Ihr Lieben,
es ist mir ganz unangenehm, aber unvorhergesehene familiäre Umstände haben diese Woche leider dafür gesorgt, dass ich kaum Zeit bzw. Konzentrationsfähigkeit für private Lektüren hatte, und deshalb hinke ich dieses Mal tatsächlich weit hinterher, was den aktuellen Leseabschnitt angeht und kann heute an dieser Stelle selbst leider nicht allzu viel zur Diskussion beitragen — ihr müsst also für mich einspringen! Wenn ich mir eure unheimlich klugen Beobachtungen und Kommetare aus den letzten beiden Etappen so anschaue, habe ich aber keinen Zweifel daran, dass ihr auch ohne mich in der Lage seinw erdet, hier eine ganz fabelhaft-spannende Diskussion in Gang zu bringen. Ich melde mich dann zu all euren Meinungen, sobald ich lesend wieder zu euch aufgeholt habe.
Jetzt bin ich aber erstmal ungeimlich gespannt , was ihr über diesen dritten Leseabschnitt — es ist schon der letzte Teil des Haupttextes von “Immer nach Hause” gewesen — denkt, was euch besonders gefallen hat, was euch aufgefallen ist, was euch überrascht oder irritiert oder fasziniert hat usw.
Ich freue mich auf eure Beiträge!
Magda
Während des Lesens dieser Etappe sind mir einige Gedanken gekommen, die ich jetzt etwas unsortiert hier aufliste. Insgesamt stimme ich Esiryu zu, der Kondorfrau, die mit Erzählstein nach Sinshan kommt: „Es ist einfach, hier zu sein. In Sai war es hart … hier ist es weich.“ So geht es mir beim Lesen über das Leben der Kesh oft auch und ich denke immer darüber nach, woran das liegt:
Romantische Liebe: Ich habe den Eindruck, dass die Kesh eher unromantisch sind und Liebesbeziehungen und Partnerschaften nicht idealisieren oder priorisieren. In Erzählsteins Geschichte zeigt sich auch die leidenschaftliche Beziehung ihrer Eltern in keinem besonders guten Licht. Aber auch sonst bringen Beziehungen keinen Status oder sonstige Vorteile, Beziehungslosigkeit hat wiederum keine Nachteile. Es sind alles scheinbar sehr freiwillige Verbindungen… Lieblos geht es aber auch nicht zu: Erzählsteins Beziehung zu Erl fand ich wirklich sehr schön und berührend, es ist eine Liebe, die nach anfänglichen Unsicherheiten über längere Zeit wächst.
Umgang mit Wissen: Ich bin Bibliothekarin von Beruf und habe mich sehr über das kleine Kapitel „Pandora unterhält sich mit der Archivarin“ gefreut. Mir blieb der Satz hängen „Ein Buch ist eine Handlung … Es ist nicht Information, sondern Beziehung.“ Mir gefällt das Selbstverständnis der Archivarin, nicht fürs Bewahren auf ewig zuständig zu sein, ganz gut. Und der Abschnitt enthält auch meine liebste Stelle in dieser Etappe, auf Seite 395, es geht um die Utopie, die ja auch ‚Immer nach Hause‘ sein könnte: „Es ist bloß ein Traum, geträumt in schlimmen Zeiten, ein ‚Leck mich‘ von einer Hausfrau mittleren Alters an all jene, die Schneemobile fahren, Atomwaffen bauen und Gefangenenlager betreiben…“
Krieg und Geschlechterverhältnisse: LeGuin beschreibt das Kondorvolk als Kriegervolk - und im Land der Kesh gibt es auch eine Kriegerhütte. Die Männer verhalten sich hier wie dort abwertend gegenüber Frauen. Ein bisschen wie eine Ursprungserzählung des Sexismus, über die ich aber bisher noch nicht weiter nachgedacht habe.
Sehr schön finde ich auch das Gedicht auf Seite 504, es ist wie eine zuversichtliche Botschaft der Kesh an die Menschen hier und heute: „an eurem Ende, als die Feuer verglühten, … waren wir unter euch, eure Kinder … um in unsere Welt zu kommen.“
Zu Zeit kann ich mich angesichts diverser Krisen an solchen hoffnungsvollen Erzählungen enorm erfreuen.
Alles Gute und viel Kraft für Dich, Magda, es klingt als könnte Deine Familie sie gebrauchen. Ich habe mir im hinteren Teil des Buchs weniger konkrete Stellen eingemerkt, aber weiter interessiert die Spuren der alten Welt im Tal gesucht (die Bahn; eine Art Tauchsieder; irgendwo taucht eine Waschmaschine auf, die doch sehr handy kam, denn langsam habe ich mich schon gefragt wie diese recht gleichberechtigt beschriebene Gesellschaft am Laufen gehalten wird wenn *irgendjemand* ja die lästigen Aufgaben des Lebens erledigen muss). Ich habe mich für unsere Protagonistin und ihr Kind gefreut, dass sie wieder nach Hause gekommen sind. Die Beschreibung der Kondorwelt hat mich ziemlich deprimiert und irgendwie finde ich es schade, dass dieses patriarchale, kolonialistische und rassistische Volk das einzige andere ist, das wir kennenlernen dürfen. Klar hatte ich mich auch schon gefragt, ob dieses friedliche Zurück-zum-Einklang-mit-der-Natur die einzige oder wahrscheinlichste Entwicklung der Menschheit nach der Katastrophe ist. Die Kriegsbestrebungen des Kondors mit Hilfe von Waffenbauplänen aus der Stadt des Geistes beantworten diese Frage: Die Anlage zum Bösen liegt wahrscheinlich in der Natur des Menschen, und unter bestimmten Umständen tritt sie zutage. (Der Krieg gegen die Schweineleute wird im Nachhinein als "beschämend" und Erwachsenen unwürdig geframed (S. 171), Streitigkeiten werden sonst wie mehrfach beschrieben mit langen, teils ritualisierten Gesprächen verhandelt - nicht gewalttätig zu werden, ist also eine Frage der Kultur). Ein bisschen sind die beiden Welten, die die Protagonistin kennenlernt, zwei Seiten oder wieder eine Umkehrung derselben Utopie. Doch was sagt uns das? In welchem Verhältnis stehen sie zu unserer Welt? Gern hätte ich mehr über die Stadt des Geistes und andere Weltgegenden erfahren. Doch die Archäologin kann nur die Scherben an dem Ort untersuchen, an dem sie gräbt. Ob in der Vergangenheit oder der Zukunft.