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Ihr Lieben,
in der drückenden Hitze der letzten Woche fiel mir die Konzentration zum Lesen und Schreiben meistens ziemlich schwer, deshalb ist diese Ausgabe des Newsletters ausnahmsweise mal etwas kürzer als üblich und behandelt nur ein großes Thema. Ich habe euch aber trotzdem einen Haufen Buchtipps reingeschmuggelt! Los geht’s!
Ich habe letzte Woche (eher ungeplant) ein sehr gutes Buch über die Bewohner*innen eines Senior*innenhotels gelesen und dann führte irgendwie eins zum andern, ich habe meine Bücherstapel neu sortiert und dann wurden es plötzlich gleich drei Bücher über Senior*innenheime, die ich innerhalb weniger Tage verschlungen habe. Alle drei fan ich sehr gut, deshalb möchte ich euch heute davon erzählen:
Auslöser des Ganzen war Mrs Palfrey at the Claremont, der letzte zu ihren Lebzeiten erschienene Roman der englischen Schriftstellerin Elizabeth Taylor (keine Verwandschaft zur Schauspielerin gleichen Namens!), der 1975 für den Booker Prize nominiert war und dieses Jahr erstmals in deutscher Übersetzung (Mrs Palfrey im Claremont, Ü: Bettina Abarbanell) im Dörlemann Verlag erschienen ist. Darin geht es um die kürzlich verwitwete Mrs Palfrey, die sich mit ihrer Tochter nicht besonders gut versteht und daher nicht bei ihr einziehen kann und will. Deshalb bleibt Mrs Palfrey, die sich keinen eigenen Haushalt mehr leisten kann, nichts anderes übrig, als sich im Londoner Claremont-Hotel einzumieten, das seine schlechtesten Zimmer seit Jahren günstig an Langzeitgäste, hauptsächlich Senior*innen, vermietet. Ignoriert von der breiteren Gesellschaft und vernachlässigt von ihren Verwandten, kämpfen die exzentrischen Hotelbewohner*innen gemeinsam und doch einsam gegen die Langeweile, das Gefühl überflüssig zu sein, und die Angst vorm Tod. Mrs Palfrey selbst erlebt einen unerwarteten Lichtblick im tristen Hotelaltagg, als sie zufällig den jungen Schriftsteller Ludo kennenlernt, mit dem sie von nun an eine ungewöhnliche Freundschaft kultiviert…
Ein leiser, melancholischer und gleichzeitig unglaublich witziger Roman übers Altern und die Einsamkeit, der mich sehr berüht hat!
Als ich Taylors Roman beendet hatte, fiel mir ein, dass ich irgendwann letztes Jahr ein Buch über ein ähnliches Thema in einem Secondhand-Shop mitgenommen habe, nämlich May Sartons Roman As We Are Now (leider nicht ins Deutsche übersetzt), den ich dann gleich aus einem der vielen Bücherstapel hier befreit und gelesen habe. Wo Taylors Roman bei aller Melancholie dennoch von einem feinen Humor geprägt war, ist Sartons Geschichte ungleich düsterer und trauriger. Auch darin geht es um eine alte Dame, die ledige ehemalige Lehrerin Caroline Spencer, die psychisch noch fit, aber nach einem Herzanfall körperlich geschwächt ist und von ihrem Bruder und dessen Frau kurzerhand und gegen ihren Willen in ein Heim gesteckt wird, oder, wie sie es ausdrückt: "I am not mad, only old. . . . I am in a concentration camp for the old." Caroline leidet sehr unter den subtilen Erniedrigungen und Grausamkeiten, denen sie im Heim ausgesetzt ist. Um sich ihren Verstand und ihre Persönlichkeit zu bewahren, dokumentiert sie ihre Gedanken und Erlebnisse in einem Tagebuch, das quasi den Text des Romans ausmacht. Auch Caroline scheint einen kurzen Lichtblick zu erfahren, als die Heimleiterin Harriet Hatfield für einige Wochen in den Urlaub fährt und von der liebevollen und einfühlsamen Pflegerin Anna vertreten wird:
The room feels airy and clean when she has been there with her magic touch. No more dust under the bureau these days! But it is not that, it is being cared for as though I were worthy of care. It is being not humiliated but treasured.
Doch auch diese neue Verbindung, in der sie endlich wieder als Person anerkannt und wertgeschätzt wird, ist nicht von Dauer, der triste Alltag und die Übergriffigkeiten im Heim holen sie bald wieder ein, sodass Caroline sich schließlich entschließt, alle ihre verbleibenden Kräfte zusammenzunehmen und zurückzuschlagen, ohne Rücksicht auf Verluste …
Da ich eh schon so im Flow war, was Heimgeschichten betrifft, habe ich dann gleich noch die Lektüre von Leonora Carringtons aberwitzigem Roman The Hearing Trumpet (Das Hörrohr, Ü: Tilman Spengler) drangehängt. Auch darin geht es um eine geistig noch ziemlich fitte alte Dame, Marian Leatherby, die von ihren Verwandten in ein Heim abgeschoben werden soll:
"You are going away on a nice holiday, mother. You are going to enjoy it very much."
"My dear Galahad, don’t tell me such silly lies. You are sending me away to a home for senile females because you all think I am a repulsive old bag and I dare say you are right from your own point of view."
He stood mouthing at me, looking as if I had picked a live goat out of my bonnet.
"We expect you to be reasonable about all this," he yelled eventually. "You will be very comfortable and have a lot of company."
"My dear Galahad, I wonder what you consider being unreasonable? Do you mean that I might tear the house down brick by brick and stamp on it? Throw the television set off the roof? Ride off nakd on Robert’s revolting motor cycle? No, Galahad. I do not have the strength for any of these reactions. I have absolutely no choice except being what you call reasonable, you need not worry."
"You will find that you will be very happy mother, you will have all sorts of interesting pastimes and a trained staff to see that you are never lonely."
"I am never lonely, Galahad. Or rather I never suffer from loneliness. I suffer much from the idea that my loneliness might be taken away from me by a lot of mercilessly well meaning people. Of course I never hope that you will understand me, so all I ask is that you do not imagine that you are persuading me into something when you are actually forcing me against my will."
Was erstmal wie ein zwar sehr witziger, aber doch relativ konventionell erzählter Roman beginnt, entwickelt sich im Laufe der Geschichte zu einem surrealen, apokalyptischen Drama über den Klimawandel, die Suche nach dem heiligen Gral und die Wiederbelebung einer alten matriarchalen Religion, das mir einen Heidenspaß (höhö) bereitet hat.
Für die englische Neuausgabe des Romans hat die polnische Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk kürzlich ein tolles Vorwort geschrieben, das tatsächlich der Auslöser war, weshalb ich mir das Buch gekauft hatte (ihr könnt Tokarczuks Text hier nachlesen). Und dass ausgerechnet Tokarczuk dieses Nachwort schreiben durfte, ist nur folgerichtig, denn Carringtons Marian Leatherby ist eindeutig eine literarische Vorgängerin von Tokarczuks eigener Romanheldin Janina Duszejko aus dem großartigen feministisch-okkulten Krimi Der Gesang der Fledermäuse (Ü: Doreen Daume), den ich euch an dieser Stelle auch sehr ans Herz legen möchte.
Die aberwitzige "Geschichte in der Geschichte" um die geheimnisvolle gralssuchende Äbtissin Doña Rosalinda Alvarez Cruz della Cueva, die in The Hearing Trumpet erzählt wird, erinnerte mich übrigens auch an einige der grandiosen Erzählungen aus John Keenes Counternarratives (einer meiner absoluten Lieblings-Erzählungssammlungen of all time!), in denen es ebenfalls um okkulte und anderweitig ungewöhnliche Ereignisse hinter Klostermauern geht. Auch dieses Buch sei euch daher sehr empfohlen!
Bevor wir das Thema literarische Seniorinnen abschließen, möchte ich ein weiteres Buch, das für die nähere Zukunft auf meiner persönlichen Leseliste steht, nicht unerwähnt lassen, nämlich den japanischen Roman Dendera von Yuya Sato (engl. Ü: Nathan A. Collins und Edwin Hawkes). Darin geht es um die alte Kayu Saito, die von ihrem Dorf gemäß einer lagjährigen Tradition am Fuße eines verschneiten Berges dem Tod überlassen wurde. Doch Kayu überlebt und findet sich bald in der utopischen Gemeinschaft Dendera wieder, die über Jahrzehnte hinweg von den alten Frauen aufgebaut wurde, die wie sie von ihren Verwandten am Fuße des Berges zurückgelassen worden waren. Laut Beschreibung sehen die Frauen der Gemeinschaft sich bald einem gemeinsamen Feind ausgesetzt, nämlich einer hungrigen Bärin, und wenn Bären in einem Buch vorkommen, ist ja eh vollkommen klar, dass ich es irgendwann lesen muss!
Ich habe mich vorgestern sehr über die Nachricht gefreut, dass die simbabwische Schriftstellerin, Filmemacherin und Aktivistin Ttsitsi Dangarembga mit dem diesjährigen Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet werden soll.
Ein Interview mit ihr könnt ihr hier im Börsenblatt lesen.
Dangarembgas Debütroman Nervous Conditions war damals bei seinem Erscheinen 1988 der erste von einer schwarzen Frau veröffentlichte Roman in ihrer Heimat Simbabwe, für den dritten Teil This Mournable Body ihrer semi-autobiographischen Romantrilogie über die Dynamiken von Race, Gender und Kolonialismus war sie letztes Jahr für den Booker Preis nominiert. Nervous Conditions ist vorletztes Jahr in der Übersetzung von Ilja Trojanow unter dem Titel Aufbrechen in einer Neuauflage im Orlanda Verlag erschienen; Anette Grubes Übersetzung von This Mournable Body unter dem Titel Überleben hat der Verlag für diesen September geplant. Beide Bücher solltet Ihr Euch unbedingt vormerken!
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer (Einige Leser*innenvorschläge hebe ich mir noch auf für zukünftige Ausgaben, falls mir mal selbst die Ideen ausgehen).
Den nächsten Newsletter werde ich wieder an einem Mittwoch verschicken, vermutlich in zwei Wochen, vielleicht auch erst in drei. Bis dahin findet ihr mich auf Twitter.
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Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda