Von Körpern und Krankheiten
Ein spontanes Leseprojekt, das nichts mit Corona, aber viel mit dem Patriarchat zu tun hat
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Ihr Lieben,
die Frage, ob und ab wann und welche Art von Pandemiebüchern und Corona-Romanen wir lesen (und schreiben) wollen und sollten, stellen sich Feuilleton und Twittertimeline seit Beginn der Corona-Krise und ich habe sie bisher für mich persönlich mit einem klaren “Bitte nicht!” beantwortet. Bei dieser Meinung bleibe ich auch bis auf weiteres, allerdings habe ich vor ein paar Wochen ein sehr informatives und spannendes Buch über Frauen in der Medizingeschichte gelesen, das mich zu einem kleinen Leseprojekt inspiriert hat.
Darum habe ich in der letzten Zeit gleich mehrere sehr gute Bücher von weiblichen und nicht-binären Autor*innen über Körper und Krankheiten im Patriarchat (ohne spezifischen Corona-Bezug) gelesen (und noch einige weitere frisch angefangen oder auf dem “ganz bald lesen!”-Stapel abgelegt), die ich euch — neben einigen weiteren zum Thema passenden Titeln, die ich in der Vergangenheit schon gelesen hatte — nun empfehlen möchte:
Angefangen hat meine medizinische Leseexkursion mit Elinor Cleghorns Buch Unwell Women (leider bisher keine dt. Übersetzung angekündigt), das vor einigen Monaten erschienen ist. Cleghorn zeichnet darin die Missverständnisse, Mythenbildungen und Fehldiagnosen rund um weibliche Körper nach, die den letzten zwei Jahrtausenden westlicher Medizingeschichte zugrunde liegen.
Ich habe bei der Lektüre dieses Buches viel Erschreckendes über den Umgang der Medizin (die für den Großteil des im Buch behandelten Zeitraums mit Männern gleichzusetzen ist) mit Frauen und ihren Körpern (insbesondere mit rassifizierten und versklavten Frauen) erfahren und bin hinterher definitiv wütender als vor der Lektüre.
Von Cleghorns Buch bereist entsprechend emotional aufgeheizt, habe ich mich dann gleich in On Immunity: An Inoculation (dt. Immun, Ü: Kirsten Riesselmann) von Eula Biss gestürzt, ein Buch, das zwar inzwischen schon mehrere Jahre alt, aber in der momentanen Pandemiesituation aktueller denn je ist. Eula Biss geht in diesem Essay, der Kultur-, Medizin- und Wissenschaftsgeschichte mit ihren eigenen persönlichen Erlebnissen (v.a. als Mutter, die über die Impfungen ihres Kindes zu entscheiden hat) vermischt, dem Phänomen der Impfparanoia auf den Grund und schließt mit einem eindringlichen Plädoyer für das Impfen als solidarischenAkt.
Immunity is a public space. And it can be occupied by those who choose not to carry immunity. For some of the mothers I know, a refusal to vaccinate falls under a broader resistance to capitalism. But refusing immunity as a form of civil disobedience bears an unsettling resemblance to the very structure the Occupy movement seeks to disrupt—a privileged 1 percent are sheltered from risk while they draw resources from the other 99 percent.
Direkt im Anschluss an Eula Biss habe ich Alice Hattricks frisch erschienenes Buch Ill Feelings (bisher nicht auf Deutsch erhältlich) gelesen, das mich absolut begeistert hat, weil es diesen perfekten Sweet Spot zwischen Personal Memoir, Kulturkritik und gesellschaftspolitischer Analyse trifft, der mir schon bei Autorinnen wie zB. Maggie Nelson so gut gefallen hat. 1995 brach Alices Mutter mit einer Lungenentzündung zusammen, von der sie sich nie vollständig erholte und deshalb irgendwann mit ME/CFS bzw. dem “Chronic Fatigue Syndrome” diagnostiziert wurde. Bald wurde auch Alice selbst krank, begann irgendwann, dieselben Symptome aufzuweisen und erhielt schließlich auch die gleiche Diagnose wie die Mutter. Anhand der eigenen Krankengeschichte und der Biographie der Mutter, aber auch der Tagebücher und Briefe, in denen bekannte Frauen wie Virginia Woolf, Florence Nightingale, Elizabeth Barrett Browning und Alice James ihre persönlichen Erfahrungen mit chronischen Erkrankungen protokolliert haben, zeichnet Hattrick ein bewegendes und herausforderndes Bild vom Leben mit einer medizinisch nicht vollständig erklärbaren Krankheit und der damit einhergehenden Bevormundung und Herabwürdigung durch medizinische Fachkräfte, der vor allem weiblich gelesene Personen häufig ausgesetzt sind.
Auch Sinéad Gleeson beschreibt in ihrer Essaysammlung Constellations (dt. Konstellationen - Die Sprache meines Körpers, Ü: Stephanie Singh) die Geschichte ihres eigenen Körpers und der Belastungen, denen dieser — sei es durch Krankheiten, Schwangerschaft und Geburt, oder allgemein das Leben als Frau in einer patriarchalen Gesellschaft — ausgesetzt ist und betont dabei immer wieder das den meisten Frauen bekannte Problem, von ihren Ärzten nicht ernstgenommen zu werden. Ich bin mit dem Band erst zur Hälfte durch, aber besonders Gleesons Essay über ihre schon als Jugendliche diagnostizierte Arthritis sowie ihr Essay über Blut (und ihre eigene Leukämie-Erkrankung) haben mich bisher sehr beeindruckt.
Mitten in der Lektüre stecke ich außerdem gerade beim neuen Buch von Lucia Osborne-Crowley, deren erstes Buch I Choose Elena habe ich bereits in einer früheren Ausgabe dieses Newsletters empfohlen habe.
Wie schon in ihrem vorherigen Buch geht es auch in My Body Keeps Your Secrets (leider keine dt. Übersetzung bisher) wieder um die langfristigen Auswirkungen, die (durch Missbrauch) erlittene Traumata nicht nur auf die Psyche, sondern auch auf den Körper haben können, allerdings diesmal aus einer breiteren Perspektive, denn Osborne-Crowley erzählt nun nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern hat für die Arbeit an diesem Buch über hundert Interviews mit Frauen und nicht-binären Personen zwischen 13 und 37 geführt, die von ihren Erfahrungen mit Missbrauch, Trauma und Scham berichten. Die beiden Kapitel, die ich bisher gelesen habe, und in denen es um zwei an Essstörungen leidende Teenager geht, sind sehr vielversprechend und ich glaube, dass es sich hier um einen sehr wichtigen feministischen Text handelt, dem ich eine breite Rezeption wünsche.
Ebenfalls um den Einfluss von Trauma und Scham auf den eigenen Körper geht es übrigens in Roxane Gays Hunger. A Memoir of My Body (Hunger. Die Geschichte meines Körpers, Ü: Anne Spielmann), in dem die Autorin schonungslos offen und ehrlich von den psychischen und physischen Folgen einer Vergewaltigung, der sie als Jugendliche zum Opfer fiel, berichtet. Meine eigene Lektüre dieses beeindruckenden Buches ist schon mehrere Jahre her und meine Erinnerung an Details eher schwammig, aber da die deutsche Übersetzung ganz frisch im Taschenbuch erschienen ist, möchte ich es euch hier noch einmal ans Herz legen. Denn Roxane Gay ist hierzulande immernoch erstaunlich unbekannt.
Wie es sich anfühlt, wenn der eigenen Körper eine*n plötzlich im Stich zu lassen scheint, schildert die Schriftstellerin Bregje Hofstede in ihrem kurzen Essayband Die Wiederentdeckung des Körpers (Ü: Christiane Burkhardt und Janine Malz), den sie geschrieben hat, nachdem sie als 24-jährige tief in einem Burn-Out landete. Auch wenn mich dieses Buch nicht ganz so geflasht hat wie Hofstedes (autobiographisch inspirierter) Roman Verlangen (Ü: Christiane Burkhardt), fand ich ihre Gedanken über die Entfremdung vom eigenen Körper dennoch ziemlich interessant zu lesen.
In der neuesten deutschen Annie Ernaux-Übersetzung geht es zwar nicht um eine Krankheit im engeren Sinne, aber ich möchte Das Ereignis (Ü: Sonja Finck; engl. Happening, Ü: Tanya Leslie) an dieser Stelle dennoch nicht unerwähnt lassen, denn wenn es um Frauen und Körper und Medizin geht, darf die Frage nach reproduktiven Rechten und körperlicher Selbstbestimmung auf keinen Fall ausgeklammert werden. Ernaux blickt in diesem kurzen Band mit 40 Jahren Abstand auf eine Zeit in den frühen 60ern zurück, in der sie sich, 23 und ledig, mit einer ungewollten Schwangerschaft konfrontiert sah und in ihrer Verzweiflung einer illegalen Abtreibung unterzog, deren Komplikationen sie schließlich unter Lebensgefahr ins Krankenhaus brachten. Ein wirksameres Plädoyer für die Abschaffung aller Hürden im Bezug auf Abtreibungen kann ich mir kaum vorstellen!
Die meisten der hier gerade empfohlenen Bücher sind autobiografisch gefärbt, zuletzt möchte ich aber noch ein ganz klassisches geschichtliches Sachbuch empfehlen, das ganz ohne persönliche Krankheitsgeschichte auskommt, nämlich Ulrike Mosers Schwindsucht. Eine andere deutsche Gesellschaftsgeschichte, in dem sie einen näheren Blick auf den zeitgenössischen politischen, medizinischen und kulturellen Umgang mit Tuberkulose während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wirft. Ich habe das Buch letztes Jahr eigentlich nur aufgeschlagen, weil ich darin eine kurze Passage über die jung an Tuberkulose verstorbene Malerin Marie Bashkirtseff nachlesen wollte, aber dann fand ich es so spannend und informativ, dass ich es quasi in einem Rutsch durchgelesen habe. Genau so sollen Sachbücher sein!
Bevor ich gleich noch zu einigen fiktionalen Texten über Krankheit und Körper komme, möchte ich noch zwei Bücher zum Thema erwähnen, die sich bisher noch ungelesen auf meinem Lesestapel befinden, die ich aber hoffentlich ganz bald lesen werde: Zum einen wäre da Audre Lordes The Cancer Journals (aktuell keine dt. Übersetzung lieferbar), worin sie ihre Erfahrung mit Brustkrebs und einer Mastektomie schildert:
Long before narratives explored the silences around illness and women’s pain, Lorde questioned the rules of conformity for women’s body images and supported the need to confront physical loss not hidden by prosthesis. Living as a “black, lesbian, mother, warrior, poet,” Lorde heals and re-envisions herself on her own terms and offers her voice, grief, resistance, and courage to those dealing with their own diagnosis. Poetic and profoundly feminist, Lorde’s testament gives visibility and strength to women with cancer to define themselves, and to transform their silence into language and action.
Außerdem freue ich mich sehr auf die Lektüre von Anne Boyers The Undying (dt. Die Unsterblichen. Krankheit, Körper, Kapitalismus, Ü: Daniela Seel), über das ich bisher nur (sehr, sehr) Gutes gehört habe. Auch darin geht es um Brustkrebs, welcher der der preisgekrönten Dichterin Anne Boyer eine Woche vor ihrem 41. Geburtstag diagnostiziert wird. “Für die alleinerziehende Mutter, die sich von Scheck zu Scheck hangelt, ist diese katastrophale Erkrankung ein Anstoß, Sterblichkeit und die Geschlechterpolitiken von Krankheit neu zu denken. Boyer beginnt, sich schreibend mit dem Krebs und dem gesellschaftlichen Umgang damit auseinanderzusetzen.”
Zuletzt möchte ich euch noch drei fiktionale Auseinandersetzungen mit Krankheit, Körpern und Geschlecht ans Herz legen, die ich zuletzt gerne gelesen habe:
Der historische Roman Bodies of Light (dt. Wo Licht ist, Ü: Nicole Seifert) von Sarah Moss behandelt die Rolle von Frauen in der Medizin aus zwei Perspektiven: die beiden Schwestern Ally und May Moberley, die im viktorianischen Manchester als Töchter eines Künstlers und einer sehr strengen und religiösen Mutter aufwachsen, sind zugleich Patientinnen (Ally wird immer wieder wegen ihrer vermeintlichen “Hysterie” behandelt) und Expertinnen (May lässt sich zur Krankenschwester ausbilden und Ally möchte als eine der ersten Frauen Englands Medizin studieren) und müssen sich in beiden Rollen gegen die strengen Regeln ihres patriarchalen Umfelds behaupten. Sarah Moss ist eine meiner Lieblingsautorinnen und speziell dieser Roman gehört für mich zu den absoluten Highlights in ihrem Werk.
Ein eher ungewöhnliches Werk ist der ziemlich surreale Roman The Book of X von Sarah Rose Etter, den ich vergangenes Wochenende gelesen habe. Er handelt von einer jungen Frau, die, wie bereits ihre Mutter und Großmutter vor ihr, mit einem verknoteten Torso geboren wird. Und ich meine das mit dem Knoten wortwörtlich. Da, wo andere Frauen einen (mal mehr, mal weniger) flachen Bauch haben, sitzt bei Cassie ein Knoten, der ihr in vielerlei Hinsicht das Leben schwer macht. Nicht nur verursacht er ihr immer wieder große Schmerzen, sondern er ist auch der Grund, warum sie in der Schule von den Mitschüler*innen gehänselt und geschnitten, von den Jungs, in die sie sich verliebt, zurückgewiesen, und allgemein in ihrem Alltag immer wieder größeren und kleineren Diskriminierungen ausgesetzt wird. Der Roman, der auch abgesehen von dem Knoten noch zahlreiche weitere surreale Elemente enthält, folgt Cassie von der auf der elterlichen Farm verbrachten frühen Jugend bis ins Erwachsenenalter und einem langweiligen Schreibtischjob in der großen Stadt, von jugendlichen Schwärmereien und frühen Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt zu einer Liebe, die gleichzeitig vollkommen richtig und doch vollkommen falsch ist, von ihren jahrzehntelang alltäglich erlittenen Erniedrigungen bis hin zu Cassies Visionen einer freundlicheren und gerechteren Welt.
Weil Halloween schon fast vor der Tür steht, möchte ich euch zum Schluss noch einige gruselige Kurzgeschichten empfehlen. Die Anthologie Blood & Bone: An Anthology of Body Horror by Women and Non-Binary Writers hält genau das, was ihr Titel verspricht, die darin enthaltenen mal mehr, mal weniger gruseligen Erzählungen handeln alle (oder zumindest die, die ich bisher gelesen habe) von Blut, Knochen, Erbrochenem und anderen Körperflüssigkeiten, und der Gewalt, die Frauen und nicht-binäre Personen sich und ihrem Körper in einer vom Patriarchat dominierten Welt immer wieder selbst antun (müssen). Vermeintlich alltägliche weiblich kodifizierte Handlungen wie Gebären, Stillen, Diäthalten und Erbrechen werden hier zum Schauplatz von Gewalt und Grauen, durch das unser Konzept von Weiblichkeit erforscht, gefeiert, seziert (manchmal wortwörtlich!) und infragegestellt wird. Nichts für schwache Mägen!
Eigentlich hatte ich für die heutige Ausgabe noch zwei weitere Themen vorbereitet, aber der Substack-Editor beschwert sich jetzt schon über die Länge dieses Newsletters, deswegen verschiebe ich den Rest einfach in die nächste Ausgabe, die ich dafür, weil sie ja im Grunde schon fertig ist, schon nächste Woche verschicken werde.
Sneak Peek: Es wird u.a. um okkulte Ereignisse in Berlin gehen!
Das war’s also für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich wieder an einem Mittwoch verschicken, vermutlich in zwei Wochen, vielleicht auch schon in einer oder erst in drei. Bis dahin findet ihr mich wie immer mit buchnahem Content auf Twitter.
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Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda