuniziert mit den Menschen vor Ort? Und das war eine Frage, die ich mir immer wieder und in unterschiedlichen Kontexten gestellt habe. Als ich in Ghana war - ich glaube es war 2018 -, eigentlich um meine Familie zum ersten Mal seit 15 Jahren wieder zu besuchen, habe ich das mit einer Recherchereise kombiniert, ich habe dort sehr viele Gespräche geführt, auch mit Archäologen, wie das damals war mit dem Gold, was die Portugiesen wohl da gesucht und gefunden haben, und diese Recherche hat mir großen Spaß gemacht. Ich habe auch Konzepte von Diesseits und Jenseits recherchiert und habe versucht, eine Verbindung zu suchen in den verschiedenen Konzeptionen von Gott, also was Gott ist oder was Gott sein könnte. Das hat auch viele Gespräche erfordert. Ich habe insgesamt natürlich auch viel im Internet recherchiert, aber es ging mir vordergründig nicht um Fakten - manchmal habe ich Sachen beschrieben, die faktisch stimmig waren, aber trotzdem unglaublich wirkten in der Erzählung, weil sie so mit einem bestimmten Verständnis von Geschichte gebrochen haben. Und meine Aufgabe als Schriftstellerin ist es, glaube ich, genau das dann logisch zu machen, damit die Menschen in der Geschichte bleiben - es muss emotional nachvollziehbar sein, was in meiner Geschichte passiert. Es ist OK für mich, wenn die Menschen glauben, dass das Fantasie ist, aber es soll nicht unglaubhaft wirken in der Erzählweise.
Welcher Teil des Romans hat dir beim Schreiben am meisten Spaß gemacht?
Die Beziehung zwischen Gott und "Wesen", also das Wesen, das geboren werden möchte, das zu schreiben hat mir am meisten Spaß gemacht. Und tatsächlich ist davon viel rausgeschnitten worden, weil diese Teile irgendwann zu crazy waren. [lacht] Ich glaube, je nachdem who you ask, manche Leute konnten viel damit anfangen und sind traurig, dass ich soviel davon rausgeschnitten habe, und andere Leute waren total "not amused". Es ist jetzt ein Kompromiss geworden in der Endfassung.
Und welcher Teil war am schwierigsten für dich?
Da gab es zwei Stellen, wo es um sexualisierte Gewalt geht. Das ging mir sehr nah beim Schreiben, weil ich versucht habe, mich emotional in diese Lage zu versetzen, um diese Emotion festzuhalten und das zu Papier zu bringen. Das hat sehr, sehr viel Kraft gekostet. Und jedesmal, wenn ich so eine Szene geschrieben habe, habe ich mir gedacht "OK, das hat wohl funktioniert", weil es mir so schlecht ging danach.
Warum spricht Gott bei dir Berlinerisch?
Ich verbinde mit Berlinerisch eine schöne Sache. Die Menschen, die ich kenne, die Berlinern, finde ich toll - ausnahmslos! [lacht] Das ist mir irgendwie einfach so gekommen als Stimme, als ich eine Szene geschrieben habe. Gott berlinert nicht nur, aber halt auch. Und irgendwann ist es mir dann zu Ohren gekommen, dass dieses Berlinern nicht so hoch angesehen wird - das hab ich jetzt nett ausgedrückt. Und das fand ich sehr krass. Ich habe darüber nachgedacht, wie das ist mit Sprache und Dialekten und warum manche irgendwie automatisch als schöner, intellektueller oder so gelten und andere nicht so. Und das funktioniert in vielen Sprachen, nicht nur im Deutschen natürlich. Ich wollte einfach so eine gewisse Regionalität herstellen. Und als ich dann erfahren habe, dass Berlinerisch so negativ behaftet ist, zumindest in manchen Kreisen, und mir nahegelegt wurde, das nicht so zu verwenden, hab ich gedacht: "Nö, jetzt machen wir das erst recht!" Und es ist nicht nur Gott. Es gibt auch einen Teil, da kommt eine Gebärmutter vor, und die berlinert auch. Das Leben Spendende. I don't know, ich fand das cool. Das ist das, was ich emotional damit verbunden habe.
Eine letzte Frage noch zum Schluss: welche*r Autor*in oder welches Buch hat dich bei deiner Arbeit als Schriftstellerin besonders inspiriert?
Ich erzähle das immer wieder: ich bin sehr inspiriert von Toni Morrison. In meiner Wahrnehmung war sie die erste Autor*in, die ich gelesen habe, die sich Themen, die total tabu sind, gewidmet hat und Sachen ganz genau angeschaut hat und ganz genau versucht hat, diese Emotionen auf Papier zu bringen, auf eine unglaublich schöne Art und Weise. In dem Buch Beloved [deutsch: Menschenkind, Ü: Helga Pfetsch, Thomas Piltz] gibt es eine Stelle, wo der Rücken einer Frau, einer ehemals versklavten Person, beschrieben wird. Und Morrison spricht davon, dass diese Frau einen Baum auf ihrem Rücken trägt, mit Knospen, und dieses Bild, dass der Rücken, dass die Haut auf dem Rücken so massiv verletzt und vernarbt ist, dass es aussieht wie ein Baum, - und dann beschreibt sie diese Knospen, diese Blüten - ich war irgendwie sprachlos! Und dann hab ich irgendwann gedacht: ja, sowas möchte ich auch können.
Vielen Dank, Sharon, dass Du Dir die Zeit für dieses Interview genommen hast. Ich wünsche Dir alles Gute für diese aufregende Zeit!
Die Buchpremiere mit Sharon Dodua Otoo zu Adas Raum findet heute Abend um 20 Uhr im Livestream des Literaturforums im Brechthaus statt, moderiert von Maisha-Maureen Auma und mit musikalischer Begleitung durch 3Women (es wird auch einen Gebärdensprachendolmetscher geben).
Über meine eigene Meinung zum Roman werde ich nächsten Sonntag ausführlich mit Simon Sahner von 54books bei unserem monatlichen Büchertalk "Neues aus dem Regal" auf Instagram sprechen.
Puh, das ist diesmal doch ein ziemlich langer Newsletter geworden. Nächstes Mal wieder etwas kompakter, versprochen!
Über Feedback, Wünsche, Vorschläge etc. freue ich mich immer. Auch Fragen nach individuellen Buchempfehlungen könnt ihr mir gerne stellen, die werde ich dann jeweils (nach Lust und Laune und Energie) im nächsten Newsletter gesammelt (anonymisiert) beantworten, damit alle etwas davon haben.
Den nächsten Newsletter werde ich wieder an einem Mittwoch verschicken, vermutlich in zwei Wochen, je nach Lust und Laune. Bis dahin findet ihr mich auf Twitter.
Sollte diese Ausgabe nicht in eurem Postfach auftauchen, dann checkt euren Spam-Ordner und fügt ggf. diese Mailadresse eurem Adressbuch hinzu. Grundsätzlich könnt ihr alle alten Ausgaben des Newsletters auch jederzeit im Archiv auf der Substack-Seite nachlesen.
Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda