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Ihr Lieben,
ein frohes neues Jahr euch allen! Ich hoffe, ihr habt einen guten Jahreswechsel gehabt und könnt einigermaßen mit Zuversicht auf die nächsten 12 Monate blicken.
Ich freue mich ganz besonders auf die nächsten zehn Wochen, in denen ich mit einigen von euch gemeinsam in einem Online-Lesekreis Amalie Skrams Romantetralogie Die Leute vom Hellemyr lesen und diskutieren werde. Alle Infos zum Ablauf des Lesekreises findet ihr hier:
In den nächsten Monaten stehen noch weitere aufregende Projekte für mich an, von denen ich euch zu gegebener Zeit natürlich ausführlich berichten werde. Zunächst möchte ich aber, wie im letzten Newsletter versprochen, auf mein Lesejahr 2022 und meine Lieblingslektüren der letzten 12 Monate zurückblicken:
Wie bereits bei meinem letzten Jahresrückblick konzentriere ich mich wieder auf die 2022 gelesenen und nicht die 2022 erschienenen Bücher, denn von den insgesamt exakt 200 Büchern, deren Lektüre ich im letzte Kalenderjahr beendet habe, sind nur etwas mehr als die Hälfte innerhalb der letzten zwei Jahre erschienen oder neu aufgelegt worden — meine restlichen Lektüren waren entweder Bücher von zeitgenössischen Autor*innen, die schon vor ein par Jahren erschienen sind, oder natürlich auch sehr sehr viele alte, oftmals schon lange vergriffene Bücher, die ich mir antiquarisch gekauft und in öffentlichen Bücherschränken gefunden habe etc. Wie letztes Jahr werde ich auch diesmal wieder auf ein Ranking o.ä. verzichten und euch einfach einen Überblick geben über einige (viele) der Bücher, die ich 2022 mit Gewinn gelesen habe, von denen aber einige in diesem Newsletter bisher noch nicht oder nur am Rande vorkamen:
Sachbuch/Essays:
Ich lese viel viel weniger Sachbücher als Belletristik, und wenn ich dochmal zu einem Sachbuch greife, dann am liebsten zu Essaysammlungen oder Biografien. Diese haben mir im letzten Jahr besonders gefallen:
Ruth Franklin, Shirley Jackson. A Rather Haunted Life: Ich durfte letztes Jahr zusammen mit Nicole Seifert, die Shirley Jacksons hochkomischen autobiografisch inspirierten Roman Krawall und Kekse (orig. Life among the Savages) neu ins Deutsche übersetzt hat, in einem Insta-Talk des Arche Verlags auftreten. Zur Vorbereitung habe ich Ruth Franklins sehr gute und v.a. umfangreiche Biografie über Jackson (eine meiner Lieblingsautorinnen) gelesen.
Tillie Olsen, Silences (dt. Was fehlt, Ü: Nina Frey/Hans-Christian Oeser): Tillie Olsens bahnbrechendes Buch über marginalisierte Stimmen in der Literatur, das erstmals in den 70er Jahren erschien, habe ich vor mehreren Jahren schonmal begeistert gelesen, meine neueste Lektüre diente der Vorbereitung für einen Insta-Live-Talk über Tillie Olsens deutsche Wiederentdeckung im Aufbau Verlag, das ich moderieren durfte. Auch beim zweiten Mal fand ich das Buch wieder sehr augenöffnend.
Julie Phillips, The Baby on the Fire Escape: Creativity, Motherhood, and the Mind-Baby Problem: Weil ich mich wegen Shirley Jackson und Tillie Olsen eh schon so viel mit Schreiben und Mutterschaft beschäftigt hatte, habe ich dann gleich auch noch Julie Phillips’ biografische Essays über erfolgreiche Künstlerinnen und Schriftstellerinnen, die außerdem Mütter waren, gelesen. Insgesamt hätte ich mir bei dem Buch den Fokus etwas mehr auf einer tiefergehenden Analyse statt auf den verschiedenen biografischen Beschreibungen gewünscht, trotzdem hat es mir viele Anregungen für weitere Lektürepfade gegeben.
Lilian Peter, Mutter geht aus: Um Mütter geht es auch in Lilian Peters ganz fantastischer, komplexer, verspielter Essaysammlung, außerdem reichen die Themen, über die Peter schreibt, "vom Spielen als Kind im Haus der Großmutter zu Thomas Mann’schen Familienkonstellationen, von Momenten der Flugangst zur Geschichte der Lufthansa, von der Kulturgeschichte des Verbeugens zum Murmeln der tausend Dörfer, aus denen Tokyo besteht". Besonders gefallen hat mir ein langer Brief, den die Autorin an den nicht gerade für seinen Feminismus bekannten Philosophen Hegel richtet.
Amia Srinivasan, The Right to Sex (dt. Das Recht auf Sex, Ü: Anne Emmert/Claudia Arlinghaus): Srinivasans Essays über Lust und Macht, Consent, #MeToo und Rape Culture, Pornografie, Freiheit und Diskriminierung uvm. sind mit das beste, was ich in den letzten Jahren zu diesem Themenkomplex gelesen habe.
Elvia Wilk, Death by Landscape: Elvia Wilks futuristischen Roman Oval (dt. Ü: Julia Wolf) über Beziehungen, Berlin und die Bebauung des Tempelhofer Felds habe ich noch nicht gelesen, aber ihren neuen Essayband fand ich ganz fantastisch. Es geht darin um die Liebe, um den Tod, um Pflanzen und um Weird Fiction, ein Genre, das mich shccon lange sehr fasziniert. Beim Lesen der Essays habe ich dann auch ganz viele überrschende, zufällige Überschneidungen mit und Parallelen zu anderen meiner Lektüren aus dem gleichen Zeitraum bemerkt. Autor*innen, auf deren Werk sich Wilk in ihren Texten bezieht, sind z.B. Doris Lessing, Jenny Hval, Anne Carson, Octavia Butler, Michelle Tea, Helen Phillips, Mark Fisher, Donna Haraway, und Jeff und Ann VanderMeer und von allen von ihnen möchte ich jetzt unbedingt mehr oder berhaupt endlich mal etwas lesen.
Margo Jefferson, Constructing a Nervous System: Vor Jahren, als ich zum ersten Mal bewusst anfing, mich gezielt mir Schwarzen Perspektiven auseinanderzusetzen, habe ich Margo Jeffersons Memoir Negroland gelesen und sehr gemocht, deshalb habe ich mir ihr neuestes Buch sofort nach Erscheinen gekauft. Jefferson selbst nennt ihr Buch eine "temperamental autobiography", bestehend aus unterschiedlich langen Prosafragmenten, die memoiristisches Schreiben mit kulturwissenschaftlichen Betrachtungen über Literatur, Musik, Kunst, Film und Fernsehen uvm. vermischen.
Alice Bolin, Dead Girls: Diese (oft sehr persönlichen) Essays über amerikanische Popkultur und deren Obsession mit toten (ermordeten) Mädchen und jungen Frauen habe ich vor mehreren jahren schon einmal gelesen und auch bei der Relektüre haben sie mich nach wie vor sehr beeindruckt und mir neue Denkanstöße gegeben.
Brian Dillon, Suppose a Sentence: Brian Dillons Buch versammelt zahlreiche unterschiedlich lange Essays des Autors, die jeweils einen einzelnen (für Dillon persönlich bedeutsamen) Satz von Schriftsteller*innen wie George Eliot und Joan Didion, John Donne und Annie Dillard, zum Ausgangspunkt nehmen, um über Fragen von Stil, Erzählstimme, literarischen Kontext etc. nachzudenken. Ein sehr genauer Blick auf die (fast) kleinsten Bausteine von Literatur!
Antje Rávik Strubel, Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss: Ich habe noch keinen von Antje Rávik Strubels Romanen gelesen, aber ihre gesammelten Reden und Essays, die letztes Jahr erschienen sind, haben mich aufgrund ihrer Covergestaltung sofort fasziniert. In den enthaltenen Texten plädiert sie für "einen spielerischen, abenteuerlichen, wagemutigen Umgang mit Sprache, für ein emphatisches und aufmerksames Miteinander und eine Vielfalt der Lebens- und Liebesweisen", denkt über Autorinnen wie Virginia Woolf und Selma Lagerlöf nach und macht Lust, sich doch auch mal an ihre anderen Bücher zu wagen.
Lyrik:
Ich behaupte immer, ich würde nicht so gern und viel Lyrik lesen, aber einige Bände haben es mir letztes jahr doch sehr angetan:
Monika Vasik schreibt in Knochenblüten kurze poetische Portraits über zahlreiche feministische Pionierinnen aus aller Welt. Screenshots und Fotos einzelner Gedichte von Mary Oliver kamen mir in den letzten Jahren immer wieder auf Twitter unter, mit Felicity habe ich jetzt endlich mal einen ganzen Gedichtband von ihr gelesen und verstehe jetzt sehr gut, warum sie von vielen Leuten so geschätzt wird. Der dicke Band mit ihren gesammelten Gedichten wartet schon auf meinem Nachttischstapel! Sowohl Anna Hetzers (deutschsprachiger) neuer Lyrikband Pandoras Playbox als auch die beiden Gedichtbände Ephemeron und Vertigo & Ghost der englischen Dichterin Fiona Benson setzen sich u.a. aus einer feministischen (im Falle von Hetzer außerdem queeren) Perspektive mit griechischer Mythologie auseinander und beide Autorinnen haben es mir sehr angetan. V.a. Benson würde ich als meine wichtigste lyrische Entdeckung des Jahres bezeichnen. Die feministischen Proteste im Iran haben mich außerdem im letzten Jahr dazu veranlasst, mich ein wenig näher mit iranischer Literatur zu befassen. Die Gedichte der 1967 sehr jung verstorbenen iranischen Dichterin und Filmemacherin Forugh Farrokhzad habe ich in einer englischen Ausgabe (Sin. Selected Poems) in der Übersetzung von Sholeh Wolpé gelesen und war unglaublich beeindruckt.
Comics/Graphic Novels:
2022 war für mich das Jahr, in dem ich endlich einigermaßen in die Welt der Graphic Novels und Comics hineingefunden habe, nachdem ich mich mit diesem Format in der Vergangenheit immer eher schwer tat. Besonders gut gefallen haben mir diese hier:
Max Baitinger, Sibylla: Max baitinger setzt sich in diesem Comic auf ästhetisch für mich sehr ansprechende Art, mit viel Witz und metafiktionalen Elementen, mit dem Leben der Greifswalder Barockdichterin Sibylla Schwarz auseinander.
Mein erfolgreicher Einstieg in die Graphic Novel-Lektüre begann ja 2021 mit einem Horrorcomic, und auch 2022 bin ich dem Genre treu geblieben:
Emily Carroll, Through the Woods: Emily Carrolls in diesem Band versammelten gruseligen, oft an klassische Märchen erinnernden Erzählungen sind zeichnerisch wunderschön umgesetzt und gehen mir inhaltlich teilweise immer noch nach — auf die gute Art!
Erik Svetoft, SPA (Ü: Andreas Donat): Diese schwedische Graphic Novel über die seltsamen Vorgänge in einem luxuriösen Spa-Hotel ist herrlich seltsam und surreal, stellenweise fühlt man sich wie in einem Fiebertraum und weiß nie, welche neue Seltsamkeit eine hinter der nächsten Ecke der labyrinthischen Hotelflure erwartet.
Auch Coming-of-Age-Geschichten lassen sich in Comicform sehr gut erzählen, diese zwei haben es mir im letzten jahr besonders angetan:
Mariko Tamaki/Jillian Tamaki, Skim: Diese Highschool-Geschichte über ein Wicca praktizierendes Teenagermädchen, die u.a. mit der langsamen Auflösung einer vormals engen Freundschaft, dem Suizid eines Mitschülers und ihrem Crush auf eine Lehrerin zu kämpgen hat, steckt voller 90s-Nostalgie, den zugehörigen Soundtrack hatte ich beim Lesen sofort im Ohr.
Vera Brosgol, Anya‘s Ghost: Brosgols Comic erzählt ebenfalls aus dem Leben einer Schülerin, allerdings sind hier auch noch Elemente einer Gruselgeschichte mit eingeflochten. Die Protagonistin Anya ist als Kind mit ihrer Familie aus Russland in die USA gezogen, wo sie neben normalen Teenie-Alltagsproblemen auch noch mit dem daraus resultierenden Identitätskonflikt zu kämpfen hat. Als sie eines Tages versehentlich in eine tiefe Grube im Park stürzt, begegnet sie dort dem Geist eines Mädchens, das behauptet, vor rund hundert Jahren an dieser Stelle ermordet worden zu sein. Zunächst freut Anya sich über die neue Bekanntschaft, doch schon bald beginnt sie an der Geschichte ihrer spukenden Freundin zu zweifeln…
Bekanntlich interessiere ich mich sehr für literarische Adaptionen von antiker Mythologie, und auch der Comic-Bereich ist dabei keine Ausnahme:
André Breinbauer, Medusa und Perseus: Dieses Wende-Comic (man kann es von beiden Seiten lesen) gehört zum besten (und graphisch ansprechendsten), was ich dieses Jahr gelesen habe! Breinbauer erzählt darin de Mythos von Perseus und Medusa neu, und zwar einmal aus der Perspektive von Perseus, der normalerweise als tapferer Held und "manly man" dargestellt wird, und einmal aus der Sicht von Medusa, die gemeinhin als gefährliches Monster gilt. Breinbauer schenkt beiden Figuren eine große psychologische Tiefe, die das unausweichliche Zusammentreffen der beiden genau in der Mitte des Buches umso tragischer und herzzereißender macht.
Anne Carson/Rosanna Bruno, The Trojan Women: Anne Carson befasst sich in vielen ihrer lyrischen und essayistischen Werke mit antiere griechischer Mythologie und Dichtung, vor kurzem hat sie außerdem den Text für eine sehr interessante Comic-Adaption von Euripides’ antiker Tragödie Die Troerinnen verfasst, in der die trojanischen Frauen u.a. als Hunde (und Andromache als Baum) dargestellt werden. Gewöhnungsbedürftig, aber am Ende doch sehr bereichernd!
Besonders begeistert war ich außerdem von den folgenden drei autobiografischen Graphic Memoirs, die ich letztes Jahr gelesen habe:
Bernadette Schweihoff, treiben: Schweihoffs autobiografischer Comic beschreibt eine Reise mit der transsibirischen Eisenbahn und setzt sich dabei auf (in meinen Augen) zeichnerisch absolut atemberaubende Art mit Themen wie Liebe, Sex, beziehungen und Freiheit auseinander.
Una, Becoming Unbecoming: Unas autobiografischer Comic beschreibt den verheerenden Einfluss, den der Fall des als "Yorkshire Ripper" bekannt gewordenen Serienmörders (und die mediale Berichterstattung darüber) in den 70er Jahren auf Frauen und Mädchen in England, insbesondere auf Opfer sexualisierter Gewalt, hatte. Schmerzhaft und eindrücklich!
Kate Beaton, Ducks: Two Years in the Oil Sands: Ich bin seit vielen vielen Jahren großer Fan der kanadischen Künstlerin Kate Beaton und ihrer von (Literatur-)Geschichte inspirierten humoristischen Webcomics. Ihrer ersten umfangreichen Graphic Novel Ducks über ihre Zeit als Angestellte in der kanadischen Erdölindustrie habe ich schon sehr lange entgegengefiebert und als ich sie vor ein paar Monaten endlich in die Hände bekam, hat sie all meine Erwartungen absolut übertroffen. Es geht um Familie, um Armut, um Einsamkeit, um Heimweh, um Depression, um Diskriminierung und sexuelle Belästigung, um die Zerstörung der Umwelt und um Kolonialismus… Eine absolute Gänsehautlektüre!
Deutschsprachige Neuerscheinungen:
Ich habe im letzten Jahr erstaunlich wenig deutschsprachige Neuerscheinungen gelesen und der Stapel mit den 2022-Leseexemplaren, für die ich eifnach noch keine Zeit hatte, ist quasi unendlich hoch. Wundert euch also nicht, dass hier bestimmte Titel fehlen, mit denen ihr vielleicht auf dieser Liste fest gerechnet habt (*hust* Dschinns *hust*) — vermutlich fand ich sie nicht scheiße, sondern bin einfach immer noch nicht dazu gekommen, sie zu lesen! Ein paar sehr gute deutschsprachige Romane und Erzählungen habe ich neben all meinen anderen Lektüreschwerpunkten aber doch geschafft:
Yael Inokai, Ein simpler Eingriff: Ich interessiere mich schon länger für Frauen in der Medizingeschichte und Yael Inokais Roman über die Liebesgeschichte zwischen zwei Krankenschwestern, von denen die eine an einem fragwürdigen neuartigen medizinischen Eingriff beteiligt ist, der die Psyche der betroffenen Patient*innen (vorwiegend Frauen) auf verheerende Art beeinflusst, hat mich von der ersten Seite an gepackt. Außerdem habe ich schon lange keine so schöne Sexszene mehr gelesen wie in diesem Roman.
Berit Glanz, Automaton: Kaum ein Roman hat mir letztes Jahr so viel Hoffnung gemacht wie dieser von meiner Freundin Berit, der zwar einerseits die prekären Verhältnisse moderner digitaler Arbeitsformen und den Alltagskampf alleinerziehender Eltern (hier: Mütter) völlig ungeschönt darstellt, aber andererseits die Möglichkeiten von digitaler Freund*innenschaft und Solidarität, wie ich sie selbst auf Twitter und anderen Plattformen kennenlernen durfte und in meinem Leben nicht mehr missen möchte, perfekt einfängt.
Slata Roschal, 153 Formen des Nichtseins: Diese in 153 unterschiedlich langen Fragmenten erzählte Geschichte einer weiblichen Identitätssuche und -findung hat mich sprachlich und formal extrem beeindruckt. Erzählt wird die Geschichte von Ksenia, die gleichzeitig Zeugin Jehovas und Jüdin, Russin und Deutsche, Mutter, Schriftstellerin und Akademikerin ist und "nach einer Definition und dem Wert des eigenen Daseins" fahndet.
Elina Penner, Nachtbeeren: Elina Penners Debütroman weist viele inhaltliche Parallelen zu Roschals Buch auf, auch wenn er formal komplett anders erzhählt ist. Aber auch in diesem Roman, der neben der Verhandlung von Identitätsfragen und Geschlechterverhältnissen auch eine Art Krimiplot aufweist, geht es um eine junge Mutter, deren Familie aus Russland (zurück) nach Deutschland eingewandert ist und die einer besonderen religiösen Glaubensgemeinschaft angehört: in Elina Penners Falls sind es allerdings keine Zeug*innen Jehovas sondern Russlandmennoniten. Spannend erzählt, und das aus einer Perspektive, von der ich vorher noch wenig gehört hatte.
Mareike Fallwickl, Die Wut, die bleibt: Kaum ein Roman fühlte sich 2022 so aktuell an und hatte für mich so eine akute erzählerische Wucht wie Mareike Fallwickls wütendes, politisches, lautes, spannendes, mitreißendes Buch über die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit, über Trauer und Schuld, über sexualisierte Gewalt und weibliches Empowerment, über generationenübergreifende Solidarität und Sisterhood. Ich bin sehr dankbar für dieses Buch!
Kristine Bilkau, Nebenan: "Norddeutscher Gothic" ist die Genrebezeichnung, die wir für diesen spannenden, düsteren und für mich rundum überzeugenden Roman erst erfinden mussten, aber in Zukunft möchte ich noch viel mehr solche Bücher haben bitte! In diesem Vertreter des neuen Genres steckt so viel drin, so viele literarische Bezüge, so viel Geheimnis, so viel Angedeutetes und Uneindeutiges, und gleichzeitig so viel sprachliche Präzision, so glaubhafte Figuren, so viel Alltag! Große Kunst in meinen Augen!
Franziska Gänsler, Ewig Sommer: Gothic-Novel-Anklänge hat auch Franziska Gänslers Debütroman, in dem es um Klimawandel, um Domestic Abuse und mütterliche Überforderung, um weibliche Solidarität und queeres Begehren geht. In einem Rutsch durchgelesen!
Kim de l‘Horizon, Blutbuch: Als ich zum ersten Mal den Beschreibungstext zu diesem Roman in der Verlagsvorschau sah, kam es mir so vor, als ob da jemand sehr viel will, sehr viele, vielleicht zu viele Themen in ein Buch gepackt hat, und das hat mich erstmal abgeschreckt, denn ich konnte mir kaum vorstellen, dass das gutgeht, zumal in einem Debüt. Als der Roman dann aber erschienen war, habe ich bei uns in der Buchhandlung nur eine einzige Seite lesen müssen, um sofort zu wissen: das muss ich sofort haben! Was Kim de l’Horizon über Körper, über Sprache, über familiäre Beziehungen, über Geschlecht, über Liebe, über Erbe und Trauma zu erzählen hat, habe ich so noch nicht gelesen, und ich bin unglaublich gespannt auf alles, was wir von Kim in Zukunft noch zu lesen und sehen und hören bekommen werden!
Simone Scharbert, Rosa in Grau. Eine Heimsuchung: Von Simone Scharberts Prosadebüt du, Alice. Eine Anrufung habe ich in diesem Newsletter schon mehrfach geschwärmt, ihr neues Buch habe ich dementsprechend sehnsüchtigst erwartet. Als ich mein Exemplar dann endlich in der Hand hielt, habe ich es an einem einzigen Nachmittag verschlungen. In gewohnt poetischer Sprache begibt Simone Scharbert sich diesmal auf die Spuren von Frauen, welche die von der Gesellschaft auferlegten Rollenerwartungen nicht erfüllen konnten und wollten und wegen ihrer Unfähigkeit, sich den gesellschaftlichen Normen der Nachkriegszeit anzupassen, in psychiatrische Anstalten gesperrt wurden — teiwleise jahrzehntelang! Ein unglaublich dichter, sprachlich beeindruckender, ihaltlich berührender und erschütternder Text, dem ich ganz viele Leser*innen wünsche!
