Ich bin erst seit gestern erst diesem Abschnitt fertig und habe gerade all eure klugen Kommentare gelesen. Der Austausch in der Gruppe ist so eine tolle Ergänzung zur Lektüre, dass ich schnell mit dem nächsten Abschnitt weitermache, um am Sonntag wieder mitdiskutieren zu können.
Seit gestern Abend habe ich es geschafft, die Etappe zu Ende zu lesen. Was hat mir gut gefallen? Ach, ich kann es nicht verhehlen, ich war so froh und erleichtert, dass Nordeule den Absprung aus der Kondorwelt geschafft hat. Respekt nötigte mir die Haltung ihres Vaters ab, der sie dabei unterstützt hat und den Start dieser Flucht auf gewisse Weise behütet hat. Für mich ist eine Erklärung , dass sich Nordeule durchgerungen hat, zu fliehen, sicherlich die Mutterschaft. Ich glaube, das Mutter werden verleiht manchmal Flügel. Seinem Kind möchte man die beste aller Welten ermöglichen - das ist immer relativ; ist mir klar. Als ich zum ersten Mal vor vielen vielen Jahren Mutter wurde, wurde mir bewusst, dass ich von diesem Moment an nicht einfach nur für mich durch das Leben gehe, sondern jetzt den Rücken richtig gerade machen muss, um für mein Kind und damit auch andere Kinder gute Lebensbedingung in der Gesellschaft zu erstreiten. Ich gebe zu, wenn ich so die Welt, das Land anschaue, gibt es noch einige Mängel zu beheben. Vom Ziel der Chancengleichheit sind wir noch etwas entfernt. Egal: Nordeule hat es geschafft, sie ist in ihrem Zuhause, dem Tal angekommen. Berührt hat mich, dass Esiryu aus der Kondorwelt Nordeule und das Kind begleitet hat und sie im Tal ihr Glück findet -zumindest empfinde ich es so.
Verrückt finde ich beim Lesen, wenn so Stellen kommen wie auf S.471 "Die meisten Nachrichten und Mitteilungen, die in der Börse von Wakwaha eingingen, wurden etwas 24 Stunden lang im Kurzzeitspeicher gehalten und dann automatisch gelöscht...." Für mich sind es Bezüge zur heutigen Kommunikation und Speicherung von Daten im Netz - es war aber 1984...
Nun bin ich gespannt, wie ich mit der kommenden Leseetappe zurechtkommen werde.
Schicke dir alle guten Gedanken, Magda! Ich finde die relaxte Art des Lesekreises und Kommentierens wann man will/Zeit hat sowieso toll und warum sollte das nicht für alle gelten?
Der dritte Leseabschnitt hat mir gut gefallen.
Bisher war es für mich immer etwas abstrakt geblieben, wenn die Kesh von bspw. Steinen oder Sternen als Leuten gesprochen haben. Bei Tieren und Pflanzen konnte ich es nachvollziehen – es war zwar ungewohnt, aber irgendwie charmant und hat die Einbettung und Verschränkung des Menschen in die Welt und das Ökosystem gezeigt, sowie Gleichwertigkeit anderen Lebens. Daher mochte ich die explizite Beschreibung von Steinen als etwas Lebendiges, wodurch ich besser verstanden habe, warum die Kesh auch Dinge, die wir nicht als Lebewesen bezeichnen würden, Leute genannt haben. „Allgemein leben die Gesteine nicht auf dieselbe Art oder in derselben Geschwindigkeit wie wir“ (386).
Von den Sprichwörtern mochte ich dieses besonders: „*Gleich* und *anders* sind nährende Worte, sie brüten das Ei aus. *Besser* und *schlechter* sind zehrende Worte, sie lassen nur die Schale übrig.“ (390)
Besonders interessant fand ich das Gespräch von Pandora und der Archivarin. Zum einen die Thematik des Bücherhortens. Da haben viele von uns sicher auch eigene Erfahrungen und Meinungen zu. Zum anderen fand ich die zu Macht und Informationszugang aufgeworfenen Fragen sehr spannend. Würde am liebsten den ganzen Abschnitt auf S. 394f. hier zitieren, beschränke mich hier aber mal auf die Frage: „Wie lässt sich Information verwahren und zugleich davor bewahren, zum Eigentum der Mächtigen zu werden?“ (395). Was ich außerdem interessant fand, war das Thema der Utopie, wie Pandora über besserwisserische Utopisten sagt: „Leute, die alle Antworten haben, sind öde, Nichte.“ und wie die Archivarin antwortet: „Aber ich habe keine Antworten und dies ist keine Utopie, Tante.“ (395)
Worüber ich generell im Laufe des Buchs nachgedacht habe, ist die Wichtigkeit des Gebens bei den Kesh. Ich dachte beim Lesen häufig, dass ich großzügiger und selbstverständlicher geben will, so wie die Kesh es tun. Allerdings kam mir dann der Gedanke, dass das klassische Rollenbild von Frauen ist, die Gebenden zu sein. Der Rolle möchte ich nicht entsprechen, um nicht erschöpft und ohne Lohn dazustehen. Beim Nachdenken darüber, wie ich diese zwei Gefühle zusammenbringen kann, ist mir aufgefallen, dass im Text auch schon ein paar der Voraussetzungen für ein ‚gesundes‘ Geben enthalten sind. Es ist einfacher zu geben, wenn man weiß, dass es eine gegenseitige Sache ist und andere Leute einem Dinge und Gastfreundschaft schenken werden, wenn man sie braucht. In Erzählsteins Geschichte wird auch eine schlechte Art des Gebens/Schenkens beschrieben: „Für Abhao war Weide aus Sinshan ein Traum gewesen […]. Für Weide war der Kondor Abhao die ganze Welt gewesen […]. So hatten sie ihre große Leidenschaft und Treue nicht wirklich einander geschenkt, sondern Leuten, die es nicht gab, einer Traumfrau, einem Gottmann, und sie waren vergeudet, Geschenke an niemanden.“ (462)
Dieser Teil über die Archivarin und Pandora hat mich ebenfalls fasziniert. Ich habe mir sogar eine Ecke auf der Seite 395 umgefaltet: "Es ist bloß ein Traum, ..., ein "Leck mich" von einer Hausfrau mittleren Alters an all jene, die Schneemobile fahren, Atomwaffen bauen und Gefangenenlager betreiben..." Auch dieses philosophische Gespräch besitzt weiterhin Aktualität.
Die Ideen zum Geben und Nehmen finde ich auch sehr interessant - mir fällt dazu gerade ein, dass Erzählsteins Partner Erl das Heilen eine Weile lang aufgibt und auch wegzieht, weil die Leute seines Ortes ihm irgendwann zuviel schuldig waren. Das würde ja zu deinem Eindruck des gesunden Gebens passen..
Aber irgendwie ist die Philosophie da auch nochmal verdrehter, oder? Der Arzt ist dem Patienten etwas schuldig, wird als quasi-Vater betitelt, weil er ihn gerettet hat, also für sein Leben verantwortlich ist. Ich habe es so verstanden, dass Erl sich beinah verpflichtet fühlte zurückzugehen, weil er durch seine Gaben so viele Beziehungen dort hatte. Ich habe keine Stellen parat, aber dieses Thema des Gebens ist mir auch aufgefallen und schien mir inkongruent zu unserem Verständnis.
Feb. 25·Feb. 26 bearbeitetGelikt von Magda Birkmann
Während des Lesens dieser Etappe sind mir einige Gedanken gekommen, die ich jetzt etwas unsortiert hier aufliste. Insgesamt stimme ich Esiryu zu, der Kondorfrau, die mit Erzählstein nach Sinshan kommt: „Es ist einfach, hier zu sein. In Sai war es hart … hier ist es weich.“ So geht es mir beim Lesen über das Leben der Kesh oft auch und ich denke immer darüber nach, woran das liegt:
Romantische Liebe: Ich habe den Eindruck, dass die Kesh eher unromantisch sind und Liebesbeziehungen und Partnerschaften nicht idealisieren oder priorisieren. In Erzählsteins Geschichte zeigt sich auch die leidenschaftliche Beziehung ihrer Eltern in keinem besonders guten Licht. Aber auch sonst bringen Beziehungen keinen Status oder sonstige Vorteile, Beziehungslosigkeit hat wiederum keine Nachteile. Es sind alles scheinbar sehr freiwillige Verbindungen… Lieblos geht es aber auch nicht zu: Erzählsteins Beziehung zu Erl fand ich wirklich sehr schön und berührend, es ist eine Liebe, die nach anfänglichen Unsicherheiten über längere Zeit wächst.
Umgang mit Wissen: Ich bin Bibliothekarin von Beruf und habe mich sehr über das kleine Kapitel „Pandora unterhält sich mit der Archivarin“ gefreut. Mir blieb der Satz hängen „Ein Buch ist eine Handlung … Es ist nicht Information, sondern Beziehung.“ Mir gefällt das Selbstverständnis der Archivarin, nicht fürs Bewahren auf ewig zuständig zu sein, ganz gut. Und der Abschnitt enthält auch meine liebste Stelle in dieser Etappe, auf Seite 395, es geht um die Utopie, die ja auch ‚Immer nach Hause‘ sein könnte: „Es ist bloß ein Traum, geträumt in schlimmen Zeiten, ein ‚Leck mich‘ von einer Hausfrau mittleren Alters an all jene, die Schneemobile fahren, Atomwaffen bauen und Gefangenenlager betreiben…“
Krieg und Geschlechterverhältnisse: LeGuin beschreibt das Kondorvolk als Kriegervolk - und im Land der Kesh gibt es auch eine Kriegerhütte. Die Männer verhalten sich hier wie dort abwertend gegenüber Frauen. Ein bisschen wie eine Ursprungserzählung des Sexismus, über die ich aber bisher noch nicht weiter nachgedacht habe.
Sehr schön finde ich auch das Gedicht auf Seite 504, es ist wie eine zuversichtliche Botschaft der Kesh an die Menschen hier und heute: „an eurem Ende, als die Feuer verglühten, … waren wir unter euch, eure Kinder … um in unsere Welt zu kommen.“
Zu Zeit kann ich mich angesichts diverser Krisen an solchen hoffnungsvollen Erzählungen enorm erfreuen.
Alles Gute und viel Kraft für Dich, Magda, es klingt als könnte Deine Familie sie gebrauchen. Ich habe mir im hinteren Teil des Buchs weniger konkrete Stellen eingemerkt, aber weiter interessiert die Spuren der alten Welt im Tal gesucht (die Bahn; eine Art Tauchsieder; irgendwo taucht eine Waschmaschine auf, die doch sehr handy kam, denn langsam habe ich mich schon gefragt wie diese recht gleichberechtigt beschriebene Gesellschaft am Laufen gehalten wird wenn *irgendjemand* ja die lästigen Aufgaben des Lebens erledigen muss). Ich habe mich für unsere Protagonistin und ihr Kind gefreut, dass sie wieder nach Hause gekommen sind. Die Beschreibung der Kondorwelt hat mich ziemlich deprimiert und irgendwie finde ich es schade, dass dieses patriarchale, kolonialistische und rassistische Volk das einzige andere ist, das wir kennenlernen dürfen. Klar hatte ich mich auch schon gefragt, ob dieses friedliche Zurück-zum-Einklang-mit-der-Natur die einzige oder wahrscheinlichste Entwicklung der Menschheit nach der Katastrophe ist. Die Kriegsbestrebungen des Kondors mit Hilfe von Waffenbauplänen aus der Stadt des Geistes beantworten diese Frage: Die Anlage zum Bösen liegt wahrscheinlich in der Natur des Menschen, und unter bestimmten Umständen tritt sie zutage. (Der Krieg gegen die Schweineleute wird im Nachhinein als "beschämend" und Erwachsenen unwürdig geframed (S. 171), Streitigkeiten werden sonst wie mehrfach beschrieben mit langen, teils ritualisierten Gesprächen verhandelt - nicht gewalttätig zu werden, ist also eine Frage der Kultur). Ein bisschen sind die beiden Welten, die die Protagonistin kennenlernt, zwei Seiten oder wieder eine Umkehrung derselben Utopie. Doch was sagt uns das? In welchem Verhältnis stehen sie zu unserer Welt? Gern hätte ich mehr über die Stadt des Geistes und andere Weltgegenden erfahren. Doch die Archäologin kann nur die Scherben an dem Ort untersuchen, an dem sie gräbt. Ob in der Vergangenheit oder der Zukunft.
Ich sollte definitiv nochmal diesen Teil lesen, in dem beschrieben wird, warum die „imperialen“ Bestrebungen der Kondorleute scheitern. Mir schien es etwas diffus, zum einen kam das Argument „Ressourcen für den Waffenbau fehlen“ und dann noch so etwas wie „nicht motiviert genug“, habe ich das richtig verstanden? Es wäre definitiv spannend zu verstehen, warum das Kriegführen in dieser Welt nicht erfolgreich ist. Evtl hat es auch etwas mit den übrigen Völkern zu tun. Ich habe mich sehr amüsiert zu lesen, wie sie sich zwar untereinander über die Kondore beschweren, aber darüber hinaus davon absehen, Allianzen zu bilden….
Die Völker nutzen die Börse um miteinander wegen den Kondorleuten zu reden. Ich habe bei der Beschreibung der Kurznachrichten, die nach einiger Zeit wieder gelöscht werden und den Diskussionen und Beschwerden wirklich starke Social-Media- und Insta-Story-Assoziationen! (S. 471)
Interessant finde ich in dem Zusammenhang, dass die Kondorleute die Börse nicht benutzen, weil es in ihrer Welt „Elitenwissen“ ist und nur einige wenige Zugriff haben. Ich stelle mir gerade vor, wie die Kondorleute die Diskussionen unterwandern und am Ende Fake News streuen…. Wie interessant wäre es gewesen, Le Guins Analyse zu lesen, hätte sie von den heutigen Verhältnissen gewusst!
Ich bin erst seit gestern erst diesem Abschnitt fertig und habe gerade all eure klugen Kommentare gelesen. Der Austausch in der Gruppe ist so eine tolle Ergänzung zur Lektüre, dass ich schnell mit dem nächsten Abschnitt weitermache, um am Sonntag wieder mitdiskutieren zu können.
Alles Gute für Dich, liebe Magda.
Seit gestern Abend habe ich es geschafft, die Etappe zu Ende zu lesen. Was hat mir gut gefallen? Ach, ich kann es nicht verhehlen, ich war so froh und erleichtert, dass Nordeule den Absprung aus der Kondorwelt geschafft hat. Respekt nötigte mir die Haltung ihres Vaters ab, der sie dabei unterstützt hat und den Start dieser Flucht auf gewisse Weise behütet hat. Für mich ist eine Erklärung , dass sich Nordeule durchgerungen hat, zu fliehen, sicherlich die Mutterschaft. Ich glaube, das Mutter werden verleiht manchmal Flügel. Seinem Kind möchte man die beste aller Welten ermöglichen - das ist immer relativ; ist mir klar. Als ich zum ersten Mal vor vielen vielen Jahren Mutter wurde, wurde mir bewusst, dass ich von diesem Moment an nicht einfach nur für mich durch das Leben gehe, sondern jetzt den Rücken richtig gerade machen muss, um für mein Kind und damit auch andere Kinder gute Lebensbedingung in der Gesellschaft zu erstreiten. Ich gebe zu, wenn ich so die Welt, das Land anschaue, gibt es noch einige Mängel zu beheben. Vom Ziel der Chancengleichheit sind wir noch etwas entfernt. Egal: Nordeule hat es geschafft, sie ist in ihrem Zuhause, dem Tal angekommen. Berührt hat mich, dass Esiryu aus der Kondorwelt Nordeule und das Kind begleitet hat und sie im Tal ihr Glück findet -zumindest empfinde ich es so.
Verrückt finde ich beim Lesen, wenn so Stellen kommen wie auf S.471 "Die meisten Nachrichten und Mitteilungen, die in der Börse von Wakwaha eingingen, wurden etwas 24 Stunden lang im Kurzzeitspeicher gehalten und dann automatisch gelöscht...." Für mich sind es Bezüge zur heutigen Kommunikation und Speicherung von Daten im Netz - es war aber 1984...
Nun bin ich gespannt, wie ich mit der kommenden Leseetappe zurechtkommen werde.
Schicke dir alle guten Gedanken, Magda! Ich finde die relaxte Art des Lesekreises und Kommentierens wann man will/Zeit hat sowieso toll und warum sollte das nicht für alle gelten?
Der dritte Leseabschnitt hat mir gut gefallen.
Bisher war es für mich immer etwas abstrakt geblieben, wenn die Kesh von bspw. Steinen oder Sternen als Leuten gesprochen haben. Bei Tieren und Pflanzen konnte ich es nachvollziehen – es war zwar ungewohnt, aber irgendwie charmant und hat die Einbettung und Verschränkung des Menschen in die Welt und das Ökosystem gezeigt, sowie Gleichwertigkeit anderen Lebens. Daher mochte ich die explizite Beschreibung von Steinen als etwas Lebendiges, wodurch ich besser verstanden habe, warum die Kesh auch Dinge, die wir nicht als Lebewesen bezeichnen würden, Leute genannt haben. „Allgemein leben die Gesteine nicht auf dieselbe Art oder in derselben Geschwindigkeit wie wir“ (386).
Von den Sprichwörtern mochte ich dieses besonders: „*Gleich* und *anders* sind nährende Worte, sie brüten das Ei aus. *Besser* und *schlechter* sind zehrende Worte, sie lassen nur die Schale übrig.“ (390)
Besonders interessant fand ich das Gespräch von Pandora und der Archivarin. Zum einen die Thematik des Bücherhortens. Da haben viele von uns sicher auch eigene Erfahrungen und Meinungen zu. Zum anderen fand ich die zu Macht und Informationszugang aufgeworfenen Fragen sehr spannend. Würde am liebsten den ganzen Abschnitt auf S. 394f. hier zitieren, beschränke mich hier aber mal auf die Frage: „Wie lässt sich Information verwahren und zugleich davor bewahren, zum Eigentum der Mächtigen zu werden?“ (395). Was ich außerdem interessant fand, war das Thema der Utopie, wie Pandora über besserwisserische Utopisten sagt: „Leute, die alle Antworten haben, sind öde, Nichte.“ und wie die Archivarin antwortet: „Aber ich habe keine Antworten und dies ist keine Utopie, Tante.“ (395)
Worüber ich generell im Laufe des Buchs nachgedacht habe, ist die Wichtigkeit des Gebens bei den Kesh. Ich dachte beim Lesen häufig, dass ich großzügiger und selbstverständlicher geben will, so wie die Kesh es tun. Allerdings kam mir dann der Gedanke, dass das klassische Rollenbild von Frauen ist, die Gebenden zu sein. Der Rolle möchte ich nicht entsprechen, um nicht erschöpft und ohne Lohn dazustehen. Beim Nachdenken darüber, wie ich diese zwei Gefühle zusammenbringen kann, ist mir aufgefallen, dass im Text auch schon ein paar der Voraussetzungen für ein ‚gesundes‘ Geben enthalten sind. Es ist einfacher zu geben, wenn man weiß, dass es eine gegenseitige Sache ist und andere Leute einem Dinge und Gastfreundschaft schenken werden, wenn man sie braucht. In Erzählsteins Geschichte wird auch eine schlechte Art des Gebens/Schenkens beschrieben: „Für Abhao war Weide aus Sinshan ein Traum gewesen […]. Für Weide war der Kondor Abhao die ganze Welt gewesen […]. So hatten sie ihre große Leidenschaft und Treue nicht wirklich einander geschenkt, sondern Leuten, die es nicht gab, einer Traumfrau, einem Gottmann, und sie waren vergeudet, Geschenke an niemanden.“ (462)
Dieser Teil über die Archivarin und Pandora hat mich ebenfalls fasziniert. Ich habe mir sogar eine Ecke auf der Seite 395 umgefaltet: "Es ist bloß ein Traum, ..., ein "Leck mich" von einer Hausfrau mittleren Alters an all jene, die Schneemobile fahren, Atomwaffen bauen und Gefangenenlager betreiben..." Auch dieses philosophische Gespräch besitzt weiterhin Aktualität.
Die Ideen zum Geben und Nehmen finde ich auch sehr interessant - mir fällt dazu gerade ein, dass Erzählsteins Partner Erl das Heilen eine Weile lang aufgibt und auch wegzieht, weil die Leute seines Ortes ihm irgendwann zuviel schuldig waren. Das würde ja zu deinem Eindruck des gesunden Gebens passen..
Aber irgendwie ist die Philosophie da auch nochmal verdrehter, oder? Der Arzt ist dem Patienten etwas schuldig, wird als quasi-Vater betitelt, weil er ihn gerettet hat, also für sein Leben verantwortlich ist. Ich habe es so verstanden, dass Erl sich beinah verpflichtet fühlte zurückzugehen, weil er durch seine Gaben so viele Beziehungen dort hatte. Ich habe keine Stellen parat, aber dieses Thema des Gebens ist mir auch aufgefallen und schien mir inkongruent zu unserem Verständnis.
Während des Lesens dieser Etappe sind mir einige Gedanken gekommen, die ich jetzt etwas unsortiert hier aufliste. Insgesamt stimme ich Esiryu zu, der Kondorfrau, die mit Erzählstein nach Sinshan kommt: „Es ist einfach, hier zu sein. In Sai war es hart … hier ist es weich.“ So geht es mir beim Lesen über das Leben der Kesh oft auch und ich denke immer darüber nach, woran das liegt:
Romantische Liebe: Ich habe den Eindruck, dass die Kesh eher unromantisch sind und Liebesbeziehungen und Partnerschaften nicht idealisieren oder priorisieren. In Erzählsteins Geschichte zeigt sich auch die leidenschaftliche Beziehung ihrer Eltern in keinem besonders guten Licht. Aber auch sonst bringen Beziehungen keinen Status oder sonstige Vorteile, Beziehungslosigkeit hat wiederum keine Nachteile. Es sind alles scheinbar sehr freiwillige Verbindungen… Lieblos geht es aber auch nicht zu: Erzählsteins Beziehung zu Erl fand ich wirklich sehr schön und berührend, es ist eine Liebe, die nach anfänglichen Unsicherheiten über längere Zeit wächst.
Umgang mit Wissen: Ich bin Bibliothekarin von Beruf und habe mich sehr über das kleine Kapitel „Pandora unterhält sich mit der Archivarin“ gefreut. Mir blieb der Satz hängen „Ein Buch ist eine Handlung … Es ist nicht Information, sondern Beziehung.“ Mir gefällt das Selbstverständnis der Archivarin, nicht fürs Bewahren auf ewig zuständig zu sein, ganz gut. Und der Abschnitt enthält auch meine liebste Stelle in dieser Etappe, auf Seite 395, es geht um die Utopie, die ja auch ‚Immer nach Hause‘ sein könnte: „Es ist bloß ein Traum, geträumt in schlimmen Zeiten, ein ‚Leck mich‘ von einer Hausfrau mittleren Alters an all jene, die Schneemobile fahren, Atomwaffen bauen und Gefangenenlager betreiben…“
Krieg und Geschlechterverhältnisse: LeGuin beschreibt das Kondorvolk als Kriegervolk - und im Land der Kesh gibt es auch eine Kriegerhütte. Die Männer verhalten sich hier wie dort abwertend gegenüber Frauen. Ein bisschen wie eine Ursprungserzählung des Sexismus, über die ich aber bisher noch nicht weiter nachgedacht habe.
Sehr schön finde ich auch das Gedicht auf Seite 504, es ist wie eine zuversichtliche Botschaft der Kesh an die Menschen hier und heute: „an eurem Ende, als die Feuer verglühten, … waren wir unter euch, eure Kinder … um in unsere Welt zu kommen.“
Zu Zeit kann ich mich angesichts diverser Krisen an solchen hoffnungsvollen Erzählungen enorm erfreuen.
Deine Gedanken kann ich sehr gut nachempfinden.
Alles Gute und viel Kraft für Dich, Magda, es klingt als könnte Deine Familie sie gebrauchen. Ich habe mir im hinteren Teil des Buchs weniger konkrete Stellen eingemerkt, aber weiter interessiert die Spuren der alten Welt im Tal gesucht (die Bahn; eine Art Tauchsieder; irgendwo taucht eine Waschmaschine auf, die doch sehr handy kam, denn langsam habe ich mich schon gefragt wie diese recht gleichberechtigt beschriebene Gesellschaft am Laufen gehalten wird wenn *irgendjemand* ja die lästigen Aufgaben des Lebens erledigen muss). Ich habe mich für unsere Protagonistin und ihr Kind gefreut, dass sie wieder nach Hause gekommen sind. Die Beschreibung der Kondorwelt hat mich ziemlich deprimiert und irgendwie finde ich es schade, dass dieses patriarchale, kolonialistische und rassistische Volk das einzige andere ist, das wir kennenlernen dürfen. Klar hatte ich mich auch schon gefragt, ob dieses friedliche Zurück-zum-Einklang-mit-der-Natur die einzige oder wahrscheinlichste Entwicklung der Menschheit nach der Katastrophe ist. Die Kriegsbestrebungen des Kondors mit Hilfe von Waffenbauplänen aus der Stadt des Geistes beantworten diese Frage: Die Anlage zum Bösen liegt wahrscheinlich in der Natur des Menschen, und unter bestimmten Umständen tritt sie zutage. (Der Krieg gegen die Schweineleute wird im Nachhinein als "beschämend" und Erwachsenen unwürdig geframed (S. 171), Streitigkeiten werden sonst wie mehrfach beschrieben mit langen, teils ritualisierten Gesprächen verhandelt - nicht gewalttätig zu werden, ist also eine Frage der Kultur). Ein bisschen sind die beiden Welten, die die Protagonistin kennenlernt, zwei Seiten oder wieder eine Umkehrung derselben Utopie. Doch was sagt uns das? In welchem Verhältnis stehen sie zu unserer Welt? Gern hätte ich mehr über die Stadt des Geistes und andere Weltgegenden erfahren. Doch die Archäologin kann nur die Scherben an dem Ort untersuchen, an dem sie gräbt. Ob in der Vergangenheit oder der Zukunft.
Ich sollte definitiv nochmal diesen Teil lesen, in dem beschrieben wird, warum die „imperialen“ Bestrebungen der Kondorleute scheitern. Mir schien es etwas diffus, zum einen kam das Argument „Ressourcen für den Waffenbau fehlen“ und dann noch so etwas wie „nicht motiviert genug“, habe ich das richtig verstanden? Es wäre definitiv spannend zu verstehen, warum das Kriegführen in dieser Welt nicht erfolgreich ist. Evtl hat es auch etwas mit den übrigen Völkern zu tun. Ich habe mich sehr amüsiert zu lesen, wie sie sich zwar untereinander über die Kondore beschweren, aber darüber hinaus davon absehen, Allianzen zu bilden….
Ich habe nochmal genauer nachgelesen und ergänze:
Die Völker nutzen die Börse um miteinander wegen den Kondorleuten zu reden. Ich habe bei der Beschreibung der Kurznachrichten, die nach einiger Zeit wieder gelöscht werden und den Diskussionen und Beschwerden wirklich starke Social-Media- und Insta-Story-Assoziationen! (S. 471)
Interessant finde ich in dem Zusammenhang, dass die Kondorleute die Börse nicht benutzen, weil es in ihrer Welt „Elitenwissen“ ist und nur einige wenige Zugriff haben. Ich stelle mir gerade vor, wie die Kondorleute die Diskussionen unterwandern und am Ende Fake News streuen…. Wie interessant wäre es gewesen, Le Guins Analyse zu lesen, hätte sie von den heutigen Verhältnissen gewusst!