Von Bücherdieben, Zettelwirtschaft und Schneeballsystemen
und warum ich von einer "Medieval Lesbian Nun Utopia" eher enttäuscht war
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Ihr Lieben,
die letzten beiden Wochen fühlte ich mich, wie vermutlich auch viele von euch, pandemietechnisch/mental in meinen nervösen Zustand von Frühjahr 2020 zurückversetzt und konnte partout nicht die Energie bzw. Motivation aufbringen, eine neue Ausgabe meines Newsletters zu schreiben. Aber ich will euch auch nicht zu lang auf dem Trockenen sitzen lassen, deshalb heute ein kleines Lebenszeichen meinerseits, wenn auch kürzer als üblich. Angesichts des gerade beginnenden Weihnachtsgeschäfts in der Buchhandlung werde ich auch in den nächsten Wochen mit meinen Kräften sehr gut haushalten müssen, deshalb werden auch die nächsten ein bis zwei Ausgaben, so ich sie denn zeitlich überhaupt schaffe, eher knapp ausfallen, bevor ich euch dann zum richtigen Jahresende in der letzten Dezemberwoche voraussichtlich einen Mega-Monster-Newsletter-Rückblick auf mein literarisches Jahr 2021 präsentieren werde.
Aber nun zum Wesentlichen!
Wer nicht nur diesen Newsletter, sondern auch meinen Twitteraccount regelmäßig verfolgt, weiß, dass ich, trotz aller berechtigten Kritik an True Crime als Genre, in den letzten Monaten eine kleine Obsession mit einem echten Kriminalfall entwickelt habe.
Was Anfang Juli mit einem harmlosen Tweet begann, hat inzwischen so weite Kreise gezogen, dass der mysteriöse Diogenes-Dieb es jetzt sogar mit einem ganzseitigen Artikel im Print-Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung geschafft hat. Für diesen tollen Artikel (leider mit Paywall) hat mich die Journalistin Anna Vollmer vor zwei Wochen ausführlich interviewt und ich bin hin und weg von dem Ergebnis und vor allem von dieser grandiosen Illustration:
Solltet ihr sachdienliche Hinweise über Herrn Urban besitzen, meldet euch bitte bei mir! Nicht, weil ich irgendetwas mit der offiziellen Ermittlung am Hut hätte, sondern schlicht und ergreifend deshalb, weil ich verdammt neugierig bin! (Stellt euch mal vor, Herr Urban läse meinen Newsletter! Wie lustig wäre das?)
In Buchhandlungen gehen ziemlich häufig Bücher verloren. Manche werden geklaut, manchmal wurde innerhalb des Warenwirtschaftssystems irgendwo unsauber gearbeitet, so dass die tatsächlichen Lagerbestände nicht mit der im Computer hinterlegten Anzahl übereinstimmen, und manchmal, bzw. meistens, stellen unsere Kund*innen ein Buch einfach an irgendeiner beliebigen Stelle, oft in der thematisch völlig falschen Abteilung, ins Regal zurück, so dass wir es tagelang verzweifelt suchen, irgendwann frustriert “schwunden” (aka den Bestand im WWS runterkorrigieren) und dann manchmal Wochen später doch bei einer Inventurrunde o.ä. zufällig wiederfinden. Auf diese Weise ist mir neulich ein Buch in die Finger gefallen, von dem ich zuvor noch überhaupt nie gehört hatte, obwohl es anscheinend schon seit über einem halben Jahr in unserem Laden herumgeisterte: Annemarie von Matt. Meine Nacht schläft nicht. Schon beim ersten Druchblättern fiel mir auf, was für ein ungewöhnliches Buch dieses “Porträt in Originaltexten” war, es schien nämlich aus lauter kurzen fragmentarischen Texten zu bestehen, die unter verschiedenen alphabetisch sortierten Stichwörtern wie in einem Nachschlagewerk angeordnet waren. Ich hatte keine Ahnung, wer Annemarie von Matt war, aber die ersten paar zufällig aufgeschlagenen Seiten faszinierten mich so, dass ich mir das Buch spontan kaufte und noch am gleichen Abend darin zu lesen begann.
Und ich war sofort hin und weg (wer mir auf Twitter folgt, kann das anhand meiner vielen vielen Zitattweets der letzten Woche bezeugen).
Annemarie von Matt war eine Schweizer Malerin, Graphikerin und Schriftstellerin (1905-1967), die gegen Ende ihres Lebens immer zurückgezogener in Stans im Kanton Nidwalden lebte und deren künstlerisches und schriftstellerisches Werk zu ihren Lebzeiten nur wenig Beachtung fand:
Seit Anfang des 21. Jahrhunderts ist Annemarie von Matts schriftlicher Nachlass für Interessierte zugänglich. Seitdem sind mehrere Publikationen erschienen, welche die Stanser Künstlerin meist mit bildnerischen und literarischen Werken vorstellen. Trotz positiver Aufnahme dieser Arbeiten durch die Kritik und Öffentlichkeit erhält sie als Schreibende und Wortkünstlerin nicht die Anerkennung, die sie wegen ihrer ungewöhnlichen Texte haben müsste. Sie ist auch in keiner Schweizer Literaturgeschichte erwähnt. Die Schwierigkeit im Umgang mit ihren Schriften liegt darin, dass sie nicht als ein klar definiertes Genre wie Erzählung, Roman oder Gedicht vorliegen […].
Tatsächlich hat Annemarie von Matt nämlich ihre Textfragmente größtenteils mit Bleistift auf losen Zetteln, Briefumschlägen, Schokoladenpapieren, usw. verfasst und später zwar selbst archiviert und katalogisiert, aber zu Lebzeiten nicht für eine Veröffentlichung bearbeitet. Der im Limmat erschienene Band wurde von Roger Perret im Rahmen einer Ausstellung zu Annemarie von Matts Werk im Nidwaldner Museum in Stans zusammengestellt; “Neben der Form des Hand- und Lesebuchs ist der Band auch eine Art Selbstportät und kann als biografische Einführung in das Leben und Werk dieser unverwechselbaren Persönlichkeit gelesen werden.” Es kann nicht nur, es sollte auch sehr dringend gelesen werden! Definitiv eine meiner liebsten literarischen Entdeckungen dieses Jahr!
(Und wie das immer so ist, führt mal wieder eins zum andern und jetzt habe ich dank Annemarie von Matt plötzlich Lust auf noch mehr verstreute, fragmentarische, undefinierbare Texte von (bildenden) Künstlerinnen und habe deshalb meine Ausgaben der Werke von Meret Oppenheim und Unica Zürn wieder hervorgekramt…)
Vor zwei Jahren habe ich begeistert Lauren Groffs Kurzgeschichtenband Florida gelesen, außerdem hege ich schon länger ein Faible für Nonnen- und Klostergeschichten und wenn ein Buch damit angekündigt wird, dass darin überhaupt keine Männer vorkommen, bin ich verständlicherweise eh sofort Feuer und Flamme. Entsprechend groß war bei mir seit Monaten die Vorfreude auf Lauren Groffs neuen Roman Matrix (bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt), der in einem mittelalterlichen Nonnenkloster spielt. Ich kaufte ihn mir sofort nach Erscheinen, dann landete er erstmal für ein paar Wochen auf dem bedrohlich wackligen Stapel neben meinem Bett, und letzte Woche war ich dann endlich in der richtigen Stimmung dafür. Leider hielt meine Begeisterung nicht besonders lange an und ich musste mich bald eher zum Weiterlesen zwingen…
Groffs Roman ist inspiriert von Marie de France, einer historischen Persönlichkeit, die als erste französischsprachige Dichterin gilt und über deren Leben wenig bzw. über ihren Namen hinaus eigentlich gar nichts bekannt ist. Maries bekanntestes Werk sind die sogenannten Lais, zwölf Verserzählungen, in denen keltische Märchen- und Sagenstoffe verarbeitet wurden. Lauren Groff macht Marie zu einer unehelichen Halbschwester von Henry II. von England, die, weil sie zu wild, grobschlächtig und unansehnlich für das höfische Leben oder eine strategisch arrangierte Heirat ist, von Henrys Ehefrau Eleonore von Aquitanien in ein verarmtes und heruntergekommenes Nonnenkloster in England geschickt wird. Der Roman folgt ihr nun von ihrer Ankunft als widerspenstige, atheistische 17jährige durch mehrere Jahrzehnte Klosterleben, in denen Marie als Äbtissin ihre Macht und ihren Einfluss immer weiter ausbaut und die ihr unterstehende Abtei in eine Art weibliche Utopie verwandelt, bis zu ihrem Tod. Der erste Punkt, der mich an dem Roman gestört hat, ist die Tatsache, dass Groff darin die tatsächliche Pionierleistung, dank derer Marie de Frances Name heute überhaupt noch bekannt ist — nämlich ihr schriftstellerisches Werk — zugunsten rein fiktiver, immer absurder anmutender Wundertaten unter den Tisch fallen lässt — die berühmten Lais werden beispielsweise auf nur etwa einer halben Seite abgehandelt. Die “absurden Wundertaten” bringen mich zu meinem zweiten Kritikpunkt, denn was mich noch viel mehr irritiert hat, ist, dass der Roman keinerlei klassischen Spannungsbogen vorweisen kann. Das ist allgemeiner betrachtet erstmal nicht unbedingt ein Problem, es gibt durchaus einige “langweilige” Bücher, in denen “nichts passiert” und die ich trotzdem sehr gerne gelesen habe. Und auch minutiöse Beschreibungen alltäglicher Haus- und Landarbeiten schrecken mich normalerweise überhaupt nicht ab (ich liebe ja z.B. Marlen Haushofers Die Wand oder die Lark Rise to Candleford-Trilogie von Flora Thompson). Bei Matrix ist der springende Punkt eher die Tatsache, dass Marie darin das ist, was man in der Fanfiction-Welt eine “Mary Sue” nennen würde. Alles fliegt ihr zu, sie ist die schlauste von allen und auch eigentlich die einzige Klosterbewohnerin, die zu wirklich eigenständigem, visionären Denken fähig ist, und es ergibt sich auf den über 250 Seiten kein einziges Problem oder Hindernis für Marie und ihr Kloster, das sie nicht innerhalb von ein bis zwei Seiten vollständig aus der Welt geschafft hätte. Das hat es mir (neben anderen Kritikpunkten, die hier zu weit führen würden, ich habe auch noch andere Themen für diese Newsletterausgabe vorgesehen) sehr schwer gemacht, die Motivation zum Weiterlesen aufrecht zu erhalten. Dafür, dass in dem Buch keine Männer vorkommen und alle glücklich und zufrieden in ihrer rein weiblichen Utopie leben, war mir der häufige lesbische Sex in dem Roman außerdem irgendwie viel zu leidenschaftslos.
Die meisten der Besprechungen von Matrix in englischsprachigen Medien sind geradezu hymnisch, was bei all meinem Selbstbewusstsein als (profesionelle) Leserin doch häufig dazu führt, dass ich mein eigenes Urteil erstmal infrage stelle. Im (sowieso sehr empfehlenswerten) Newsletter Kultur und Kontroverse von Johannes Franzen bin ich aber gestern früh erfreulicherweise über einen Link zu einer ausführlichen Rezension in der New York Review gestolpert, in der Irina Dumitrescu viel eloquenter als ich darlegt, was auch mich an dem Roman so irritiert hat (sie erklärt außerdem, warum der Roman sich aus vielen weiblichen Orgasmen zusammensetzt und trotzdem nicht heiß ist).
In der allerersten Ausgabe dieses Newsletters habe ich damals Lesen als ein Pyramid Scheme bezeichnet, und auch wenn mir Lauren Groffs neuester Roman nicht so wirklich gefallen hat, ist er doch die perfekte Illustration für diese Art von Schneeballsystem, in dem ich mich dank meines seltsam funktionierenden Gehirns regelmäßig verfange. Deshalb folgt nun ein Versuch meinerseits, für euch Außenstehende einigermaßen plausibel nachzuzeichnen, wie genau die Lektüre eines einzigen, eher durchwachsenen Romans innerhalb weniger Tage zu über 15 weiteren Büchern auf meinem unmittelbaren Lesestapel führt.
Als erstes habe ich logischerweise, noch mitten in der Lektüre von Matrix, nach Ausgaben der Lais von Marie de France recherchiert. Jemand hat mich außerdem, als ich über Groffs Roman gejammert habe, auf die französische Mediävistin Régine Pernoud aufmerksam gemacht, die u.a. ein (Sach)Buch über Eleonore von Aquitanien (welche ja in Groffs Roman eine wichtige Rolle spielt) geschrieben hat, nämlich Königin der Troubadoure. Eine genauere Recherche hat dann ergeben, dass Pernoud auch über andere wichtige “Women of Letters” geschrieben hat, z.B. über Christine de Pizan, Hildegard von Bingen und Héloïse, und, naja, das Ende vom Lied könnt ihr euch vermutlich denken…
Beim Lesen von Matrix ist mir außerdem wieder eingefallen, dass ich vor mehreren Jahren mal eine historische YA-Fantasy-Trilogie zu lesen begonnen, aber nie beendet habe, in der es um ein mittelalterliches bretonisches Kloster geht, in dem junge Frauen zu Assassininnen (also politischen Auftragsmörderinnen) ausgebildet werden, und dass ich die eigentlich irgendwann mal weiterlesen könnte. Diese sogenannte His Fair Assassins-Reihe von Robin LaFevers wurde unter den Titeln Grave Mercy — Die Novizin des Todes, Dark Triumph — Die Tochter des Verräters und Mortal Heart — Das Erbe der Seherin auch (in den Übersetzungen von Michaela Link) auf Deutsch bei cbj veröffentlicht, ist aber inzwischen leider vergriffen.
Nur weil Matrix eher underwhelming war, heißt das natürlich nicht, dass ich den Klosterromanen nun abschwöre. Tatsächlich bin ich jetzt umso motivierter, endlich mal Robyn Cadwalladers The Anchoress (über eine Nonne, die sich im England des 13. Jh. in eine Zelle neben der Dorfkirche einmauern lässt), Kate Horsleys Confessions of a Pagan Nun, Sylvia Townsend Warners The Corner That Held Them (über das Leben in einem Kloster von dessen Gründung im 12. Jh. bis ins Jahr 1382) oder Ria Endres’ Fresko ohne Blau zu lesen, die sich teilweise seit mindestens vorletztem Jahr bei mir zuhause stapeln. Nicht abgebildet (da ich es nur als eBook besitze) ist außerdem Nicola Griffiths historischer Roman Hild (über die englische Heilige Hilda of Whitby, die im 7. Jh. ein Kloster gründete), über den ich schon viel Gutes gehört habe und den ich deshalb eigentlich schon lange gelesen haben wollte.
Nicht ganz so mittelalterlich, aber ebenfalls klösterlich geht es in den drei Virago Modern Classics zu, die nun dank Matrix wieder nach ganz oben auf meinem Lesestapel gewandert sind: Rumer Goddens In this House of Brede (1969; Godden hat außerdem noch ein zweites bzw. erstes Klosterbuch geschrieben, nämlich 1939 Black Narcissus), Kate O’Briens The Land of Spices (1941) und Antonia Whites Frost in May (1933).
Weil ich bei der Lektüre von Matrix so irritiert war, musste ich in der letzten Zeit ständig an einen anderen historischen Roman über eine literarische Pionierin denken, den ich viel gelungener fand, nämlich Danielle Duttons Margaret the First über Margaret Cavendish, Herzogin von Newcastle, die 1666 mit The Blazing World einen der frühesten Science Fiction-Texte der englischen Literaturgeschichte verfasst hat. Es ist schon einige Jahre her, dass ich ihn gelesen habe, aber plötzlich habe ich das dringende Bedürfnis nach einem Reread. Außerdem haben die ganzen Visionen von Marie, die in Matrix beschrieben werden, mich daran erinnert, dass ich immer noch nicht Huw Lemmeys Buch Unknown Language gelesen habe, ein Buch, das, soweit ich es verstanden habe, u.a. die Texte von Hildegard von Bingen remixt, um daraus etwas völlig neues zu machen, und vom Verlag als “a mutant fiction of speculative mysticism” bezeichnet wird. Keine Ahnung, was genau mich da erwartet, aber es klingt unglaublich spannend!
Und prompt sind schon wieder zwei Lesemonate verplant. So schnell kann’s gehen! Wie ich mich kenne, werde ich alle diese Pläne spätestens nächste Woche eh wieder über den Haufen werfen, weil mich irgendein neues Thema packt, und dann wird es wieder in ein Schneeballsystem ausarten und eines hoffentlich fernen Tages werde ich begraben unter einem Berg aus ungelesenen, aber gehamsterten Büchern sanft entschlummern…
Das war’s also für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich wieder an einem Mittwoch verschicken, vermutlich in zwei Wochen, vielleicht auch schon in einer oder erst in drei. Bis dahin findet ihr mich wie immer mit buchnahem Content auf Twitter.
Sollte diese Ausgabe nicht in eurem Postfach auftauchen, dann checkt euren Spam-Ordner und fügt ggf. diese Mailadresse eurem Adressbuch hinzu. Grundsätzlich könnt ihr alle alten Ausgaben des Newsletters auch jederzeit im Archiv auf der Substack-Seite nachlesen.
Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda