Von einsamen Frauen, dem Problem mit True Crime und meinem plötzlichen Interesse an Segelbooten
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Ihr Lieben,
wir machen’s kurz mit der Einleitung, denn der inhaltliche Teil wird gleich lang. Ich hoffe ihr habt/hattet bisher trotz Hitze und all den anderen momentanen Stressfaktoren, die uns alle das Leben erschweren, einen schönen und möglichst entspannten Sommer. Und jetzt zu den Büchern!
Wenn ich mich für ein einziges literarisches Thema/Genre entscheiden müsste, das mich am nachhaltigsten beeinflusst und bewegt, dann wären das vermutlich Bücher über (bzw. von) alleinstehende/einsame/isolierte/zurückgezogen lebende Frauen — und zwar sowohl solche, in denen diese Einsamkeit selbst gewählt und positiv besetzt ist, als auch diejenigen, in denen es eher um eine unfreiwillige, durch äußere Umstände bedingte Vereinsamung geht (im Englischen gibt es die schöne Unterscheidung zwischen "solitude" und "loneliness", die uns im Deutschen in der Form leider irgendwie fehlt; vielleicht "Alleinsein" vs. "Einsamkeit"?). Ich bin nicht sicher, wo diese meine Obsession herkommt, weil es beispielsweise in vielen dieser Texte auch um ein einzelgängerisches Leben auf dem Land/in der freien Natur/Wildnis/auf einer einsamen Insel etc. geht und ich selbst das absolute Gegenteil eines outdoorsy Menschen bin. Eventuell hängt es damit zusammen, dass ich schon als Grundschulkind in einem prägenden Alter Scott O’Dells Kinderbuchklassiker Die Insel der blauen Delfine (Ü: Roswitha Plancherel-Walter) gelesen und verinnerlicht habe? Anyway, hier sind einige meiner Lieblingslektüren der letzten Zeit (und ein paar All-Time-Favorites) aus diesem Genre:
Zu allererst muss ich natürlich einen der absolut genialsten Romane zum Thema weiblicher Isolation und Einsamkeit erwähnen, nämlich Marlen Haushofers Meisterinnenwerk Die Wand. Es ist eigentlich kaum vortellbar, dass ihr mir folgt und von diesem Buch noch nicht gehört habt, deshalb nur ganz knapp: Eine Frau verbringt eine Nacht in der Jagdhütte eines befreundeten Paares und als sie am nächsten Morgen aufwacht, findet sie sich durch eine unsichtbare Wand vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten — alle Lebewesen, die sich auf der anderen Seite dieser Wand befinden, scheinen tot zu sein. Die Protagonistin ist fortan auf sich allein gestellt, und versucht, irgendwie in ihrer Berghütte zu überleben. Das Buch hat wenig Plot und trotzdem passiert noch allerhand mehr, das hier jetzt zu weit führen würde, deswegen muss euch reichen, dass es eines meienr absoluten Lieblingsbücher of all time ist!
Vor ein paar Monaten nun habe ich einen aus dem Französischen übersetzten Roman der belgischen Autorin Jacqueline Harpman gelesen, der mich stark an Haushofers Wand, aber z.B. auch an Margaret Atwoods Handmaid’s Tale erinnert hat, nämlich I Who Have Never Known Men (Ü: Ros Schwartz, dt. Ausgabe Die Frau, die die Männer nicht kannte, Ü: Brigitte Große, leider vergriffen). Es handelt sich um einen postapokalyptischen Roman über eine Gruppe Frauen, die jahrelang in einem unterirdischen Bunker gefangen gehalten werden, ohne zu wissen, warum und von wem; eines Tages gelingt ihnen der Ausbruch, als ihre Bewacher überstürzt das Weite suchen und dabei einen Schlüssel fallen lassen. Die Frauen finden sich völlig verlassen in der Wildnis (womöglich sogar auf einem fremden Planeten?) wieder und kämpfen fortan gemeinsam ums Überleben, bis sie im Laufe der Jahr(zehnt)e alle nacheinander sterben und nur noch die jüngste der Frauen alleine übrig bleibt, die schließlich ihren Erfahrungsbericht aufschreibt - der Roman, den wir in der Hand halten. Sehr düster und melancholisch, aber auch ein extrem bewegender Text!
Muss ich über das berühmte Bärensexbuch wirklich noch was sagen??? Lest einfach alle endlich Marian Engels brillanten kanadischen Kultklassiker Bear (dt. Bär, Ü: Gabriele Brößke) über eine unscheinbare Bibliothekarin, die einen unvergesslichen Sommer auf einer abgelegenen Flussinsel im Norden Kanadas verbringt und dort u.a. dank eines halbzahmen Bären endlich zu sich selbst findet, und dankt mir hinterher!
Stella Bensons absurde Fantasy-Komödie Living Alone ist schon über hundert Jahre alt, die Geschichte über eine Hexe, die nicht nur ein Gästehaus für einsame Menschen betreibt, sondern auch die Sitzung eines Londoner Wohltätigkeitskomitees sprengt und fortan das Leben seiner Mitglieder ziemlich auf den Kopf stellt, liest sich aber unglaublich modern und frisch und witzig und es gibt Drachen und zu früh auferstandene Tote, die die Luftangriff-Sirenen mit den Trompeten, die zum Jüngsten gericht rufen, verwechseln, und einen magischen Hexenkampf auf fliegenden Besen über der Wolkendecke und und und!
Hexerisch geht es auch in Sylvia Townsend Warners grandiosem Spinster-Roman Lolly Willowes (Ü: Ann Anders) zu, in dem die titelgebende alleinstehende Heldin sich nach Jahren der selbstlosen Aufopferung endlich den Ansprüchen ihrer Familie entzieht, allein eine Hütte in einem abgelegenen Dorf bezieht und schließlich einen Pakt mit dem Teufel schließt.
Über Mary MacLanes seinerzeit bahnbrechendes Memoir I Await the Devil’s Coming (Ich erwarte die Ankunft des Teufels, Ü: Ann Cotten) habe ich an anderer Stelle bereits ausführlich geschrieben, deshalb sei hier nur erwähnt, dass es auch darin, wie der Titel schon vermuten lässt, teuflisch zugeht.
Ein Spinster-Roman der etwas anderen, da sehr sehr viel deprimierenderen Art ist F.M. Mayors The Third Miss Symons aus dem Jahr 1913: "The story of Henrietta Symons from her birth to her death, and the most perfect account in English fiction of those women who, through the ages, have neither married nor loved, the spinster, the maiden aunt, the surplus woman. Henrietta is the third daughter in a large Victorian family, the misfit girl without the beauty or the talent to be loved. Querulous, bad-tempered, her meaningless life passes aimlessly by. But Henrietta has one saving grace. She knows herself for what she is, and self-knowledge, however bitter, turns her life of defeat into a certain kind of victory." Ich habe selten so ein deprimierendes Buch gelesen, und trotzdem hat es mich irgendwie tief berührt.
Ein wenig deprimierend, oder zumindest melancholisch, wirkt zunächst auch Ida Jessens aus dem dänischen übersetzter Roman A Change of Time (Ü: Martin Aitken, leider bisher nicht auf Deutsch erschienen), der in der Form eines Tagebuchs aus dem Leben einer ehemaligen Lehrerin erzählt, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der dänischen Provinz lebt und dort nach dem Tod ihres Ehemannes, dem Arzt des kleinen Ortes, langsam versucht, sich wieder eine eigene Identität aufzubauen — er hat aber ein Happy End!
Christine Wolters Die Alleinseglerin ist erstmals 1982 in der DDR erschienen (und dort auch verfilmt worden) und wäre er nicht gerade eben im Ecco Verlag neu aufgelegt worden, hätte ich ihn ziemlich sicher nicht gelesen, obwohl ich von seiner Existenz schon länger wusste. Ich dachte aber, vorurteilsbehaftet, wie ich bin, dass Segeln als Thema mich wirklich so absolut überhaupt gar nicht interessieren und ich deshalb mit diesem Roman so gar nichts anfangen können würde — weit gefehlt! Die Ich-Erzählerin dieses kurzen Buches ist eine vielbeschäftigte Literaturwissenschaftlerin, die an ihrer Dissertation arbeitet, außerdem alleinerziehende Mutter, und darüber hinaus hat sie ein großes Problem: sie hat von ihrem Vater ein Segelboot übernommen, "einen Drachen – wunderschön, doch viel zu groß und viel zu kostspielig für sie. Bald verschlingt der Drachen all ihre Zeit und ihr Geld. Sie verbringt die Wochenenden nur noch am See, mit der Instandhaltung und Renovierung beschäftigt, oder läuft auf der Suche nach Lack, Sandpapier, Planstoff durch ganz Ostberlin. Die anderen Bootsbesitzer, alles Männer, belächeln sie – so ein Boot sei nichts für eine einzelne Person, schon gar nicht für eine Frau. Mehrfach versucht sie, den Drachen zu verkaufen, aber dann kann sie sich doch nicht von ihm trennen. Denn mit ihm entdeckt sie eine Freiheit, die sie weder in ihrem Land noch in einer Beziehung je finden konnte." Ich hätte es nie gedacht, aber Christine Wolter beschreibt die Herausforderungen, aber auch die Freiheiten des Segelns auf eine so mitreißende, poetische, überzeugende Art, dass ich absolut gebannt davon war und nun fast selber Lust habe, irgendwann mal auch in so ein Boot zu steigen!
Zusätzlich zu den bereits genannten Büchern, die ich alle mit großer Begeisterung gelesen habe, wartet natürlich auch noch ein ziemlich hoher thematisch relevanter Lesestapel mit Büchern über einsame Frauen bei mir zuhause darauf, dass ich endlich die Zeit für dessen Lektüren finde:
Von Alice Kollers Buch Inselzeit (Original: An Unknown Woman, Ü: Margaret Carroux, lange vergriffen) habe ich, wie so oft der Fall, auf dem wunderebaren Neglected Books-Blog erstmals gehört, und dass ich der Beschreibung auf dem Buchrücken der deutschen Ausgabe dann auch nicht widerstehen konnte, dürften niemanden wundern, der*die meinen Literaturgeschmack ein bisschen kennt: "Die Geschichte ist einfach: eine einsame Frau, eine Vergangenheit, ein Hund, eine Insel. Wer sie gerade erlebt, für den ist sie das einzige Abenteuer der Welt."
Auch auf Jessamyn West und ihr Memoir Hide and Seek (ebenfalls vergriffen und nie ins Deutsche übersetzt) bin ich über Neglected Books gestoßen, Brad stellt es dort als einen von zwei weiblichen Gegenentwürfen zu Thoreaus Walden vor (neben dem bereits genannten Buch von Alice Koller), und das hat mich natürlich sofort neugierig gemacht.
Ich weiß nicht mehr genau, wann und wo ich von Anne LaBastilles Woodswoman-Reihe gehört habe, aber auch ihr Allein in der Wildnis (Ü: Dieter Kuhaupt, vergriffen) scheint sich wunderbar in diesen Themenstapel einzufügen.
Den Hinweis auf Céline Minards Das große Spiel verdanke ich meiner Twitterbubble, in der das Buch einmal aufkam, als jemand anderes (hi, Solveijg!) dort nach "Frauen in Waldhütten"-Büchern fragte.
Dass der Titel von May Sartons Journal of a Solitude mich magisch angezogen hat, dürfte auch niemanden wundern, oder? Vor allem, nachdem mich letztes Jahr ihr Roman As We Are Now so begeistert hatte…
Karolina Ramqvist spürt in The Bear Woman (Ü: Saskia Vogel), einer Mischung aus Autofiktion und Essay, der historischen Figur der französischen Adligen Marguerite de la Rocque nach, die in den 1540er Jahren …
… was abandoned by her guardian on an island in the Gulf of Saint Lawrence with her maidservant and her lover. In present-day Stockholm, an author and mother of three becomes captivated by the image of Marguerite sheltered in a dark cave all alone after her companions have died. The image is an anchor that soon becomes an obsession. She must find out the real story of the woman she calls the Bear Woman. But so much in this history is written so as to gloss over male violence. And that maps and other sources she consults are at times undecipherable. […] Ramqvist explores what it means to write history, how women's stories have been told, and wonders, in this time of narrative fatigue and a new wave feminism that the author does not quite relate to, where we have gotten ourselves to.
Bären, historische Spurensuchen, Genrehybride — wenn das kein Magda-Bait ist, weiß ich auch nicht!
Das ich großer Agatha Christie-Fan bin, wisst ihr sicher alle, tatsächlich habe ich aber noch nie einen ihrer unter dem Pseudonym Mary Westmacott veröffentlichten Nicht-Krimi-Romanen gelesen. Anfangen werde ich deshalb mit Absent in the Spring, denn darin geht es um eine Frau mittleren Alters, die sich auf der Rückkehr von einer Irakreise plötzlich aufgrund einer Überflutung alleine in einem isolierten Haus wiederfindet und zum ersten Mal die Muße hat, über ihr Leben nachzudenken und der Wahrheit über ihre Persönlichkeit ins Auge zu sehen…
Ich habe vor eingier Zeit einen Non-Fiction-Text von Sara Baume (handiwork, über die Trauer um ihren Vater und über Kreativität und künstlerische Betätigung) gelesen, den ich toll fand, deshalb habe ich natürlich auch ihre Romane auf meine Leseliste gesetzt. In A Line Made by Walking geht es ebenfalls um eine Künstlerin, die ihrem urbanen Leben zu entfliehen versucht, indem sie in den leerstehenden ländlichen Bungalow ihrer verstorbenen Großmutter zieht…
"A woman leaves the man she lives with and moves to a low stone cottage in a university town. She joins an academic department and, high up in her office on the thirteenth floor, begins a research project on the poet Paul Celan. She knows nothing of Celan, still less of her new neighbours or colleagues. She is in self-imposed exile, hoping to find dignity in her loneliness. Like everywhere, the abiding feeling in the city is one of paranoia. The weather is deteriorating, the ordinary lives of women are in peril, and an unexplained curfew has been imposed…" — I mean, come on! Natürlich habe ich bei der Beschreibung Sarah Bernsteins The Coming Bad Days sofort auf meine Leseliste gesetzt!
Wenn ihr noch weitere gute Romane/Memoirs/Graphic Novels/… kennt, in denen Frauen allein in irgendwelchen Waldhütten hausen o.ä., dann lasst es mich unbedingt wissen! Ich für meinen Teil lese jetzt erstmal den frisch erschienenen Aufsatz von meiner Twitterfreundin Solvejg Nitzke über "Die Hütte als experimentelle Kontaktszene in Romanen von Marlen Haushofer, Laura Beatty und Céline Minard"!
Ich bin kein großer Fan von True Crime, egal ob als Buch, Podcast oder Netflix-"Doku", denn die allermeisten der diesem Genre zuzuordnenden Inhalte sind extrem reißerisch, ausbeuterisch und oftmals zutiefst misogyn und/oder rassistisch. Was nicht heißt, dass ich es grundsätzlich für unmöglich halte, bedacht und ohne diese zutiefst problematischen Aspekte über wahre Gewaltverbrechen und deren Auswirkungen zu schreiben. Schon in der Vergangenheit habe ich Bücher wie Hallie Rubenholds The Five (dt. Ü: Susanne Höbel) und Maggie Nelsons The Red Parts (Die roten Stellen, Ü: Jan Wilm), die den Fokus weg von den Tätern und zurück auf die Opfer der behandelten Gewaltverbrechen legen und die Art und Weise, wie in unserer Gesellschaft über solche Verbrechen berichtet wird, auch selbst thematisieren, mit großem Gewinn gelesen, und in den letzten Monate kamen aus dieser Richtung einige Bücher hinzu, die mich ebenfalls sehr überzeugt und bewegt haben.
Pat Barker, die ich vor allem für ihre während des ersten Weltkriegs spielende Regeneration-Trilogie aus den 1990ern schätze, veröffentlichte mit Blow Your House Down 1984 ihren zweiten Roman, der von der realen Mordserie des sogenannten "Yorkshire Rippers" (der zwischen 1975 und 1980 in Manchester und in West Yorkshire mindestens 13 Frauen ermordete und mindestens sieben weitere schwer verletzte) inspiriert ist. In Barkers Roman stehen eine Reihe von Working-Class-Frauen im Mittelpunkt, die in einer Stadt im Norden Englands als Fabrikarbeiterinnen und/oder als Prostituierte tätig sind, während dort ein Serienmörder, der es auf Prostituierte abgesehen hat, sein Unwesen treibt. Wir erleben den Alltag, vor allem aber auch die Ängste und Sorgen der Frauen, die trotz der Gefahrenlage nicht auf ihre Einnahmequellen verzichten können und sich von der Polizei nicht ausreichend beschützt fühlen — weshalb eine von ihnen schließlich beschließt, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen.
Mit den Morden des "Yorkshire Rippers" und vor allem der katastrophalen Ermittlungsarbeit und Berichterstattung durch Polizei und Presse befasst sich auch die Comickünstlerin Una in ihrem Graphic Memoir Becoming Unbecoming. Den Fokus legt sie dabei vor allem auf das Victim Blaming, das dieErmittlungsbehörden und die Presse betrieben haben, indem sie zwischen "unschuldigen" Opfern und "Frauen mit fragwürdigem Lebenswandel" unterschieden, was nicht nur die Ermittlungserfolge verzögerte (weil bestimmte Opfer nicht in das Bild, dass sich die Ermittlungsbehörden vom Muster der Morde gemacht hatten, passten, wurden bspw. lange Zeit entscheidende Hinweise, die schon viel früher zum Täter hätten führen können, ignoriert), sondern vor allem auch Unas eigenes Leben als junges Mädchen, das selbst sexualisierte Gewalt erfahren hat und dafür von ihrer Community beschämt und als "Schlampe" abgestempelt wurde, nachhaltig negativ beeinflusste.
Ein letztes Buch über die Frauenmorde in Yorkshire habe ich noch auf meiner Leseliste, und zwar Carol Ann Lees Somebody’s Mother, Somebody’s Daughter: True Stories from Victims and Survivors of the Yorkshire Ripper, was, wie der Titel vermuten lässt, ein ähnliches Prinzip verfolgt wie die bereits erwähnte Hallie Rubenhold in ihrem Buch über die fünf Opfer von Jack the Ripper.
Außerdem habe ich diese Woche einen Essayband wiedergelesen, der mich vor vier Jahren schon mal sehr begeistert und mich auch jetzt bei der Relektüre wieder sehr überzeugt hat. In Dead Girls: Essays on Surviving an American Obsession schreibt Alice Bolin u.a. über "the widespread obsession with women who are abused, killed, and disenfranchised, and whose bodies (dead and alive) are used as props to bolster mens’ stories." Sie untersucht dabei amerikanische Kultserien wie Twin Peaks, True Detective und Pretty Little Liars, beschäftigt sich mit dem Noir-Genre, mit sinistren Bildern des amerikanischen Nordwestens, mit Teenage Witches und mit Werwolfsfilmen als Pubertätsmetaphern, dokumentiert aber auch ihr eigenes Leben in Los Angeles und die zahlreichen Mythen über diese Stadt, wie sie von Autor*innen wie Joan Didion perpetuiert werden. Meine Leseliste ist nach der Lektüre dieser schlauen Essays wieder um mindestens 10 Titel gewachsen…
Nicht so überzeugt hat mich dagegen das andere Buch mit dem Titel Dead Girls, das ich diesen Monat gelesen habe, nämlich das der argentinischen Autorin Selva Almada (Ü: Annie McDermott). Darin geht Almada den Hintergründen von drei bis heute unaufgeklärten argentinischen Femiziden aus den 80er Jahren nach, denen drei aus unterschiedlichen Kleinstädten stammende Teenagermädchen zum Opfer fielen. Ich habe das Buch gelesen, weil ich dachte, dass darin ähnlich wie bei den Büchern von Hallie Rubenhold oder Carol Ann Lee der Fokus ganz klar auf den jeweiligen Opfern und deren individueller Geschichte liegen würde oder dass Almada ähnlich wie Una in ihrem Graphic Memoir herausarbeiten würde, wie diese Morde und die Berichterstattung darüber sie selbst in ihrem Heranwachsen beeinflusst haben. Beides geschieht aber leider nur sehr rudimentär, die drei Opfer Andrea Danne, María Luisa Quevedo und Sarita Mundín bleiben als Personen sehr blass und für die Leser*innen schwer voneinander unterscheidbar, und richtig uncomfortable hat mich gemacht, dass die Autorin als Recherche für ihr Buch auch mehrmals ein spiritistisches Medium aufgesucht hat, das vermeintlich Kontakt zu den drei ermordeten jungen Frauen aufgenommen hat — die Worte dieses Mediums legt Almada dann den drei Opfern in den Mund, als wären sie erwiesene Tatsachen statt reiner auf Gerüchten und Wunschdenken basierenden Spekulation.
Wesentlich besser gefallen hat mir da ein amerikanischer Krimiklassiker, den ich gerade zum zweiten Mal gelesen habe (und das will bei meiner allseits bekannten Krimiabneigung ja durchaus was heißen!). Ich habe ihn vor ziemlich exakt vier Jahren zum ersten Mal im englischen Original gelesen (Goodreads zufolge vom 22. bis 26. August 2018) und jetzt aus dem simplen Grund noch einmal danach gegriffen, dass er gerade (endlich!) in einer deutschen Neuübersetzung erschienen ist. Die Rede ist von Dorothy B. Hughes’ erstmals 1947 erschienenen Noir-Meisterinnenwerk In a Lonely Place (Ein einsamer Ort, Ü: Gregor Runge). Der Roman (ACHTUNG, ab hier gibt es SPOILER) ist im Los Angeles der Nachkriegszeit angesiedelt (deshalb passte er gut zu den Essays von Alice Bolin) und folgt dem ehemaligen Piloten Dix Steele, der sich nach seiner Ankunft in der Stadt in der Wohnung eines reichen Bekannten breit macht, nachts durch die Stadt streift und einsamen Frauen nachstellt und alles daran setzt, seine attraktive Nachbarin Laurel, eine auf den ersten Blick ganz noir-typische Femme Fatale, um den Finger zu wickeln. Außerdem nimmt Dix die Freundschaft zu seinem alten Kriegskameraden Brub und dessen kühler Frau Sylvia wieder auf und begibt sich damit auf ganz dünnes Eis — denn Brub ist inzwischen Ermittler bei der Polizei und gerade in die Aufklärung einer grausamen Mordserie verwickelt. Seit sechs Monaten — etwa genauso lang, wie Dix in der Stadt weilt — versetzt nämlich ein als "Würger" bekannter Serienmörder die Stadt in Angst und Schrecken, der bereits eine Reihe junger Frauen auf dem Gewissen hat. Dix beginnt ein nervenaufreibendes Katz- und Mausspiel mit Brub und seinen Kollegen, der festen Überzeugung, der Polizei immer einen Schritt voraus zu sein. Womit er in seinem abgrundtiefen Frauenhass nicht gerechnet hat, ist, dass ausgerechnet die Frauen in seinem Leben sich erfolgreich gegen ihn verschwören und ihn schließlich zu Fall bringen könnten… Dorothy Hughes beweist in diesem Thriller ein "unheimliches Gespür für den Zusammenhang zwischen Gewalt, Frauenhass und einer in Frage gestellten Männlichkeit" und stellt dabei die Konventionen des literarischen Hardboiled-Genres geschickt auf den Kopf. Große Empfehlung!
Zuletzt noch ein kurzer Hinweis auf einen Roman, den ich mir wirklich nur wegen des Titels gekauft habe und den ich gerade erst lese — inhaltlich kann ich also noch nicht allzuviel dazu sagen—, aber auch in Lucy Corins in Florida spielendem Everyday Psycho Killers: A History for Girls scheint es u.a. darum zu gehen, wie ein von (Berichten über) sexualisierter Gewalt und Femiziden geprägtes gesellschaftliches Umfeld das Heranwachsen von Mädchen und jungen Frauen nachhaltig beeinflussen.
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich voraussichtlich wieder an einem Mittwoch verschicken, irgendwann im September. Bis dahin findet ihr mich mit buchnahem Content auf Twitter.
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Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda
"Cloris" von Rye Curtis passt noch gut ins Genre!