Von Menschen, Affen und Kulten
Ich wage mich aus meiner Komfortzone, lese Wiederentdecktes und beantworte eine Leser*innenanfrage
Ihr Lieben,
ich hoffe, ihr habt die Feiertage - egal ob Ostern euch persönlich etwas bedeutet oder nicht - so angenehm wie möglich verbracht. Ich selbst war hauptsächlich froh über die kleine Pause vom anstrengenden Arbeitsalltag (Bei uns in Berlin zählen Buchhandlungen seit Pandemiebeginn zu de Geschäften des alltäglichen Bedarfs, so dass wir im Gegensatz zu Buchhandlungen in anderen Bundesländern wirklich durchgängig geöffnet waren. Das ist einerseit ein enormes Privileg, andererseits hat das Buchhandeln unter Pandemiebedingungen mich und viele meiner Kolleg*innen auch nah an die Grenzen unserer Kraft gebracht.), was aber natürlich nicht heißt, dass ich mich nicht trotzdem viel mit Büchern beschäftigt habe. Es gibt also genug zu berichten:
Bekanntlich kann ich mich für fast alle Darreichungsformen von Literatur begeistern, ich lese in vielen Genres und liebe Romane, Novellen, Kurzgeschichten, Memoirs, Prosagedichte, Essaysammlungen und Hybridformen von alldem gleichermaßen. Zwei Medienformen, mit denen ich mich bisher aber leider wenig bis gar nicht anfreunden konnte, sind Comics bzw. Graphic Novels und Hörbücher. Letzteres liegt daran, dass ich einfach überhaupt nicht (mehr) auditiv veranlagt bin, ich höre z.B. auch so gut wie nie Podcasts, denn ich kann mich dabei einfach wirklich null konzentrieren und schweife innerhalb von Minuten gedanklich komplett ab. Als Kind ging mir das seltsamerweise nicht so, da konnte ich stundenlang Hörspiele anhören und auswendig mitsprechen. Aber heutzutage funktioniert es für mich einfach nicht mehr, ich habe es oft genug versucht.
Bis auf ab und zu mal im Urlaub ein Lustiges Taschenbuch habe ich schon als Kind/Jugendliche nie Comics gelesen und obwohl ich, gerade als Buchhändlerin, weiß, was für spannende, kreative, beeindruckende Sachen es auf dem Markt gibt, bin ich auch mit Graphic Novels bisher nie warm geworden, weil ich da ein ähnliches Problem habe: ich kann mich auch auf die Zeichnungen nur sehr schlecht konzentrieren, überblättere sie sehr schnell und oberflächlich und nehme deshalb von der jeweiligen Geschichte nur wenig mit. Während ich bei den Hörbüchern glaube, das das tatsächlich einfach Veranlagung ist und keine Ambitionen habe, daran irgendetwas zu ändern, denke ich schon, dass ich es lernen könnte, Graphic Novels zumindest ein bisschen mehr wertzuschätzen. Den ersten Schritt auf diesem Weg habe ich letzte Woche gewagt.
Aufmerksamen Leser*innen meines Newsletters wird ja nicht entgangen sein, dass Folk Horror ein Genre ist, das mich momentan enorm fasziniert. Als meine Twitterfreundin Solvejg neulich Hannah Eatons Graphic Novel Blackwood erwähnte, wurde ich deshalb sofort hellhörig und die Beschreibung klang so 100%-ig nach meinem Geschmack, dass ich nicht anders konnte, als meine Abneigung gegenüber Graphic Novels zu überwinden und mir das Buch zu besorgen. Und was soll ich sagen, ich wurde alles andere als enttäuscht!
Blackwood spielt in einem kleinen, ländlichen englischen Ort am Rande eines uralten Waldes, wo die Menschen nach ihren eigenen Regeln leben, (vermeintlich) alte Traditionen pflegen, misstrauisch gegenüber allem Fremden sind und Veränderungen um jeden Preis ablehnen. Im Abstand von 65 Jahren geschehen dort zwei Morde, die von den offiziellen Behörden nie aufgeklärt werden können, auch wenn es in beiden Fällen Hinweise auf einen okkulten Hintergrund zu geben scheint. Und auch sonst geht in Blackwood nicht alles mit rechten Dingen zu. Aber wer es wagt, kritische Fragen zu stellen, wird im besten Fall mit einer Mauer aus Schweigen konfrontiert - im schlimmsten Fall drohen ganz andere Konsequenzen!
Hannah Eatons Zeichenstil hat mir ausgesprochen gut gefallen und die Geschichte, die von meinem Lieblingtext des Folk Horror inspiriert ist, nämlich dem 70er-Jahre-Kultfilm Wicker Man, hat mich unglaublich gepackt. Es steckt ein angenehmer Grundgrusel darin, aber nicht zu viel, eine wesentlich größere Rolle spielen die intergenerationellen Traumata und die Gewalt, die unweigerlich von einer Gemeinschaft ausgeht, die sich um jeden Preis gegen jeden Einfluss von außen abzuschotten versucht. Ganz große Empfehlung!
Heute habe ich drei ganz besondere Wiederentdeckungen für euch im Gepäck, ich habe nämlich über die Ostertage drei Romane aus den frühen 30er bzw. 50er Jahren gelesen (bzw. stecke bei einem davon noch mitten in der Lektüre), bei denen jeweils (die besondere Beziehung der menschlichen Protagonist*innen zu) Affen im Mittelpunkt der Handlung stehen. Obwohl wir Leser*innen bei allen drei Romanen neben dem menschlichen Protagonist*innen jeweils auch in die Köpfe bzw. Gedanken der jeweiligen Affen versetzt werden, handelt es sich doch um drei völlig unterschiedliche, auf ihre Art jeweils sehr faszinierende Geschichten, die auf jeden Fall eine breitere Leser*innenschaft verdient haben. Leider wurde keines der drei Bücher je ins Deutsche übersetzt. (Es führt vermutlich kein Weg dran vorbei, irgendwann werde ich für solche Zwecke doch einfach selbst einen Verlag gründen müssen!)
Auf die Autorin G. E. Trevelyan, deren außergewöhnlicher erster Roman Appius und Virginia 1932 erschien, wurde ich durch einen meiner liebsten Literaturblogs aufmerksam, nämlich Neglected Books von Brad Bigelow. Er ist auch indirekt dafür verantwortlich, dass zumindest das Romandebüt von Trevelyan, deren Werke laut Bigelow von einer "imaginative intensity unequalled by any novelist of her time aside from Woolf herself" sind, nun, zum ersten Mal seit Trevelyans Tod 1941 wieder neu aufgelegt wurde. Mehr über Trevelyans Leben und Werk könnt ihr übrigens in diesem kleinen Videovortrag erfahren, den Brad Bigelow erstellt hat:
Aber nun zu Trevelyans Roman. In Appius and Virginia geht es um eine alleinstehende Frau, Virginia Hutton, die sich auf ein "wissenschaftliches" Experiment einlässt: sie kauft sich einen neugeborenen Orangutan, tauft ihn Appius und plant, ihn in kompletter Isolation von der Außenwelt wie ein menschliches Kind aufzuziehen: "If it succeeded she would indeed have achieved something. She would have created a human being out of purely animal material, have forced evolution to cover in a few years stages which unaided it would have taken aeons to pass…." Der Roman begleitet nun Virginia und Appius in ihrem Alltag durch die etwa zehn Jahre, die dieses Experiment andauert. Ich möchte hier nicht zu viel über den Ausgang des Experiments verraten, aber ich kann euch sagen, dass mich dieses Buch über das Verhältnis von Mensch und Tier und den andauernden Konflikt zwischen nature und nurture, das ungewöhnlich und innovativ und vor allem sehr sehr traurig ist, tief beeindruckt hat. Ein ernüchterndes Portrait über Einsamkeit und das Gefühl der Überflüssigkeit und über die Illusionen, denen Menschen sich hingeben in ihrer Verzweiflung, ihrem unerträglichen Schicksal zu entfliehen.
Nachdem die Geschichte von Appius und Virginia mich so begeistert hatte, fand ich es nur logisch, mich gleich ins nächste Affenbuch zu stürzen, nämlich in den Debütroman Hackenfeller’s Ape (1953) der feministischen und pazifistischen britischen Autorin Brigid Brophy. Darin geht es um einen Biologieprofessor, der Tag für Tag in den Londoner Zoo geht, um dort ein Paar (Percy und Edwina) der äußerst seltenen "Hackenfeller’s Ape" genannten Affenart zu beobachten in der Hoffnung, zum Zeugen von dessen außergewöhnlichem Paarungsritual zu werden. Doch noch bevor das Paar (dessen männliche Hälfte bisher äußerst unwillig auf die Avancen seiner Partnerin reagierte) die Paarung vollziehen kann, droht die Katastrophe: Percy soll im Rahmen eines Raumfahrtexperiments mit einer Rakete ins All geschossen werden. Professor Darrelhyde setzt alles daran, den Affen vor diesem Schicksal zu bewahren…
Drei Affenromane sind bekanntlich besser als zwei und da ich John Colliers satirischen Roman His Monkey Wife von 1930 bereits seit mehreren Jahren zuhause im Regal stehen hatte, bot es sich an, gleich damit weiterzumachen. Ich stecke allerdings noch mitten in der (höchst amüsanten) Lektüre, deshalb sei hier nur so viel gesagt: der Roman scheint zu halten, was sein Titel verspricht, denn darin geht es tatsächlich um eine unglaublich intelligente (und belesene) Schimpansendame, Emily, die sich in ihren sehr ahnungslosen "Besitzer" Mr. Fatigay, einen englischen Lehrer im Kongo, der ihre große Intelligenz nicht ansatzweise erkennt, verliebt und ihn zurück in seine englische Heimat begleitet, wo sie fortan nicht nur mit Fatigays menschlicher Verlobten Amy um dessen Gunst buhlt, sondern auch die (männlichen) Besucher des Reading Rooms der British Library verzaubert. (Das Buch enthält gerade in den ersten Kapiteln, die im Kongo spielen, leider einige rassistische Passagen, die zwar im Kontext ihrer Entstehungszeit betrachtet werden sollten, aber meine Lesefreude trotzdem etwas getrübt haben. Ich bin auch absolut nicht sicher, wohin die Handlung mich noch führen wird und wie sehr Emily die Schimpansin ggf. als Metapher für eine einheimische, Schwarze kongolesische Frau gelesen werden kann oder soll, im Großen und Ganzen jedoch bin ich bisher fasziniert genug von dieser ungewöhnlichen Geschichte, um erstmal dranzubleiben.)
Mein letztes Thema für den heutigen Newsletter verdanke ich der Anfrage einer Leserin, die sie mir als Reaktion auf die letzte Ausgabe von "Magda liest." geschickt hat: "Ich würd mich freuen über Romane, in denen es um die Dynamiken in Sekten oder extremen (kleineren) Gemeinschaften geht. Women Talking hab ich auf dem Schirm, vielleicht gibt es noch mehr?" Und weil das tatsächlich ein Themenfeld ist, das mich selber schon seit Jahren sehr fasziniert (ich gucke auch unglaublich gerne Dokus zum Thema), wird die folgende Bücherliste über Sekten, religiöse Kulte1 und sonstige strenggläubige, fundamentalistische oder extremistische Gruppierungen auch etwas länger. Einige der Bücher habe ich selbst bereits mit großer Begeisterung/Faszination gelesen, der Rest steht zumindest schon länger auch auf meiner persönlichen Leseliste. Zur besseren Übersicht habe ich die Liste in drei Bereiche gegliedert, nämlich Sachbücher und Memoirs/persönliche Erfahrungsberichte, Romane über oder inspiriert von real existierenden Gemeinschaften und zuletzt noch einige Romane über rein fiktive Gruppen. Da dürfte also für jede*n etwas dabei sein.
PS: Warum sind die deutschen Titel dieser Memoirs meistens so unendlich viel reißerischer als die englischen Originaltitel?
Memoirs und Sachbücher:
Tara Westover, Educated (Befreit, Ü: Eike Schönfeld)
Tara Westover wächst zusammen mit ihren Geschwistern in den Bergen von Idaho auf, wo sie von ihrem strengen Vater, einem fundmentalistischen Mormonen und Prepper voller Misstrauen dem Staat gegenüber, sowohl von einer klassischen Schulbildung als auch von jeglicher Art etablierter Medizin ferngehalten wird. Zuhause erhält sie nur rudimentären Unterricht und selbst bei schlimmsten Verletzungen (und in Westovers Familie kommt es im Laufe der Jahre zu diversen lebensgefährlichen Unfällen) wird kein Arzt gerufen, sondern alle Familienmitglieder nur mit den Kräutertinkturen der Mutter behandelt. Doch Tara findet nicht nur den Mut, sich gegen den Missbrauch, den sie in ihrer Familie erfährt, zur Wehr zu setzen, sondern auch die Kraft, sich eigenständig auf die Aufnahmeprüfung fürs College vorzubereiten und so schließlich ihrem physisch wie psychisch gewalttätigen Umfeld zu entfliehen.
Carolyn Jessop, Escape (Gefangene im Namen Gottes: Meine Flucht aus den Fängen einer Polygamistensekte, Ü: Maria Zybak, nur noch gebraucht erhältlich)
Carolyn Jessop wuchs in der FLDS auf, einer fundamentalistischen mormonischen Sekte in den USA, die (im Gegensatz zum Mainstream-Mormonentum) nach wie vor Polygamie praktiziert, wobei oftmals junge Frauen und Mädchen im Teenageralter an wesentlich ältere Männer zwangsverheiratet werden. Mehrere Männer der Gemeinschaft wurden in den letzten Jahrzehnten wegen sexuellen missbrauchs Minderjähriger verurteilt. Auch Carolyn Jessop wurde als 18jährige von ihren Eltern zur Ehe mit einem 32 Jahre älteren Mann gezwungen, der zu diesem Zeitpunkt bereits drei weitere Ehefrauen hatte. Jessop bekam mit diesem mann acht Kinder, wobei mehrere ihrer Schwangerschaften lebensgefährlich für sie waren. Ihr Memoir schildert nicht nur Hessops Aufwachsen in der Sekte und die entwicklung ihrer dysfunktionalen Ehe, sondern vor allem auch, wie sie sich Schritt für Schritt von den Glaubensätzen lossagte, in denen sie von Kindheit an indokrtiniert worden war, und wie sie schließlich zusammen mit ihren Kindern die Flucht ergriff und vor Gericht das Sorgerecht erstritt.
Eine gut recherchierte Außenseiterperspektive auf die Geschichte des (fundamentalistischen) Mormonentums bietet außerdem der Reporter Jon Krakauer in seinem Sachbuch Under the Banner of Heaven (Mord im Auftrag Gottes, Ü: Thomas Gunkel, nur noch gebraucht).
Megan Phelps-Roper, Unfollow (bisher nicht in dt. Übersetzung erschienen)
Die Westboro Baptist Church, gegründet vom Hassprediger Fred Phelps, ist vor allem für ihre virulente Homofeindlichkeit (und Antisemitismus) bekannt und betrachtet Krankheiten wie AIDS, Naturkatastrophen und gewalttätige Ereignisse wie die Terroranschläge vom 11. September 2001 als gerechte Strafe Gottes für die Sünde der Homosexualität. Megan Phelps-Roper, Enkeltochter des Sektengründers, wuchs in der Hassgruppe auf und wurde schon als Kind in deren hasserfüllten Ansichten indoktriniert. Ab 2009 wurde sie zur offiziellen Sprecherin der Gruppe auf Twitter, bis immer stärker werdende Zweifel an der Doktrin ihrer Gemeinschaft sie 2012 dazu veranlassten, die Kirche zu verlassen. In Unfollow schildert sie ihr Aufwachsen in der Westboro Baptist Church und ihren Weg in die Freiheit.
Rebecca Stott, In the Days of Rain (Erlöst: Mein Weg aus der Sekte, Ü: Werner Löcher-Lawrence)
Die Familie der Literaturwissenschaftlerin Rebecca Stott war seit Generationen Teil der fundamentalistischen christlichen Sekte der sog. Raven-Brüder (engl. Exclusive Brethren). Auch Stott selbst wuchs als Kind noch in der streng religiösen Glaubensgemeinschaft auf, bevor ihre Eltern in den frühen 70ern die Gruppe endgültig verließen. Als Stotts Vater im Sterben liegt, bittet er sie, ihm bei der Aufzeichnung seiner Erinnerungen an das Leben in der Sekte behilflich zu sein, daraus ist dieses bewegende Buch entstanden.
Deborah Layton, Seductive Poison: A Jonestown Survivor's Story of Life and Death in the Peoples Temple (Selbstmord im Paradies, Ü: Sibylle Mall)
Von dem Massaker von Jonestown haben vermutlich die meisten von euch schonmal gehört, und sei es nur in einer N24-Doku. 1978 sorgte der charismatische Guru der Volkstempel-Gemeinschaft Jim Jones in der Sektensiedlung in Guyana dafür, dass über 900 seiner Anhänger, darunter über 300 Minderjährige, sich mit Cyanid vergifteten. Diesem Massenmord waren die Morde an fünf außenstehenden Personen, darunter der US-amerikanische Kongressabgeodnete Leo Ryan, vorausgegangen. Deborah Layton, die bereits sieben Jahre lang ein hochrangiges Mitglied des Volkstempels war, bevor sie nach Jonestown zog, ist eine der wenigen Bewohner*innen der Siedlung in Guyana, die rechtzeitig vor den Ereignissen im November 1978 die Flucht ergriff und deshalb überlebte. In ihrem Memoir gibt sie Einblicke in Jones’ System der Unterdrückung und Manipulation und sucht Antworten auf die Frage, warum mündige, vernunftbegabte Menschen ihre persönlichen Freiheiten aufgeben und sich in einen tödlichen Kult rekrutieren lassen.
Mehr Einblick in das Leben von Sektenführer Jim Jones und den Ereignissen, die schließlich zum Massaker in Jonestown führten, bietet auch das Sachbuch von Jeff Guinn, The Road to Jonestown.
Jenna Miscavige Hill, Beyond Belief: My Secret Life Inside Scientology and My Harrowing Escape (Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht, Ü: Ina Bell)
Jenna Miscavige Hill, Nichte des derzeitigen Scientology-Anführers David Miscavige, wuchs als Scientologin der dritten Generation in der Sekte auf, wo sie als Achtjährige einen der berüchtigten Milliarden-Jahr-Verträge mit der autoritären Unterorganisation von Scientology, Sea Org, unterzeichnete und infolgedessen fern von ihrer Familie aufgezogen und zu 25 Stunden schwerer körperlicher Arbeit pro Woche gezwungen wurde. Als Hill 16 war, verließen ihre Eltern die Sekte und sie musste den Kontakt zu ihnen gänzlich abbrechen. Hill selbst gelang der Weg in die Freiheit erst Mitte der 2000er, als sie und ihr Mann, die auf einer Kirchenmission in Australien zum ersten Mal Zugang zu Fernsehen und Internet hatten, erstmals mit Kritik an der Organisation konfrontiert wurden. 2005 brachen die beiden endgültig mit Scientology. Die Schilderungen in Hills Memoir wurden von der Sekte, wenig überraschend, als Lügen zurückgewiesen.
Den ultimativen Einblick in die Geschichte der Church of Scientology bietet außerdem der Journalist Lawrence Wright in seinem (von Scientology heftig kritisierten) aufwendig recherchierten Sachbuch Going Clear: Scientology, Hollywood, and the Prison of Belief (Im Gefängnis des Glaubens, Ü: Stephan Gebauer-Lippert).
Kathryn Joyce, Quiverfull: Inside the Christian Patriarchy Movement
Die sog. Quiverfull-Bewegung, die unter evangelikalen Christ*innen in den USA zahlreiche Anhänger*innen hat, betrachtet Kinder als Geschenk Gottes, die oftmals als Soldat*innen im von fundamentalistischen Christ*innen imaginierten Kulturkampf gelten, und lehnt deshalb jegliche Form der Geburtenkontrolle ab. Als Reaktion auf die gesellschaftlichen Fortschritte des Feminismus entstanden, wird im Quiverfull Movement eine Ideologie des “christlichen Patriarchats” gepflegt, als einzige natürliche Rolle der Frau wird die der Hausfrau und Mutter angesehen, der Mann ist das alleinige Oberhaupt der riesigen Quiverfull-Familien, dem sich seine Ehefrau und seine Töchter vollständig unterzuordnen haben. Die Journalistin Kathryn Joyce geht in ihrem gut recherchierten Buch dieser extrem konservativen Untergruppe des evangelikalen Christentums auf die Spur und fördert Verhältnisse zutage, über die man als feministische Leserin nur den Kopf schütteln kann.
Romane über real existierende Gemeinschaften:
Miriam Toews, A Complicated Kindness (Ein komplizierter Akt der Liebe, Ü: Christiane Buchner)
Die kanadische Schriftstellerin Miriam Toews wuchs in einer mennonitischen Gemeinde auf, die sie jedoch mit 18 Jahren verließ. Viele ihrer Romane greifen ihre eigenen Erfahrungen als Mennonitin auf, so auch A Complicated Kindness, eine Coming-of-Age-Geschichte über die 16jährige Nomi, die, nachdem sowohl ihre Mutter als auch ihre ältere Schwester die strenggläubige Gemeinschaft verlassen haben, allein mit ihrem Vater in einer mennonitischen Kleinstadt lebt. Während ihr Vater ein treuer Anhänger der Kirche ist, beginnt die aufgeweckte Nomi immer mehr der konservativen Regeln, nach denen sie leben soll, infragezustellen und mit dem für sie vorgezeichneten Weg in der Gemeinde zu hadern.
Miriam Toews, Women Talking (Die Aussprache, Ü: Monika Baark)
Toews’ jüngster Roman Women Talking verarbeitet wiederum konkrete reale Ereignisse in einer Mennonitengemeinde. Zwischen 2005 und 2009 erwachten die Mädchen und Frauen einer abgelegenen bolivischen Mennonitenkolonie regelmäßig benommen, mit Schmerzen und blutend aus dem Schlaf. Die nächtlichen Überfälle wurden Dämonen zugeschrieben, als Strafe Gottes für die sündigen Gedanken der Frauen bezeichnet, oder als Produkt der ungezügelten weiblichen Phantasie abgetan. Irgendwann stellte sich jedoch heraus, dass nicht der Teufel, sondern acht Männer aus der Kolonie die Frauen mit einem Betäubungsmittel bewusstlos gemacht und vergewaltigt hatten. 2011 verurteilte ein bolivianisches Gericht diese Männer zu längeren Gefängnisstrafen. Während die Männer der Mennonitenkolonie sich in der Stadt versammelt haben, um die Freilassung der angeklagten Männer aus der Untersuchungshaft zu erwirken, treffen sich in Toews’ Roman die in der Kolonie verbliebenen Frauen heimlich, um ihre nächsten Schritte zu beraten. Sollen sie bleiben und weiterleben wie bisher? Sollen sie kämpfen? Oder sollen sie die Kolonie und die Männer hinter sich lassen und in der Außenwelt ein neues Leben beginnen? Ihnen bleiben 48 Stunden, um eine Entscheidung zu treffen, bevor die Männer aus der Stadt zurückkehren... In diesem Roman passiert nicht viel, im Grunde besteht er nur aus den zwei Tage andauernden Gesprächen zwischen acht Frauen (und einem Mann, der diese Gespräche protokolliert). Und trotzdem steckt in diesem Buch wahnsinnig viel. Miriam Toews erzählt leise und unaufgeregt von den Traumata, die auf grausame Gewaltakte folgen, vom Dilemma, wenn die Einhaltung religiöser Grundsätze zur völligen Selbstaufgabe führen würde, erzählt schließlich von Frauen, die ihre völlige Unterordnung unter das von Männern interpretierte Wort Gottes nicht länger in Kauf nehmen wollen und können.
Stefanie de Velasco, Kein Teil der Welt
Stefanie de Velasco wuchs mit einer alleinerziehenden Mutter auf, die gläubige Zeugin Jehovas war und auch ihre Tochter von frühester Kindheit an zur Mitgliedschaft in dieser Glaubensgemeinschaft hinführte. De Velasco, die ihre Zeit bei den Zeugen als von permanenter Angst und Alarmstimmung geprägt empfand, verließ die Organisation mit 15 Jahren, ihr zweiter Roman Kein Teil der Welt ist von ihren Erfahrungen in der Gemeinschaft inspiriert. Er erzählt vom Emanzipationsprozess einer jungen Frau, die kurz nach der Wende mit ihren Eltern aus einer Siedlung am Rhein in ein ostdeutsches Dorf ziehen muss, um dort einen neuen Königreichssaal zu bauen und die ostdeutsche Gesellschaft zu missionieren.
Jeanette Winterson, Oranges Are Not the Only Fruit (Orangen sind nicht die einzige Frucht, Ü: Brigitte Walitzek)
Die temperamentvolle Jeanette wächst als Adoptivkind bei fanatischen Mitgliedern der Pfingstbewegung auf. Für ihre Stiefmutter ist sie eine »Auserwählte«, die mit ihr gegen die sündige Welt kämpft und eine Missionarin für die Kirche werden soll. Doch Jeanette erfährt einen unerwarteten Sinneswandel, als sie sich mit sechzehn in eine junge Frau verliebt. Von ihrer Gemeinde und ihrer Stiefmutter für diese Liebe geächtet und zunehmend unsicher, warum der Glaube über dem Verlangen stehen sollte, verlässt sie schließlich ihr Elternhaus und die Kirche, um selbstbestimmt ihr Glück zu finden. [Verlagstext; das Buch fiel mir in letzter Minute erst ein und ich war zu müde, um noch selber einen Beschreibungstext zu formulieren.]
Romane über fiktive Gemeinschaften:
R. O. Kwon, The Incendiaries (Die Brandstifter, Ü: Anke Caroline Burger)
Will, ein mittelloser Stipendiat aus einfachen Verhältnissen, findet sich im sozialen Gefüge an der Eliteuniversität Edwards nur schwer zurecht, Halt findet er nur in seiner allseits beliebten, quirligen Freundin Phoebe. Doch auch unter Phoebes lebhafter Persönlichkeit liegen dunkle Gefühle verborgen, gibt sie sich doch die Schuld am Tod ihrer Mutter. Die Beziehung von Will und Phoebe gerät ins Wanken, als Phoebe unter den Einfluss des charismatischen wie geheimnisvollen Will Leal gerät und immer mehr Zeit in der von diesem angeführten christlichen Gemeinschaft verbringt. Hilflos muss Will, der Leal für einen Hochstapler hält, mit ansehen, wie Phoebe sich immer weiter radikalisiert. Doch die Mittel, zu denen Will greift, um Phoebe diesem Einfluss zu entziehen, sind ebenso unlauter wie die immer extremer werdenden Methoden der Sekte. Schließlich gipfelt alles in einer Katastrophe, die Will bestürzt zurückblicken lässt im Versuch, zu ergründen, wie es soweit kommen konnte. Aber ist seiner Sicht auf die Ereignisse wirklich zu trauen? R.O. Kwon ergründet die Abgründe einer zerrütteten, von religiösem Extremismus geprägten Gesellschaft, die sich in den zwischenmenzlichen Beziehungen Einzelner fortsetzen und verstärken, und lässt dabei ihre Leser*innen immer wieder an der eigenen Wahrnehmung zweifeln.
Karen Köhler, Miroloi
Die junge Protagonistin in Köhlers Roman wächst als Findelkind in einer von der modernen Außenwelt beinahe vollständig abgeschotteten Inselgemeinschaft auf, die einer strengen Religion angehört, in der Männer das Sagen haben und Frauen sogar das Lesenlernen unter strenger Strafe verboten ist. Doch Köhlers Heldin gibt sich mit den autoritären, patriarchalischen Verhältnissen nicht zufrieden und lehnt sich auf, lernt heimlich lesen, verliebt sich, kämpft schließlich mit allen Mitteln um ihre Würde und ihre Freiheit.
(Am Rande erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch noch Helene Bukowskis Roman Milchzähne, der verschiedene Parallelen zu Köhlers Buch aufweist und z.B. ebenfalls von einer jungen Außenseiterin in einer abgeschotteten, eher patriarchalen Gesellschaft handelt. Da es sich dabei aber nicht um eine religiöse Gemeinschaft handelt, passt das Buch hier eigentlich nicht hin. Ich empfehle es trotzdem, denn ich mochte es fast noch lieber als Miroloi.)
Anmerkung: Es folgen noch vier englische Romane (keiner davon bisher ins Deutsche übersetzt, leider), die ich selbst noch nicht gelesen, aber auf meiner Leseliste stehen habe. Da ich euch deshalb eh erstmal nur die Klappentexte nacherzählen könnte, kann ich sie der Eunfachheit halber auch einfach gleich im Wortlaut hier reinkopieren:
Paula Lichtarowicz, The First Book of Calamity Leek
"Lying in her hospital bed, broken, burned and scared, Calamity still believes that Aunty loved her. For as long as she can remember, Calamity, along with her sixteen sisters, lived in a Garden behind the Wall of Safekeeping. Like it said in Aunty's Appendix on the first page of the Ps: 'Everything has a purpose', and they were being trained for a very special one. In the Ns the Appendix said, 'Nosiness leads to nonsense'. As Calamity sees it, this is what led to their Garden's downfall, because when the sisters started questioning what was outside the Wall, they started questioning what was happening inside it too.
But doubt is contagious.
Watching your world crumble is frightening.
And people who are frightened can be dangerous."
Emily Temple, The Lightness
"One year ago, the person Olivia adores most in the world, her father, left home for a meditation retreat in the mountains and never returned. Yearning to make sense of his shocking departure and to escape her overbearing mother—a woman as grounded as her father is mercurial—Olivia runs away from home and retraces his path to a place known as the Levitation Center.
Once there, she enrolls in their summer program for troubled teens, which Olivia refers to as “Buddhist Boot Camp for Bad Girls”. Soon, she finds herself drawn into the company of a close-knit trio of girls determined to transcend their circumstances, by any means necessary. Led by the elusive and beautiful Serena, and her aloof, secretive acolytes, Janet and Laurel, the girls decide this is the summer they will finally achieve enlightenment—and learn to levitate, to defy the weight of their bodies, to experience ultimate lightness.
But as desire and danger intertwine, and Olivia comes ever closer to discovering what a body—and a girl—is capable of, it becomes increasingly clear that this is an advanced and perilous practice, and there’s a chance not all of them will survive. Set over the course of one fateful summer that unfolds like a fever dream, The Lightness juxtaposes fairy tales with quantum physics, cognitive science with religious fervor, and the passions and obsessions of youth with all of these, to explore concepts as complex as faith and as simple as loving people—even though you don’t, and can’t, know them at all."
Alison Wisdom, We Can Only Save Ourselves
"Alice Lange’s neighbors are proud to know her—a high-achieving student, cheerleader, and all-around good citizen, she’s a perfect emblem of their sunny neighborhood. The night before she’s expected to be crowned Homecoming Queen, though, she commits an act of vandalism, then disappears, following a magnetic stranger named Wesley to a bungalow in another part of the state. There, he promises, Alice can be her true self, shedding the shackles of conformity.
At the bungalow, however, she learns that four other young women seeking enlightenment and adventure have already followed him there. Her new lifestyle is intoxicating at first, but as Wesley’s demands on all of them increase, the house becomes a pressure cooker—until one day they reach the point of no return.
Back home, the story of Alice’s disappearance and radicalization is framed by the first-person plural chorus of the mothers who knew her before, who worry about her, but also resent the tear she made in the fabric of their perfect world, one that exposes the question: Isn’t suburbia a kind of cult unto itself?"
Megan Cooley Peterson, The Liar’s Daughter
"Seventeen-year-old Piper knows that Father is a Prophet. Infallible. The chosen one.
She would do anything for Father. That's why she takes care of all her little sisters. That's why she runs end-of-the-world drills. That's why she never asks questions. Because Father knows best.
Until the day he doesn't. Until the day the government raids the compound and separates Piper from her siblings, from Mother, from the Aunts, from all of Father's followers--even from Caspian, the boy she loves.
Now Piper is living Outside. Among Them.
With a woman They claim is her real mother--a woman They say Father stole her from.
But Piper knows better. And Piper is going to escape."
Puh, das wurde wieder wesentlich länger als geplant, ich hoffe Ihr seid nicht überfordert. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer. Auch Fragen nach individuellen Buchempfehlungen könnt ihr mir weiterhin gerne stellen, die werde ich dann jeweils (nach Lust und Energie) im nächsten Newsletter gesammelt (anonymisiert) beantworten, damit alle etwas davon haben.
Den nächsten Newsletter werde ich wieder an einem Mittwoch verschicken, vielleicht schon nächste Woche, vielleicht auch erst in drei. Bis dahin findet ihr mich auf Twitter.
Sollte diese Ausgabe nicht in eurem Postfach auftauchen, dann checkt euren Spam-Ordner und fügt ggf. diese Mailadresse eurem Adressbuch hinzu. Grundsätzlich könnt ihr alle alten Ausgaben des Newsletters auch jederzeit im Archiv auf der Substack-Seite nachlesen.
Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda
Bitte nagelt mich hier nicht auf (akademisch) korrekte Definitionen, wann es sich bei einer (religiösen) Gruppe um einen Kult bzw. eine Sekte handelt, fest, da bin ich absolut keine Expertin.