Dieser Newsletter hat inzwischen bald 1.800 Abonnent*innen. Wer ihn gerne liest und mich ein bisschen finanziell bei meiner Arbeit unterstützen möchte, kann sich hier den 50 lieben Menschen anschließen, die das bisher schon per kleinem solidarischen Bezahlabo tun:
Die normalen Mittwochsbeiträge (ein bis zweimal im Monat) bleiben ganz normal für alle Abonnent*innen zugänglich, egal ob mit oder ohne Bezahlabo.
Auch über einmalige Trinkgelder auf Paypal freue ich mich natürlich immer sehr.
Ihr Lieben,
ich habe eine längere und sehr ausführliche Ausgabe dieses Newsletters für euch geplant, aber weil ich in letzter und nächster Zeit neben meiner Lohnarbeit in der Buchhandlung zusätzlich von verschiedensten Veranstaltungen, der Buchmesse und mehreren Deadlines beansprucht wurde und werde, verzögert sich der Versand noch um ein bis zwei Wochen. Um euch die Wartezeit zu verkürzen, möchte ich euch heute aber kurz auf zwei Dinge in eigener Sache hinweisen und euch außerdem einen sehr ungewöhnlichen aber faszinierenden experimentellen Roman empfehlen.
Vor etwa 2,5 Jahren habe ich erstmals eine Autorin für mich entdeckt, die nur ein sehr schmales Gesamtwerk vorzuweisen hat und trotzdem sofort in den Olymp der für mich persönlich bedeutendsten Autorinnen aufgestiegen ist. Ich glaube, es ist nicht übertrieben, zu behaupten, die US-amerikanische Feministin, Schriftstellerin, Dozentin und politische Aktivistin Tillie Olsen (1912-2007) habe mit ihrem wohl bekanntesten Werk Silences (dt. Was fehlt: Unterdrückte Stimmen in der Literatur, Ü: Nina Frey und Hans-Christian Oeser) die US-amerikanische Literaturwissenschaft revolutioniert. Und ihre vier in dem Band Tell Me A Riddle (dt. Ich steh hier und bügle, Ü: Adelheid und Jürgen Dormagen) veröffentlichten Erzählungen gehören für mich persönlich zu den besten Kurzgeschichten, die ich je gelesen habe.
Um so mehr habe ich mich gefreut, als ich Anfang des Jahres beim Durchblättern der Herbstvorschau des Aufbau Verlages feststellte, dass der Verlag deutsche Neu- bzw. Erstübersetzungen beider Bücher in Planung hatte. Vor zwei Wochen sind diese deutschen Ausgaben nun erschienen und ich hatte die große Ehre, diese Tatsache in einem Insta-Live-Gespräch zusammen mit den beiden Autorinnen Julia Wolf (die das Vorwort zu Was fehlt verfasst hat) und Mareike Fallwickl feiern zu dürfen. Ca. eine Stunde lang habe ich mich (nacheinander) mit den beiden darüber ausgetauscht, was Tillie Olsens Werk so beeindruckend macht und warum es auch heute noch so unglaublich relevant ist. Ihr könnt die Aufzeichnung unseres Gesprächs auf dem Instagram-Kanal des Aufbau Verlags nachgucken (und euch dann die beiden Olsen-Neuausgaben kaufen!).
Von einer bereits vergangenen Veranstaltung kommen wir auf ein zukünftiges Literaturevent zu sprechen, bei dem ich ebenfalls vom Werk einer "wiederentdeckten" Autorin schwärmen darf, und zwar von Marian Engel und ihrem Bär. Wer auf Twitter ist, weiß, dass ich dort schon vor einiger Zeit zur inoffiziellen deutschsprachigen Botschafterin dieses perfekten Kurzromans mutiert bin — und jetzt habe ich mit meiner Penetranz im Bezug auf das berüchtigte #Bärensexbuch tatsächlich die Aufmerksamkeit von sehr netten Frankfurter Literaturveranstalter*innen auf mich gezogen, die mich zur Abwechslung mal nicht als Moderatorin, sondern als Gesprächsgast auf der Bühne sehen wollen! Die Veranstaltung findet am 16.11.2022 um 19:30 im Hessischen Literaturforum im Mousonturm in Frankfurt am Main statt und trägt den vielversprechenden Titel Sexy Beast. Unterhalten werde ich mich mit dem Moderator Björn Jager und der Autorin Noemi Somalvico (Ist hier das Jenseits, fragt Schwein) über folgende Themen:
Das Tier als literarische Figur hat Tradition: Von Aesop bis Animal Farm, von de La Fontaines Fabeln bis zu Kafkas Käfer sind sie uns bekannt – in den vergangenen Jahrzehnten hatten sich tierische Protagonist*innen jedoch rar gemacht. Schlagartig geändert hat sich das in diesem Jahr mit Noemi Somalvicos Ist hier das Jenseits, fragt Schwein und der Neuübersetzung von Marian Engels Roman Bär. Während bei Somalvico Schwein einsam ist, Reh keinen Urlaub bekommt und Dachs eine Maschine erfunden hat, mit der man zu Gott reisen kann, kurz, während bei Somalvico also alle Figuren Tiere sind, steht in Bär, dem kanadischen Kultroman, die Bibliothekarin Lou im Mittelpunkt, die bei der Sichtung eines Nachlasses in der Provinz einen halbzahmen Bären betreut, mit dem sie schließlich ein sexuelles Verhältnis eingeht.
Sie sehen: Die beiden Romane könnten kaum unterschiedlicher sein. Hier die u.a. für den Bayerischen Buchpreis nominierte Fabel über Freundschaft, Einsamkeit und die großen Fragen des Lebens, dort der auf den ersten Blick verstörende Roman, der von einem radikalen Lebensentwurf erzählt. Aber gerade weil sie so unterschiedlich sind, lohnt sich die Frage umso mehr, was das Tier in der Literatur heutzutage eigentlich kann.
Tickets für die Veranstaltung gibt es hier.
Letzte Woche habe ich mir spontan ein Buch gekauft, weil ich mich, als ich eigentlich im Laden Ware verräumen wollte, ziemlich darin festgelesen hatte. Es war Leere Menge von Verónica Gerber Bicecci (Ü: Birgit Weilguny), ein sehr experimenteller autofiktionaler Roman über Liebe, Verlust, Einsamkeit, die argentinische Militärdiktatur und Venn-Diagramme:
Verónica Gerber Bicecci, die 1981 in Mexiko geboren wurde, ist laut eigener Aussage "eine bildende Künstlerin, die schreibt". Ihre Eltern waren 1976 vor der argentinischen Militärdiktatur nach Mexiko geflohen, was die junge Autorin während ihres Aufwachsens in Mexico City nachhaltig beeinflusst hat:
"I’m the daughter of a family of exiles. The environment I had at home was different from the one I had at school: different food, different words, different ways of writing out mathematical equations! […] I was born here and everything that has happened to me has happened here. I’m completely Mexican. But it’s also true that every time I go to Argentina I feel like there is something of mine there, but I don’t know exactly what. Empty Set is an attempt to understand what it means to be born exiled and how exile manifests itself many years after being exiled." (Interview mit Words Without Borders)
Leere Menge ist ein in nicht chronologisch geordneten Fragmenten angeordneter Text, in den immer wieder Zeichnungen und v.a. viele viele (Venn-)Diagramme der Künstlerin eingefügt sind, die die Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren visualisieren:
I’m not even sure if Empty Set is a novel. From my way of seeing things, it is an art project, like any other I’ve done before. The thing with this piece is that it comes in a book and you have to read it instead of going to an exhibition space. So, to me, it’s an artifact in the medium of a book.
Empty Set is also about trying to combine writing and drawing—to understand how to tell a story using drawings, to tell things that words say differently. Or to use the drawings to see something you can’t see in another way—to have another perspective of the story through diagrams. So: I like to think of Empty Set as an in situ installation in the field of literature. (Interview mit Words Without Borders)
Die vielen Diagramme sind auf den ersten Blick vielleicht ein wenig verwirrend und überfordernd, je weiter ich beim Lesen fortgeschritten bin, desto besser konnte ich mich aber darauf einlassen und das Buch, wie von der Künstlerin intendiert, als Gesamtkunstwerk betrachten, bei dem sich die verbalen und die visuellen Teile gleichberechtigt ergänzen.
Aber worum geht es in dem Buch überhaupt? Ganz grob zusammengefasst handelt es von Verónica, einer jungen Frau, die nach der Trennung von ihrem Exfreund Tordo wieder in der Wohnung ihrer Mutter, von Verónica und ihrem Bruder nur als "der Bunker" bezeichnet, einzieht. Diesen Bunker umgibt ein Rätsel, denn etwa sieben Jahre zuvor, als die beiden Geschwister noch Teenager waren, ist ihre Mutter, eine argentinische Exilantin , die 1976 vor der Militärdiktatur nach Mexiko geflohen ist, einfach verschwunden, hat sich einfach von einem Tag auf den anderen langsam in Luft aufgelöst und war seither für ihre Kinder nicht mehr hör- oder sichtbar. Zurück in der alten Wohnung glaubt Verónica jedoch immer wieder, Spuren ihrer Mutter zu bemerken — Geräusche in der Nacht, Lebensmittel, die aus dem Kühlschrank verschwinden, Gegenstände, die von alleine ihren Platz zu ändern scheinen…
Um der Einsamkeit der verstaubten und feuchten Wohnung zu entfliehen und ihren Liebeskummer zu überwinden, nimmt Verónica einen Job an: sie wird von Alonso, dem Sohn der geheimnisvollen, kürzlich verstorbenen Schriftstellerin Marisa Chabut (wie Verónicas Mutter einst ebenfalls aus der argentinischen Diktatur nach Mexiko geflohen), beauftragt, den Nachlass siner Mutter zu sortieren — eine Aufgabe, die Verónica nicht nur Alonso, sondern auch ihrer eigenen Familiengeschichte näherkommen lässt.
Solche nicht-linearen, experimentellen, vielschichten Texte stellen oft eine große Herausforderung an ihre Leser*innen dar, in diesem Fall war es für mich aber ganz klar eine intellektuelle Anstrengung, die sich voll gelohnt hat! Ich hatte großen Spaß beim Entziffern der Diagramme und dem Entschlüsseln von Verónica Gerber Biceccis vielen sprachlichen Spielereien und Rätseln und denke immer noch über meine Interpretation einzelner Szenen und Motive nach, und genau so soll anspruchsvolle Literatur ja sein! Große Empfehlung!
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich voraussichtlich wieder an einem Mittwoch verschicken, irgendwann in den nächsten zwei Wochen. Bis dahin findet ihr mich mit buchnahem Content auf Twitter.
Sollte diese Ausgabe nicht in eurem Postfach auftauchen, dann checkt euren Spam-Ordner und fügt ggf. diese Mailadresse eurem Adressbuch hinzu. Grundsätzlich könnt ihr alle alten Ausgaben des Newsletters auch jederzeit im Archiv auf der Substack-Seite nachlesen.
Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda