Literarische Archäologie
Wenn Schriftstellerinnen vergessenen Künstlerinnen literarische Denkmäler setzen
Ihr Lieben,
obwohl ich letzte Woche erst einen kleinen Sonder-Newsletter verschickt habe, findet ihr heute schon wieder eine neue Ausgabe in eurem Postfach. You’re welcome/I’m sorry (Unzutreffendes bitte streichen).
Ich habe in der letzten Zeit zwei Lyrikbände gelesen, die ich einem meiner absoluten literarischen Lieblings-Subgenres zuordnen würde, nämlich Bücher (Prosa und Lyrik), in denen sich Schriftstellerinnen literarisch mit dem Leben und Werk anderer, ihnen vorausgegangener, aber oftmals kulturgeschichtlich vernachlässigter Künstlerinnen auseinandersetzen. Das hat mich dazu inspiriert, euch heute mal einige meiner Highlights in diesem Bereich vorzustellen. Zunächst die beiden ganz frischen Lektüren:
Vor einiger Zeit habe ich in diesem Newsletter darüber geschrieben, wie ich über eine Kundin auf die koreanisch-amerikanische Schriftstellerin und Avantgarde-Künstlerin Theresa Hak Kyung Cha gestoßen bin, deren genresprengendes Magnum Opus Dictée ich dann fasziniert gelesen habe:
Dictée ist gewiss keine leichte Lektüre, ich bin mir sicher, dass ich es nicht ansatzweise verstanden habe und definitiv noch mehrmals lesen muss und will, aber es hat auf jeden Fall meinen (literarischen) Horizont erweitert und mich auf neue Pfade geführt, die ich bald erkunden möchte.
Auch wenn keines der Bücher der Autorin je ins Deutsche übersetzt wurde und sie deshalb hierzulande kaum bekannt ist, bin ich nicht die Einzige, die von ihrem Leben und Werk auf Anhieb fasziniert war. Auch die Schweizer Autorin Eva Maria Leuenberger hat die Geschichte von Theresa Hak Kyung Cha und ihrem gewaltvollen Tod (wenige Tage nach Erscheinen von Dictée wurde sie von einem Security Guard vergewaltigt und ermordet) nicht mehr losgelassen, und so hat sie der Auseinandersetzung damit einen ganzen Gedichtband gewidmet:
kyung widmet sich in einem ständigen Dialog mit Theresa Hak Kyung Chas Originaltext aus Dictée (aus dem auch durchgehend großzügig zitiert wird) ganz unerschrocken Fragen nach Identität, Herkunft und Sprache, Ent- und Verwurzelung, sexueller Gewalt und Angst. Ein beeindruckendes Buch, das mir auf jeden Fall einen neuen Blickwinkel auf meine eigene Lesart von Dictée eröffnet hat. Wer diesen Lyrikband liest, ohne Dictée zu kennen, wird es spätestens danach unbedingt kennenlernen wollen!
Der zweite Lyrikband, den ich heute empfehlen möchte, Honorée Fanonne Jeffers’ The Age of Phillis, hat mich sogar noch stärker beeindruckt, nälich so sehr, dass er definitv am Jahresende auf der Liste meiner absoluten Lieblingslektüren 2021 landen wird.
Die unter dem Namen Phillis Wheatley bekannt gewordene Dichterin war die erste Afro-Amerikanische Frau, die in den USA einen Lyrikband veröffentlicht hat. Sie wurde Mitte des 18. Jahrhunderts in Westafrika, vermutlich in der Gegend des heutigen Gambia oder Senegal, geboren und im Alter von etwa sieben Jahren in die Sklaverei verkauft und über die traumatisierende "Middle Passage" nach Nordamerika transportiert, wo sie von der in Boston ansässigen Familie Wheatley versklavt wurde. Da sie schnell Lesen und Schreiben lernte und ein erstaunliches sprachliches Talent bewies, ermutigten ihre Sklavinnenhalter*innen sie zur Dichtung und machten sie mit berühmten weißen Persönlichkeiten bekannt. 1773 wurde ihr erster Lyrikband Poems on Various Subjects, Religious and Moral veröffentlicht, der ihr große Bekanntheit und das Lob von Menschen wie George Washington einbrachte. Kurz nach der Veröffentlichung ihres Buches wurde Phillis von den Wheatleys aus der Sklaverei freigegeben. Nach dem bald darauf folgenden Tod ihrer ehemaligen Sklavinnenhalter*innen heiratete Phillis den afro-amerikanischen Gemüsehändler John Peters, soll später drei Kinder bekommen und früh wieder verloren haben und starb schließlich im Alter von etwa 31 Jahren, längt in Vergessenheit geraten, in großer Armut. Über Phillis Wheatleys Leben, vor allem über die Zeit bevor sie versklavt wurde, sind wenig Einzelheiten bekannt und das meisten von dem, was überliefert wurde, stammt aus der Feder von weißen Autor*innen. Die afro-amerikanische Dichterin Honorée Fanonne Jeffers war von frühester Kindheit an fasziniert von der Geschichte von Phillis Wheatley, die afro-amerikanischen Schulkindern im Rahmen z.B. des Black History Months häufig als Vorbild angepriesen wird, und unternahm als Erwachsene später viele aufwändige Archivrecherchen, um ihrer bekannten Vorgängerin nachzuspüren. Aus dieser Arbeit ist ein fantastischer Lyrikband entstanden, der bisher vernachlässigte Details aus Phillis Wheatleys Leben (re)imaginiert und in Verbindung zu dem Leben anderer historisch belegter Schwarzer Personen des 18. Jahrhunderts setzt. Abgerundet wird das völlig zurecht für den National Book Award nominierte Buch mit einem ausführlichen Essay von Jeffers über ihre Archivrecherchen und das, was sie dabei herausgefunden hat.
Mit einer anderen vernachlässigten Figur der US-amerikanischen Literaturgeschichte hat sich auch die deutsche Lyrikerin Simone Scharbert in ihrem großartigen Buch du, alice. eine anrufung auseinandergesetzt.
Die darin angerufene Alice ist keine andere als Alice James, Schwester des berühmten Schriftstellers Henry James und des Philosophen und Psychologen William James, die im Gegensatz zu ihren berühmten Brüdern kaum bekannt wurde, obwohl sie ihnen in Intelligenz und Talent in nichts nachstand. Aufgrund lebenslanger gesundheitlicher Probleme, die ihrerzeit oft als "Hysterie" abgetan wurden, verbrachte sie einen großen Teil ihres Lebens bettlägrig, unterhielt aber Zeit ihres Lebens ausführliche Korrespondenzen mit zahlreichen großen Persönlichkeiten der amerikanischen und englischen Kulturszene. Eine etwas breitere Bekanntheit erlangte sie durch die posthume Veröffentlichung ihrer Tagebücher. Simone Scharbert stellt in ihrem beeindruckenden Prodadebüt nun endlich diese faszinierende Frau in den Mittelpunkt des Geschehens und macht sie zur Adressatin einer bewegten und bewegenden Anrufung (d.h., das Buch ist in der zweiten Person geschrieben und durchgehend an Alice James gerichtet).
Ebenfalls mit Alice James befasste sich übrigens auch Susan Sontag in ihrem Theaterstück Alice in Bed (Alice im Bett, Ü: Wolfgang Wiens); auch das ein sehr lesenswerter Text, auch wenn er mich nicht ganz so umgehauen hat wie der von Simone Scharbert.
Es ist jetzt schon einige Jahre her, dass ich Kate Zambrenos grandioses Buch Heroines gelesen habe, aber es war vermutlich der Auslöser für meine Obsession mit dieser Art von Büchern.
Das Buch, basierend auf einem Kult-Blog, den Zambreno 2009 zu schreiben begann, untersucht und reclaimed in einer Mischung aus Personal Essay und literaturwissenschaftlicher Analyse das Leben und Sterben der "wives and mistresses of modernism" wie bspw. Vivienne Eliot, Jane Bowles, Jean Rhys, oder Zelda Fitzgerald, alle von ihnen "writers and artists themselves who served as male writers' muses only to end their lives silenced, erased, and institutionalized". Das Buch hat mir nicht nur eine unglaublich lange Leseliste beschert (ihr seid hiermit also vorgewarnt!), sondern mich auch zum Kate Zambreno-Ultra gemacht, inzwischen besitze ich alle ihrer Bücher (spare mir aber die Lektüre selbiger bei einigen noch auf, damit ich länger etwas davon habe). Von Kate Zambrenos inzwischen schon recht umfangreichem Werk (3 Romane, 5 Genre-Hybrid-Texte) wurde bisher NICHTS ins Deutsche übersetzt, was ich absolut skandalös finde!
Eines meiner beeindruckendsten Lektüreprojekte im letzten Jahr war Natalie Légers Trilogie, in der sie sich mit dem Leben/Werk dreier außergewöhnlicher Frauen, die "through their oeuvre, transform their lives into a mystery" und gleichzeitig mit ihrer eigenen Familiengeschichte, insbesondere der Beziehung zu ihrer Mutter, auseinandersetzt:
In Exposition (Ü: Amanda DeMarco) schreibt Léger über Virginia Oldoini Verasis, Contessa di Castiglione (1837-1899), eine der meistfotografierten Frauen der frühen Fotografiegeschichte.
In Suite for Barbara Loden (Ü: Natasha Lehrer und Cécile Menon) beschäftigt sich Léger mit der Schauspielerin Barbara Loden, die 1970 mit Wanda, dem einzigen Film, bei dem sie selbst das Drehbuch verfasste, Regie führte und die Hauptrolle spielte, einen Kultfilm produzierte.
In The White Dress (Ü: Natasha Lehrer) schließlich, dem Abschluss ihrer Trilogie, folgt Léger den Spuren der italienischen Performancekünstlerin Pippa Bacca, die 2008 in einem weißen Brautkleid von Italien in den Mittleren Osten wandern wollte, um für Weltfrieden einzustehen, und unterwegs vergewaltigt und ermordet wurde (womit wir wieder den Bogen zum ersten Buch in diesem Newsletter gespannt hätten).
Bisher hat man von einer geplanten deutschen Übersetzung dieser genialen Trilogie noch nichts vernommen, was ich jammerschade finde. Vielleicht liest ja hier jemand mit, der über entsprechende Entscheidungsgewalt verfügt! Ich bin mir sicher, dass auch hierzulande Fans von bspw. Annie Ernaux oder Sophie Calle diese Bücher absolut verschlingen würden.
Wer mir schon länger auf Twitter folgt, kam eigentlich kaum umhin, meine unendliche Begeisterung für A Ghost in the Throat mitzubekommen.
In ihrem Prosadebüt verknüpft die irische Dichterin Doireann Ní Ghriofa autobiografische Gedanken über die Verknüpfung von ihrem eigenen Schreiben mit ihrer Rolle als Mutter mit einer Spurensuche nach der Adligen Eibhlín Dubh Ní Chonaill, die um 1773 mit Caoineadh Airt Uí Laoghaire (Lament for Art Ó Laoghaire), einem Trauergedicht für ihren ermordeten Ehemann,"the greatest poem written in either Ireland or Britain during the eighteenth century" verfasst hat. Obwohl es sich dabei um einen der bekanntesten und wichtigsten Texte der irisch-gälischen Literaturgeschichte handelt, sind über das Leben seiner Verfasserin, wie so häufig bei Schriftstellerinnen der Vergangenheit der Fall, nur spärliche Details bekannt. Doireann Ní Ghriofa hat ihr mit ihrem außergewöhnlichen Buch nun endlich ein angemessenes literarisches Denkmal gesetzt.
Man hört es Munkeln, dass die deutschsprachigen Rechte an diesem grandiosen Buch bereits verkauft wurden, aber nähere Informationen zu Übersetzung und Erscheinen kann ich leider momentan nicht bieten. (Falls der entsprechende Verlag hier mitliest, darf er sich gerne melden!)
Zuletzt möchte ich euch noch eine sehr ungewöhnliche Biografie ans Herz legen, nämlich Brigitte Benkemouns Finding Dora Maar (Ü: Jody Glassing; dt. Das Adressbuch der Dora Maar, Ü: Alexandra Baisch, erscheint im August).
Eher zufällig stößt die Autorin Brigitte Benkemoun beim Kauf eines Vintage-Hermes-Planers auf ein geheimnisvolles Adressbuch, das in handschriftlichen Eintragungen die Adressen sämtlicher Größen der europäischen künstlerischen und literarischen Avantgarde (u.a. Balthus, Brassai, Andre Breton, Jean Cocteau, Paul Eluard, Leonor Fini, Jacqueline Lamba) enthält. Fasziniert setzt sich Benkemoun in den Kopf, herauszufinden, wem das Adressbuch gehört haben könnte, und folgt den Spuren seiner Einträge, bis sie sich schließlich sicher ist, dass es sich bei seiner Besitzerin um Dora Maar gehandelt haben muss, die ehemalige "Geliebte und Muse" von Picasso (Modell seiner "Weinenden Frau"), die selbst eine außergewöhnlich talentierte (und exzentrische) Künstlerin war.
Die bisher erwähnten Bücher waren alles sehr persönliche Auseinandersetzungen mit ihrem Subjekt, bei denen die Autorinnen auch immer wieder autobiographische Elemente und Interpretationen in ihren Text mit einfließen ließen. Es gibt aber auch einige tolle Romane, in denen die Autorinnen das Leben anderer Künstlerinnen (re)interpretieren und fiktionalisieren und die ich hier nicht unerwähnt lassen möchte:
Christa Wolf imaginiert in Kein Ort. Nirgends eine (historisch nicht belegte) Begegnung zwischen den beiden Schriftsteller*innen Karoline von Günderrode und Heinricht von Kleist. Karen Duve beschreibt in Fräulein Nettes kurzer Sommer ausführlich ein einschneidendes Erlebnis im Leben der Anette von Droste-Hülshoff und Gertraud Klemm setzt ihrer Freundin und Mentorin Brigitte Schwaiger in ihrer bitterbösen feministischen Odyssee Hippocampus ein (stark fiktionalisiertes) Denkmal.
Zuletzt möchte ich noch eine handvoll Bücher erwähnen, die die bisher genannten Kriterien erfüllen und die ich aktuell noch auf meinem Lesestapel liegen, aber selbst noch nicht habe. Ich habe also zwar noch keine eigene Meinung über ihre Qualität, aber vielleicht sind sie ja trotzdem interessant für den einen oder die andere von euch:
Jenn Shapland stößt als Studentin während ihrer Archivrecherchen auf emotionale Briefe, die eine geheimnisvolle Annemarie (Schwarzenbach!) an die Schriftstellerin Carson McCullers gerichtet hat. In My Autobiography of Carson McCullers setzt Shapland ihr neu gewonnenes Bild von McCullers als queerer Frau mit ihrem eigenen Leben und Lieben in Verbindung.
"Many people have described the Famous Writer presiding at his dinner table. . . . He is famous; everybody remembers his remarks. . . . We forget that there were other family members at the table—a quiet person, now muffled by time, shadowy, whose heart pounded with love, perhaps, or rage." Dass ich ein Buch, das mit diesen Worten beginnt, unbedingt lesen muss, steht ja völlig außer Frage, weshalb Diane Johnsons The True History of the First Mrs Meredith über Mary Ellen Peacock Meredith (1821–1861), Tochter des berühmten Künstlers Thomas Love Peacock und erste Ehefrau des ebenso bekannten Schriftstellers George Meredith ganz oben auf meinem Lesestapel liegt.
Außerdem möchte ich unbedingt den Roman The Passion According to Renée Vivien (Ü: Kathleen McNerney und Helena Buffery) der katalanischen Dichterin Maria-Mercè Marçal lesen, der sich mit dem Leben, Lieben und Schreiben der anglo-französischen Fin-de-siècle-Schriftstellerin Pauline Tarn-Renée Vivien auseinandersetzt.
Zum Abschluss möchte ich heute noch kurz (und ausnahmsweise) über ein Medium sprechen, mit dem ich mich normalerweise nicht so viel befasse. Eher zufällig, aber genau passend zum heutigen Newsletter-Thema, bin ich gestern nämlich darauf gestoßen, dass vor zwei Wochen unter dem Titel Behind the Author's Desk: Dramas of Famous Writers' Real Lives eine Hörspielsammlung mit "18 biographical dramas based on the lives and loves of celebrated writers" erschienen ist, die ziemlich vielversprechend klingt. Eines der enthaltenen Hörspiele (nicht Hörbücher!), When Fanny Met Germaine (geschrieben von Sian Ejiwunmi-Le Berre) über eine Begegnung der beiden Schriftstellerinnen Fanny Burney und Germaine de Staël, habe ich letztes Jahr bereits begeistert gehört, deshalb bin ich nun sehr gespannt auf die komplette Sammlung (die man auch auf Audible herunterladen kann), die u.a. Episoden aus dem Leben von Jane Austen, Charlotte Brontë, George Eliot, Sofja Tolstaja, Edith Sitwell, Katherine Mansfield und Sylvia Townsend Warner reimaginiert.
Falls ihr noch irgendwelche anderen Bücher (oder Hörspiele) im Stil der hier genannten kennt, in denen sich Autor*innen auf (ungewöhnliche) literarische Weise mit dem Leben und Werk anderer Künstler*innen auseinandersetzen, seid ihr übrigens verpflichtet, mich darüber in Kenntnis zu setzen! Bitte.
Das war’s für heute, lang ist’s geworden. Das ging bei diesem Lieblingsthema aber nicht anders! Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich wieder an einem Mittwoch verschicken, vermutlich in zwei Wochen, vielleicht auch erst in drei. Bis dahin findet ihr mich auf Twitter.
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Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda
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