Simone Buchholz, Unsterblich sind nur die anderen: Über das berühmt-berüchtigte #Segelsexbuch habe ich an anderer Stelle schon ausführlich geschwärmt, aber ich darf es hier nicht unerwähnt lassen, denn es ist und bleibt eines meiner absoluten Jahreshighlight und das wohl unterhaltsamste Lese- (und Twitter-)erlebnis, das ich letztes Jahr hatte!
Christine Koschmieder, Dry: Manche behaupten ja, Autofiktion sei so over, ich lese sie aber eigentlich nach wie vor recht gern, wenn sie gut geschrieben ist. Deshalb hat mir auch Christine Koschmieders Roman ziemlich gut gefallen, der vordergründig vom Trinken und vom Weg aus der Abhängigkeit handelt, aber auch radikal ehrlich von Liebe und Verlust, Trauer und Sehnsucht, Mutterschaft und Erfolg erzählt.
Philipp Böhm, Supermilch: Diesen unglaublich tollen Kurzgeschichtenband habe ich letztes jahr gleich zweimal gelesen — einmal einfach so aus Interesse und dann noch ein zweites Mal, nachdem der Verbrecher Verlag mich gefragt hat, ob ich Lust hätte, Philipp Böhms Buchpremiere zu moderieren. Bei dieser Frage habe ich dann keine Sekunde gezögert, denn Böhms mal gruselige, mal absurde, mal dystopisch-futuristische Erzählungen haben mich absolut überzeugt!
Englische Neuerscheinungen
2022 habe ich mehr englische Bücher gelesen als deutsche, vieles davon war Backlist oder Wiederauflagen älterer Werke, aber es waren auch einige sehr gute Bücher zeitgenössischer Autor*innen dabei:
Natasha Brown, Assembly: Um Natasha Browns schmalen Debütroman über bin ich lange herumgeschlichen, ohne ihn mir zu kaufen, weil mir der Preis der englischen Hardcoverausgabe schlicht zu teuer im Verhältnis zur Seitenzahl war. Was für ein Trugschluss, denn dieser nahezu perfekte Roman enthält im Grunde keine Seite, keinen Satz, vielleicht nichtmal ein einziges Wort zu viel oder zu wenig!
Musa Okwonga, In the end, it was all about love: Die Buchpremiere mit Musa zur deutschen Übersetzung seines Romans Es ging immer nur um Liebe (Ü: Marie Isabel Metthews-Schlinzig) im Ocelot war eine meiner absolut liebsten Literaturveranstaltungen im letzten Jahr, und ebenso beeindruckend und warmherzig und witzig und berührend wie den Autor fand ich das Buch selbst.
Megan Milks, Margaret and the Mystery of the Missing Body: Dieer wilde Genremix ist einerseits eine Hommage an klassische 90er-Jahre-(Mädchen)literatur (z.B. Girl-Detective-Reihen, Choose-Your-Own-Adventure-Bücher und Essstörungs-Memoirs), andererseits erzählt er eine der interessantesten und bewegendsten queeren und trans Coming-of-Age-Geschichten, die ich in letzter Zeit gelesen habe.
Torrey Peters, Detransition, Baby: Ein "Great American Novel" mit all den Themen, von denen solche Romane normalerweise handeln (Sex, Beziehungen, Familien, Scheidungen, Schwangerschaften, Affären, Krankheiten, usw.), nur dass es sich bei den Protagonistinnen (und bei der Autorin) um queere trans Frauen handelt.
Julia Armfield, Our Wives Under The Sea: Hier kamen Tiefseehorror und eine tragisch-schöne lesbische Liebesgeschichte in einer für mich persönlich perfekten Mischung zusammen.
Louise Nealon, Snowflake: "Geht dahin, wohin sich Sally Rooney nicht traut", haben Simon Sahner und ich mal in einem unserer 54books-Livestreams festgestellt und eigentlich ist das auf mehreren Ebenen ein unfairer Vergleich, denn a) habe ich noch nie etwas von Sally Rooney gelesen und b) sollten sich nicht alle jungen neuen irischen Autorinnen an ihr messen lassen müssen. So oder so ist Louise Nealons Debütroman nur auf den ersten Blick eine typische "Landmädchen geht aufs College in die Großstadt"-Geschichte, bei der man sehr schnell merkt, dass es unter der Oberfläche gewaltig brodelt und da viel mehr psychologische und erzählerische Tiefe drinsteckt als das Cover vielleicht vermuten lassen würde.
Elif Batuman, Either/Or: Seit Jahren habe ich sehnsüchtig auf eine Fortsetzung von Batumans Campusroman The Idiot, einem der lustigsten Bücher, die ich kenne, gewartet und als sie dann endlich erschien, war mir erstmal ganz angst und bange, denn was, wenn sie mir nicht so gut wie der Vorgänger gefällt? Eine völlig unbegründete Sorge, wie sich herausstellte, denn Selin Karadağs Abenteuer als Harvard-Sophomore gefielen mir nicht genauso gut, sondern sogar noch viel besser!
Maud Casey, City of Incurable Women: Bekanntlich treibt mich eine gewisse Obsession mit Büchern über Frauen in psychiatrischen Anstalten um, deshalb habe ich mir Maud Caseys schmalen Band über die "Hysterikerinnen" des Pariser Salpêtrière-Krankenhauses natürlich sofort kaufen müssen. Ausgehend von Fotos der verschiedenen Patientinnen, die dort vom Neurologen Jean-Martin Charcot zu öffentlichkeitswirksamen Untersuchungsobjekten reduziert wurden, imaginiert Casey in kurzen Prosaportraits die Geschichten dieser Frauen als komplexe Personen aus Fleisch und Blut statt als trockene Krankenakten.
Monique Roffey, The Mermaid of Black Conch: Dieser Roman, der karibische Mythologie/Geschichte und Kolonialismuskritik in einer magisch-märchenhaften Erzählung miteinander verknüpft, gehört für mich zu den schönsten (Hetero-)Liebesgeschichten, die ich seit langem gelesen habe.
Wendy Erskine, Sweet Home und Dance Move: Ein Freund von mir ist so großer Fan der nordirischen Kurzgeschichtenautorin Wendy Erskine und hat ihrem neuen Buch Dance Move so entgegen gefiebert, dass ich neugierig geworden bin und mir selbst erstmal ihren älteren Band Sweet Home besorgt habe. Nach etwa zwei Geschichten war ich schon so überzeugt, dass ich mir das neue Buch dann auch sofort selbst vorbestellt habe. Mehr noch als der (grandiose) Inhalt ihrer Erzählungen beeindruckt mich Wendy Erskines Sprache in diesen Texten, die sich einerseits unglaublich mündlich-authentisch und gleichzeitig trotzdem absolut literarisch anfühlt — auf eine Art, wie man es meiner Meinung nach in deutschsprachiger Literatur nur sehr selten findet.
Gwen E. Kirby, Shit Kassandra Saw: Diesen Kurzgeschichtenband habe ich mir nur wegen des Titels gekauft, und zum Glück hält der Inhalt, was der Titel versprochen hat. Großartige verspielte, fantastische, absurde, surreale feministische Kurzgeschichten, für Fans von Carmen Maria Machado etc.!
Übersetzungen aus anderen Sprachen:
Ich habe mal wieder nicht ansatzweise so viele Übersetzungen aus anderen Sprachen als dem Deutschen/Englischen gelesen, wie ich mir immer vornehme, aber eine Handvoll war doch dabei, die mir sehr gefallen hat:
Amalie Smith, Thread Ripper (Ü: Jennifer Russell): Die Dänin Amalie Smith hat mit Thread Ripper einen sehr faszinierenden zweisträngigen (die linken Buchseiten erzählen einen Strang und die rechten Seiten einen anderen) Roman über die Zusammenhänge von Weben und Textilarbeit, Programmierung und weiblichen Pionierleistungen geschrieben. Es geht um DNA und Algorithmen, um Textilien und Pflanzen, um Ada Lovelace und Penelope, und um "the aching interwovenness of art and life".
Ida Jessen, A Change of Time (Ü: Martin Aitken): Ebenfalls aus dem Dänischen übersetzt ist Ida Jessens sehr ruhiger, melancholischer und dabei sehr berührender Roman über eine Lehrerin im ländlichen Dänemark des beginnenden 20. Jahrhunderts, die sich nach dem Tod ihres Ehemannes, dem örtlichen Arzt, neu finden und erfinden muss — erzählt anhand ihrer Tagebucheinträge.
Jenny Hval, Perlenbrauerei (Ü: Rahel Schöppenthau und Anna Schiemangk): Die norwegische Musikerin Jenny Hval hat mit der Perlenbrauerei einen ziemlich seltsamen, teilweise verstörenden, aber gleichzeitig unglaublich faszinierenden Roman geschrieben, der mich auch Monate nach der Lektüre nicht mehr so recht loslässt. Ich habe glaube ich noch nie zuvor (oder danach) einen Roman gelesen, in dem es so viel ums Urinieren ging wie in diesem. Überhaupt spielen Körperflüssigkeiten eine große Rolle, aber auch Fäulnis und Verfall, wuchernde Pilze und schrumpelnde Äpfel, Erotik und Begehren, Körper und Pflanzen — der Verlag nennt das Buch einen "erotischen Fiebertraum" und hat damit vollkommen recht.
Johanne Lykke Holm, Strega (Ü: Hanna Granz): Irgendwie habe ich letztes Jahr vergleichsweise viel skandinavische Literatur gelesen, Johanne Lykke Holms Roman wurde nämlich aus dem Schwedischen übersetzt. Auch dieser Roman fühlt sich zuweilen sehr surreal-fiebertraumhaft an, es geht darin um eine Gruppe junger Frauen, die von ihren Familien in ein mysteriöses heruntergekommenes Hotel in den Alpen geschickt werden, um dort zu lernen, die von ihnen erwartete gesellschaftliche Rolle zu erfüllen. Täglich putzen und schuften die neun Mädchen im Auftrag ihrer strengen Chefin, um das Hotel in Stand zu halten — nur Gäste tauchen niemals welche auf! Die Mädchen suchen Trost und Zerstreuung untereinander, bilden Freundschaften und knüpfen enge Bande…doch eines Tages, nachdem ein rauschendes Fest im Hotel stattgefunden aht, verschwindet eine von ihnen spurlos! Andere Rezensent*innen haben den Roman mit Romanen und Filmen wie The Virgin Suicides, The Grand Budapest Hotel, Suspiria und Melancholia verglichen, mich hat er außerdem stark an Joan Lindsays Australian-Gothic-Klassiker Picknick at Hanging Rock erinnert und an die Romantrilogie von Marie Redonnet, insbesondere an Hotel Splendid, über die ich in meinem letzten Jahresrückblick schonmal berichtet habe.
Irene Solà, Singe ich, tanzen die Berge (Ü: Petra Zickmann): Dieser katalanische Roman erzählt die Geschichte eines Pyrenäendorfes aus ganz vielen unterschiedlichen, teils sehr ungewöhlichen Erzählperspektiven (u.a. der von Wolken, von den Geistern Verstorbener, und einmal kommt sogar das Gebirge selbst zu Wort!) und hat mich in dieser Vielstimmigkeit sehr beeindruckt.
Mariette Navarro, Über die See (Ü: Sophie Beese): Einer der ungewöhnlich vielen Romane über Seefahrt, die ich im letzten Jahr mit einer mich selbst überraschenden Begeisterung gelesen habe. Es geht darin um die Kapitänin eines Containerschiffs, die ihrer rein männlichen Crew eine ungewöhnliche Bitte erfüllt, woraufhin auf dem Schiff seltsame Dinge passieren…
Verónica Gerber Bicecci, Leere Menge (Ü: Birgit Weilguny): Diesem aus dem mexikanischen Spanisch übersetzten experimentellen autofiktionalen Roman über Liebe, Verlust, Einsamkeit, die argentinische Militärdiktatur und Venn-Diagramme habe ich ja bereits eine ganze Newsletterausgabe gewidmet, er ist und bleibt einer meiner liebsten Spontankäufe im letzten Jahr.
So, und an dieser Stelle endet dieser Jahresrückblick für die meisten von euch. Einerseits, weil diese Newsletterausgabe schon wieder viiiel zu lang geworden ist. Andererseits möchte ich außerdem als kleines Dankeschön an meine 54 zahlenden Abonnent*innen für ihre Unterstützung im letzten Jahr meinen Bericht über meine liebsten Wiederauflagen und Backlist-Lektüren 2022 ausnahmsweise nächste Woche als Exklusiv-Ausgabe ausschließlich an meine zahlenden Abonnent*innen schicken. Wenn ihr vor Neugier darüber, welche Bücher das sein könnten, fast vergeht, könnt ihr bis dahin natürlich jederzeit noch selbst ein solidarisches Bezahlabo abschließen, dann landet die Mail nächste Woche auch bei euch im Postfach:
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Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda