schön, dass ihr dabei seid! Jetzt haben wir mit Sjur Gabriel also schon den ersten der vier Hellemyr-Bände gelesen. Wie ging es euch mit dem ersten Leseabschnitt? Gibt es irgendwelche Fragen, Wünsche, Anregungen oder Verbesserungsvorschläge für den Ablauf? Lasst es mich gerne in den Kommentaren wissen.
Der erste Band von Amalie Skrams Romantetralogie Die Leute vom Hellemyr, Sjur Gabriel, erschien im Original erstmals 1887 und wurde für die Gesamtausgabe des Guggolz Verlags von Christel Hildebrandt ins Deutsche übersetzt.
Dieser Band handelt von dem Bauer und Fischer Sjur Gabriel, der zusammen mit seiner Frau Oline und den vielen gemeinsamen Kindern auf dem Hellemyr (dt. Felsenmoor), einem kargen Hof ein ganzes Stück abseits der Stadt Bergen (und von dort quasi nur mit dem Boot erreichbar), unter sehr ärmlichen Verhältnissen lebt und arbeitet. Man kann die Ehe der beiden Eltern nicht gerade als glücklich bezeichnen, Oline ertränkt ihre Unzufriedenheit über die eigenen Lebensumstände, die von Armut, harter Arbeit und zahlreichen Schwangerschaften geprägt sind, im Alkohol und Sjur Gabriel macht seinem Frust über die Alkoholsucht seiner Frau in regelmäßigen brutalen Prügelattacken auf sie Luft. Seine Gewalt scheint dabei jedoch sogar von Oline als natürlich und geradezu unausweichlich akzeptiert zu werden:
"Ja, wenn sie nur ab und an in die Stadt kam, dann war es doch eigentlich ganz in Ordnung hier auf der Welt, und Sjur Gabriel war ein guter, ordentlicher Mann, wenn er sie auch immer mal wieder verprügelte, jedenfalls war er nicht nachtragend. War er abends wütend gewesen und hatte sie geschlagen, so war die schlechte Laune am nächsten Morgen wie weggeblasen. Und es war der reine Segen, dass er tagsüber so gut wie gar nicht mit ihr redete, sowohl im Guten als auch im Schlechten."
Aber auch wenn Oline sich mit ihrem Los irgendwie abzufinden scheint, machten es Sjur Gabriels Gewaltexzesse gegenüber seiner Frau, aber auch gegenüber seinen Kindern (und später im Buch gegenüber einem verantwortungslosen jungen Mann, der als Aushilfe auf dem Hellemyr angestellt wird), die von Skram in all ihrer Brutalität völlig ungeschönt geschildert werden, für mich als moderne Leserin erstmal sehr schwer, mit Sjur Gabriel als Figur zu sympathisieren — zu Beginn meiner Lektüre hielt ich ihn erstmal für den "Bösewicht" dieses Buchs. Aber so leicht macht es Amalie Skram sich und uns Leser*innen natürlich nicht! Keine ihrer Figuren ist eindimensional einfach nur schwarz oder weiß gezeichnet, selbst die Nebenfiguren haben jeweils mehrere unterschiedliche Facetten und fühlen sich dadurch umso realistischer an. Überhaupt ist Amalie Skrams genaue Beobachtungsgabe sehr beeindruckend und der Detailreichtum, mit dem sie verschiedenste Situationen und Ereignisse schildert. Das betrifft sowohl für den Plot sehr wichtige Szenen wie z.B. die Geburt und später die Krankheit von Klein-Gabriel (beides sehr mitreißende, emotionale Momente) als auch banalere Augenblicke wie z.B. die komplexe nächtliche Ankleideszene der alten Nachbarin Kari. Was und wie genau die alte Frau sich anzieht, als sie von Sjur Gabriel spontan zur Geburtshilfe herbeigerufen wird, ist für den Handlungsverlauf nicht wirklich relevant, sorgt aber in seiner ausführlichen Schilderung dafür, dass ich mich als Leserin noch näher am Geschehen und etwas mehr in der für mich als Berlinerin des 21. Jahrhunderts doch sehr fremden Welt des Hellemyr zuhause gefühlt habe.
Soviel erstmal zu meinen Gedanken, jetzt möchte ich erstmal einen Blick darauf werfen, wie es einigen von euch anderen Leser*innen mit dem ersten Band erging:
"Während die 1200 Seiten aller vier Bände durchaus einschüchternd wirken, bin ich nun fast schon traurig, dass es nicht noch mehr sind. Und das wie gesagt nach Band eins! Ein Grund dafür, wieso die Welt von Hellemyr mich sofort in den Bann schlug ist sicher die Übersetzung. Christel Hildebrandt ist eine von drei Übersetzerinnen des Projekts. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen Nora Pröfrock und Gabriele Haefs hat sie die besonderen Dialekte und Eigenheiten des von Amalie Skram verwendeten Norwegischen ins Deutsche übertragen. Viele norddeutsche Begriffe und Formulierungsweisen sorgen nun dafür, dass für mich persönlich alles unheimlich vertraut klingt. Die norddeutschen Wurzeln sorgen sozusagen für einen besonderen Lesesog. […] Aber auch die Geschichte selbst liest sich faszinierend. Diese Bauernfamilie, die zwischen harter Arbeit, häuslicher Gewalt, Verlusten, Alkoholismus und dem Versuch, das Leben irgendwie zu meistern aufgerieben wird… Ich weiß nicht wieso diese eigentlich so tragische Kombination so viel Freude am Lesen bewirkt. Vielleicht ist es das Verständnis, das man durch Amalie Skrams Beschreibungen für jede einzelne Figur gewinnt.”
Sie war nicht die einzige, die von der Erzählung sofort in den Bann gezogen wurde:
Andrea Bräscher kommentiert auf Instagram: "Im ersten Band hat Amalie Skram so geschrieben, dass ich nach jeder Seite gespannt war, was als Nächstes passiert!"
Auch as.i.read.it hat Band 1 "in fast einem Rutsch durchgelesen" und findet: "die Leser*in wird auf sehr mitfühlende und berührende Art nach Hellemyr entführt und lernt diesen Mikrokosmos kennen und auch lieben. Ich habe mit gelitten und hab zum Ende des ersten Bandes das ein oder andere Tränchen fast vergossen. „Bei Gott…“ diese Charaktere sind mir ans Herz gewachsen und ich muss weiterlesen."
Und Nicole Seifert verkündet: "Mein heiß ersehntes Weihnachtsgeschenk, das ich direkt am 1. Weihnachtstag angefangen und inzwischen durchgelesen habe, denn diese vier Bände sind tatsächlich - wie irgendwo stand - besser als eine Netflix-Serie."
Die zum Bingereading verführende Sogwirkung der Bücher bestätigt auch Birgit Sommer:
Trotz oder gerade wegen dieser Sogwirkung sind einige, darunter auch ich, überrascht davon, wie düster der erste Band ist. Die Gewalt, die in vielen Szenen ziemlich ungeschönt geschildert wird, war nicht nur mir manchmal fast zu heftig:
Helen und ich waren außerdem beide von der ausführlich beschriebenen Geburtsszene beeindruckt, aber auch erschüttert:
Die Übersetzerin Christel Hildebrandt (die sich auch in ihrem Nachwort ausführlicher zu diesem Thema äußert) hat sich nach langen Diskussionen mit ihren Übersetzungskolleginnen und dem Verleger dazu entschieden, die Dialektpassagen des norwegischen Originals nicht einfach in einen konkreten modernen deutschen Dialekt zu übertragen, vielmehr hat sie eine Art norddeutsch angehauchten Kunstdialekt erschaffen, um für heutige Leser*innen einen ähnlichen Effekt wie im Original zu erzielen. Wie gut das gelungen ist, dabei gingen die Meinungen bei euch auseinander:
Die Norddeutschen unter den Leser*innen hatten damit kaum Probleme, er fühlte sich relativ vertraut an, andere Leser*innen, wie z.B. ich (stamme aus Franken) taten sich damit etwas schwerer. Frieda schreibt: "Damit hab ich mich tatsächlich auch schwer getan. Aber ich tu mich grundsätzlich schwer mit geschriebenem Dialekt." Und Norbert sagt: "An das "ik/ek" habe ich mich über die Bände nicht gewöhnen können. Irgendwann akzeptiert, dass es dazugehört."
Jetzt aber zu euch! Wie ist es euch mit diesem ersten Band ergangen? Ist euch die Lektüre leichtgefallen oder hattet ihr Startschwierigkeiten?
Wie gefällt euch die Sprache? Wie findet ihr die Lösung, die die Übersetzerin Christel Hildebrandt für den Umgang mit den Dialektpassagen des norwegischen Originals gewählt hat?
Was waren eure Lieblingsstellen? Welche Szenen fandet ihr am eindrücklichsten? Welche vielleicht problematisch und warum? Und wer war eure Lieblingsfigur?
Was ist euch sonst noch aufgefallen? Wo habt ihr Diskussionsbedarf?
Ich will all eure Meinungen, Kritikpunkte, Widersprüche usw. hier in den Kommentare lesen! Tobt euch aus!
Nächste Woche am 29.1. lesen wir uns hier wieder, dann werden wir uns über unseren zweiten Leseabschnitt austauschen, nämlich Band 2: Zwei Freunde, Kapitel I-VII (S. 5-90). (Hier findet ihr nochmal die Einteilung der weiteren Leseabschnitte.) Denkt dran, bei euren Social Media-Beiträgen zum Lesekreis den #HellemyrLesen zu verwenden!
Frohe Diskussion und frohe Lektüre!
Eure Magda
(PS: Ich klinke mich erst heute Abend wieder in die hoffentlich lebhafte Diskussion hier ein, wir haben heute tagsüber Inventur im Ocelot, sprich müssen jedes einzelne Buch im Laden erfassen — wünscht mir Glück, dass es nicht arg viel länger als die angesetzten 6 Stunden dauert!)
Es gibt aber auch durchaus positive Szenen im Buch, wenn Sjur Gabriel sich liebevoll um seinen jüngsten Sohn kümmert oder wenn Jens sich um die Mutter sorgt und in der Nacht zum Boot läuft, um sie nach Hause zu holen. Bei all dem Schrecklichen, der Armut, der Gewalt und der Ausweglosigkeit, zeigt Amalie Skarm auch Liebe zwischen den handlenden Personen.
Mich hat das Buch auch ganz schön mitgenommen. Ich kam mir streckenweise vor, als wäre ich in einem Film von Lars von Trier gelandet: Einöde, Dauerregen und die zunehmende Gewissheit, dass die tragische Handlung keine positive oder irgendwie erfreuliche Wendung mehr nehmen wird.
Den Dialekt fand ich dann eher tröstlich, weil er mich etwas aus dem Sog der Tragödie herausgeholt hat: Wenn die Handlung schon keine Hoffnung gibt, konnte ich mich doch immerhin an den originellen und manchmal sehr berührenden Aussprüchen der Personen erfreuen.
Das ging mir ganz ähnlich - sehr düster, das alles. Einige Stellen, zB die Krampfanfälle von Klein-Gabriel fand ich gefühlt überzeichnet oder überspitzt durch die wirklich sehr detaillierte Beschreibung. Ich kann das allerdings nicht ganz einordnen - würde mich sehr interessieren, wie es anderen beim Lesen damit ging.
Ich fand die Krampfanfälle eigentlich sehr gut erzählt in dieser Detailtreue. Weil ich dadurch so richtig nah dabei war, es fühlte sich quasi an, als stünde ich selbst hilflos vor dieser Wiege. Man muss ja auch ebdenken, dass Sjur Gabriel als eifnacher Bauer vom Land aus der damaligen Zeit vermutlich wenig medizinisches Wissen hat und dadurch keinerlei Möglichkeit, das einzuordnen (im Gegensatz zu uns, die wir solche Anfälle zumidnest aus Filmen etc. kennen, wenn nicht sogar aus eigener Erfahrung). Dadurch fühlt sich sowas glaube ich dann nochmal viel drastischer und schlimmer an und das hat Skram in dieser Szene gut eingefangen, fand ich.
Sehr eindringlich finde ich auch die Passagen, in denen Sjur Gabriel versucht, Oline vom Trinken abzuhalten und sie ihm dann doch entwischt. Diese Verzweiflung und anschließende Resignation ist quasi greifbar. Auch das Verhalten der Kinder ist sehr klar heraus gearbeitet in diesem Sucht-Familien-System. Die Tochter, die die Mutteraufgaben übernimmt und zum Erwachsen-Sein gezwungen ist, um nur ein Bespiel zu nennen. Die Überforderung von Sjur Gabriel, die sich in Gewalt gegenüber der Kinder explosionsartig Bahn bricht. Das Unbehagen ergreift mich hier als Leserin direkt.
Ja, ich fand auch die szene krass, in der Sjur Gabriel merkt, dass seine Teenietochter total überfordert ist und er ihr zu viel Verantwortung aufbürdet, und er versucht, sanft mit ihr zu sein, ist aber gleichzeitig selbst überfordert mit der Gesamtsituation. Das fühlte sich sehr real an.
Sehr erschütternd fand ich auch die kurze Szene mit dem Brei, nachdem Oline aus dem Krankenhaus zurück ist und Ingeborg ihr ihre Abwesenheit vorwirft und sagt, sie hätte ja eh alles machen müssen, dan könne sie jetzt auch den Brei machen. Und Oline sie daraufhin schlägt. Damit setzt sie ja letztlich Sjur Gabriels Verhalten fort, der wiederum ihre Trunksucht von ihr "übernimmt".
Als in Norddeutschland aufgewachsene Berlinern habe ich keine Probleme mit dem Dialekt, bin aber sehr gespannt, wie (und ob) er sich mit der fortschreitenden Zeit in den nächsten Büchern entwickelt, Sprache verändert sich ja.
Insgesamt hat es mir sehr gut gefallen, ich war auch sofort "drin" im Buch.
Auch ich war direkt mitten in der Geschichte. Amalie Skrams Figurenzeichnung hat mich fasziniert. Sie scheint nicht nur Verständnis, sondern sogar Sympathie für alle handelnden Personen zu haben. Die Ausweglosigkeit, in der sich die Familie befindet, hat mich erschüttert. Wenn Sjur Gabriel Oline aus dem Krankenhaus abholt und sie an ihre Hütte daheim denkt und an die schwere eintönige Arbeit, springt mich ihre Verzweifelung förmlich an. Ich hätte gerne noch mehr von ihren Gedanken und Gefühlen erfahren. Aber da der erste Band "Sjur Gabriel" heißt, steht er mehr im Fokus. Seine brutalen Prügelattacken und seine Wut stoßen ab. Umso erstaunter war ich, dass er nach dem Krankenhaus bei Gott schwört, Oline nicht mehr zu schlagen und das auch durchhält. Das Ringen mit Gott um sein Seelenheil und die Auseinandersetzung mit seiner Schuld haben mich sehr beeindruckt. Ich bin schon ungeheuer gespannt auf Band 2. Ein besonderer Dank an Christel Hildebrandt für die Übersetzung!
Ich fand auch den Moment sehr bewegend und ja, erschütternd, als nach Klein-Gabriels Tod beide Eltern sich jeweils selbst die Schuld dafür geben und ihn als Strafe Gottes für ihre jeweiligen Verfehlungen betrachten. Das war so traurig. Auch dass sie nun beide keinen anderen Ausweg mehr sehen, als ihre Trauer in Alkohol zu ertränken.
Danke für die ausführliche Zusammenfassung, hier noch ein paar Gedanken von mir.
Was mich am meisten beeindruckt hat (neben der angesprochenen Sogwirkung) ist die Lebendigkeit und Ambivalenz der Figuren. Das Kilschee vom trinkenden, prügelnden Ehemann wird eben NICHT bedient, und der gewalttätige Ehemann hat genau so seine guten Seiten wie seine alkoholkranke Frau. Die Gewaltdarstellungen sind für unsere Zeit heftig, aber ich fürchte, dass diese Gewalt zur Entstehungszeit des Romans noch viel alltäglicher war als heute.
Mit dem Dialekt hab ich - als norddeutschland-affine Österreicherin - kaum Probleme, zumindest im Vergleich zu anderen Lektüren.
Ich bin gespannt wie es weitergeht, werde aber noch ein paar Tage warten, bis ich mit Band 2 beginne. Ich habe den Verdacht, dass ich eine längere Pause mitten im Buch schwierig wird, wenn das mit dem Lesesog so weiter geht.
Ja, die Figuren sind wirklch sehr rund und eben ambivalent. Mich hat z.B. Sjur Gabriels Liebe und Aufopferung für seinen kleinen Sohn total gerührt. Oder dieser ganz kurze Moment, wo klar wird: Sjur Gabriel weiß, dass er seine 13jährige Tochter gerade total überfordert und viel zu große Verantwortung auf ihr lastet, und er versucht sanft mit ihr zu sein. Das hat ihn irgendwie total menschlich und ein Stück mehr sympathisch für mich gemacht.
Aus heutiger Sicht finde ich es auch so erstaunlich, dass Amalie Skram hier im Prinzip einen (zeitweilig) alleinerziehenden Vater beschreibt, der über achtsame Zuwendung und Fürsorge eine ebenso enge Bindung zu seinem Säugling herstellen kann wie die Mutter - und das in einer Zeit, als es noch keine Hilfsmittel wie Brustpumpe, Pre-Nahrung & Co gab. Damals war das mit Sicherheit eine große Ausnahme, aber selbst heute ist es z.T. ja noch eine durchaus gängige Ansicht, dass die Mutter aufgrund biologischer Gegebenheiten zur ersten und wichtigsten Bindungsperson eines Kindes prädestiniert sei. Das zeigt, wie wahnsinnig modern der Text immer noch ist.
Ja, das stimmt. Und dass er das mit der Fürsorge eben auch ganz "instinktiv" und ohne Anleitung hingekriegt hat, so wie es von Frauen seit jeher erwartet und wie es Männern normalerweise gar nicht zugetraut wird.
Ich finde es beeindruckend, wie Amalie Skram auf so wenigen Seiten im ersten Band schon so viel Leben und Hintergründe packt. Man bekommt ein sehr gutes Gefühl für die damalige Zeit und Gesellschaft und wie du auch schon meintest, gibt es kein Schwarz oder Weiß, sondern sehr viele Grautöne, in denen sich die Charaktere verlieren.
Mit dem Dialekt habe ich (als Süddeutsche) wirklich arge Probleme, ich merke nämlich, dass ich häufig dazu neige, Absätze zu scannen, statt genau zu lesen und bei all den Dialekt-Sätzen gelingt mir das nicht auf Anhieb. Aber das ist auch gar nicht so schlimm, dann konzentriere ich mich mehr aufs Lesen. Und ich bin schon sehr gespannt, ob sich hier in den nächsten Bänden ein Gewohnheitseffekt einstellen wird.
Ja, als fellow Süddeutsche geht es mir da wirklich ähnlich wie dir, was den Dialekt angeht, aber ich finde die Geschichte so mitreißend, dass es mir immer besser gelugnen ist, das eifnach hinzunehmen und mich darauf einzulassen.
Die Übertragung des Dialekts, bzw. der Dialekte, war wirklich eine große Herausforderung. Die Lösung, für die wir uns entschieden haben, ist sicher nur eine von vielen. Die eine perfekte Übertragung gibt es vermutlich nicht - auch wenn ich mich da gern eines Besseren belehren lasse! :)
Aber als Hintergrund kann ich hier vielleicht noch beitragen, dass der ländliche Strile-Dialekt, den Oline und Sjur Gabriel sprechen, ein sehr lokales Phänomen ist, mit dem sich viele Norweger*innen, die aus anderen Ecken des Landes kommen, ebenfalls schwertun. Schon zur Entstehungszeit des Romans wurde er vom Publikum z.T. als "Teufelssprache" wahrgenommen, weil er so unverständlich war. Für heutige Leser*innen kommt noch der zeitliche Abstand hinzu, der das Ganze zusätzlich erschwert. Christel Hildebrandt, die den Band übersetzt und die deutsche Form des Strile-Dialekts entworfen hat, geht darauf auch in ihrem Nachwort ein.
Dass der Dialekt auch für die zeitgenössischen Leser*innen des Romans ungewöhnlich und befremdlich war, macht es irgendwie dann wieder stimmiger für mich, dass ich damit so gestruggelt habe. Danke für die Erklärung! Ich bin auch gespannt, wie sich die Sprache in den weiteren Bänden entwickelt.
So dankbar, dass die Übersetzung sich den Dialekten gestellt hat. Das Erleben ist so anders. Da ich selber zwischen Dialekten und Milieusprachen groß wurde, mag ich Literstur sehr, die das abbildet. Wenn in die Richtung jemensch Empfehlungen hat...
Und ebenso immer wieder neu faszinierend die Selbstverständlichkeit von "Gott" im Fühlen, Denken, Sprechen der Menschen, die hier so leichtfüßig abgebildet ist.
Gerade gestern erst begonnen und nun voller Freude auf Band 2 ff..
Ja, ich selbst bin überhaupt nicht religiös, aber finde Literatur, die Religion ernst nimmt, auch immer total faszinierend. Lese ja auch total gern Romane über so englische Pfarrfamilien etc. (Trollope z.B.!)
Eine meiner Lieblingsstellen ist der Dialog zwischen Oline und der Wirtin Guri, ganz am Anfang des Buchs. Es fängt an mit den alleroberflächlichsten Allgemeinplätzen und geht dann weiter mit dem Feilschen um ein Tuch, weil Oline Geld braucht. Ich fand die Stelle witzig und schrecklich gleichzeitig.
Ja, es sind irgendwie echt diese kleinen eher usncheinbaren Szenen, die besonders faszinierend wirken. Bei mir ist es wie gesagt die Szene, wie sich die alte Nachbarin nachts im Dunkeln ankleidet mit diesen vielen verschiedenen Lagen, als Sjur Gabriel sie wegen der anstehenden Geburt zu Hilfe holt. Das fand ich irgendwie unglaublich witzig.
Stimmt. So nüchtern (höhö) und lakonisch und gleichzeitig so unglaublich beklemmend, und einerseits ist es wie ein Schlag ins Gesicht, andererseits macht es das Buch total rund und ist im Nachhinein betrachtet eigentlich ein total logisches Outcome.
Es gibt aber auch durchaus positive Szenen im Buch, wenn Sjur Gabriel sich liebevoll um seinen jüngsten Sohn kümmert oder wenn Jens sich um die Mutter sorgt und in der Nacht zum Boot läuft, um sie nach Hause zu holen. Bei all dem Schrecklichen, der Armut, der Gewalt und der Ausweglosigkeit, zeigt Amalie Skarm auch Liebe zwischen den handlenden Personen.
Ja, die Szenen, in denen sich Sjur Gabriel liebevoll um seinen Sohn kümmert, waren für mich auch die schönsten.
Mich hat das Buch auch ganz schön mitgenommen. Ich kam mir streckenweise vor, als wäre ich in einem Film von Lars von Trier gelandet: Einöde, Dauerregen und die zunehmende Gewissheit, dass die tragische Handlung keine positive oder irgendwie erfreuliche Wendung mehr nehmen wird.
Den Dialekt fand ich dann eher tröstlich, weil er mich etwas aus dem Sog der Tragödie herausgeholt hat: Wenn die Handlung schon keine Hoffnung gibt, konnte ich mich doch immerhin an den originellen und manchmal sehr berührenden Aussprüchen der Personen erfreuen.
Das ging mir ganz ähnlich - sehr düster, das alles. Einige Stellen, zB die Krampfanfälle von Klein-Gabriel fand ich gefühlt überzeichnet oder überspitzt durch die wirklich sehr detaillierte Beschreibung. Ich kann das allerdings nicht ganz einordnen - würde mich sehr interessieren, wie es anderen beim Lesen damit ging.
Ich fand die Krampfanfälle eigentlich sehr gut erzählt in dieser Detailtreue. Weil ich dadurch so richtig nah dabei war, es fühlte sich quasi an, als stünde ich selbst hilflos vor dieser Wiege. Man muss ja auch ebdenken, dass Sjur Gabriel als eifnacher Bauer vom Land aus der damaligen Zeit vermutlich wenig medizinisches Wissen hat und dadurch keinerlei Möglichkeit, das einzuordnen (im Gegensatz zu uns, die wir solche Anfälle zumidnest aus Filmen etc. kennen, wenn nicht sogar aus eigener Erfahrung). Dadurch fühlt sich sowas glaube ich dann nochmal viel drastischer und schlimmer an und das hat Skram in dieser Szene gut eingefangen, fand ich.
Sehr eindringlich finde ich auch die Passagen, in denen Sjur Gabriel versucht, Oline vom Trinken abzuhalten und sie ihm dann doch entwischt. Diese Verzweiflung und anschließende Resignation ist quasi greifbar. Auch das Verhalten der Kinder ist sehr klar heraus gearbeitet in diesem Sucht-Familien-System. Die Tochter, die die Mutteraufgaben übernimmt und zum Erwachsen-Sein gezwungen ist, um nur ein Bespiel zu nennen. Die Überforderung von Sjur Gabriel, die sich in Gewalt gegenüber der Kinder explosionsartig Bahn bricht. Das Unbehagen ergreift mich hier als Leserin direkt.
Ja, ich fand auch die szene krass, in der Sjur Gabriel merkt, dass seine Teenietochter total überfordert ist und er ihr zu viel Verantwortung aufbürdet, und er versucht, sanft mit ihr zu sein, ist aber gleichzeitig selbst überfordert mit der Gesamtsituation. Das fühlte sich sehr real an.
Sehr erschütternd fand ich auch die kurze Szene mit dem Brei, nachdem Oline aus dem Krankenhaus zurück ist und Ingeborg ihr ihre Abwesenheit vorwirft und sagt, sie hätte ja eh alles machen müssen, dan könne sie jetzt auch den Brei machen. Und Oline sie daraufhin schlägt. Damit setzt sie ja letztlich Sjur Gabriels Verhalten fort, der wiederum ihre Trunksucht von ihr "übernimmt".
Als in Norddeutschland aufgewachsene Berlinern habe ich keine Probleme mit dem Dialekt, bin aber sehr gespannt, wie (und ob) er sich mit der fortschreitenden Zeit in den nächsten Büchern entwickelt, Sprache verändert sich ja.
Insgesamt hat es mir sehr gut gefallen, ich war auch sofort "drin" im Buch.
Auch ich war direkt mitten in der Geschichte. Amalie Skrams Figurenzeichnung hat mich fasziniert. Sie scheint nicht nur Verständnis, sondern sogar Sympathie für alle handelnden Personen zu haben. Die Ausweglosigkeit, in der sich die Familie befindet, hat mich erschüttert. Wenn Sjur Gabriel Oline aus dem Krankenhaus abholt und sie an ihre Hütte daheim denkt und an die schwere eintönige Arbeit, springt mich ihre Verzweifelung förmlich an. Ich hätte gerne noch mehr von ihren Gedanken und Gefühlen erfahren. Aber da der erste Band "Sjur Gabriel" heißt, steht er mehr im Fokus. Seine brutalen Prügelattacken und seine Wut stoßen ab. Umso erstaunter war ich, dass er nach dem Krankenhaus bei Gott schwört, Oline nicht mehr zu schlagen und das auch durchhält. Das Ringen mit Gott um sein Seelenheil und die Auseinandersetzung mit seiner Schuld haben mich sehr beeindruckt. Ich bin schon ungeheuer gespannt auf Band 2. Ein besonderer Dank an Christel Hildebrandt für die Übersetzung!
Ich fand auch den Moment sehr bewegend und ja, erschütternd, als nach Klein-Gabriels Tod beide Eltern sich jeweils selbst die Schuld dafür geben und ihn als Strafe Gottes für ihre jeweiligen Verfehlungen betrachten. Das war so traurig. Auch dass sie nun beide keinen anderen Ausweg mehr sehen, als ihre Trauer in Alkohol zu ertränken.
Danke für die ausführliche Zusammenfassung, hier noch ein paar Gedanken von mir.
Was mich am meisten beeindruckt hat (neben der angesprochenen Sogwirkung) ist die Lebendigkeit und Ambivalenz der Figuren. Das Kilschee vom trinkenden, prügelnden Ehemann wird eben NICHT bedient, und der gewalttätige Ehemann hat genau so seine guten Seiten wie seine alkoholkranke Frau. Die Gewaltdarstellungen sind für unsere Zeit heftig, aber ich fürchte, dass diese Gewalt zur Entstehungszeit des Romans noch viel alltäglicher war als heute.
Mit dem Dialekt hab ich - als norddeutschland-affine Österreicherin - kaum Probleme, zumindest im Vergleich zu anderen Lektüren.
Ich bin gespannt wie es weitergeht, werde aber noch ein paar Tage warten, bis ich mit Band 2 beginne. Ich habe den Verdacht, dass ich eine längere Pause mitten im Buch schwierig wird, wenn das mit dem Lesesog so weiter geht.
Ja, die Figuren sind wirklch sehr rund und eben ambivalent. Mich hat z.B. Sjur Gabriels Liebe und Aufopferung für seinen kleinen Sohn total gerührt. Oder dieser ganz kurze Moment, wo klar wird: Sjur Gabriel weiß, dass er seine 13jährige Tochter gerade total überfordert und viel zu große Verantwortung auf ihr lastet, und er versucht sanft mit ihr zu sein. Das hat ihn irgendwie total menschlich und ein Stück mehr sympathisch für mich gemacht.
Aus heutiger Sicht finde ich es auch so erstaunlich, dass Amalie Skram hier im Prinzip einen (zeitweilig) alleinerziehenden Vater beschreibt, der über achtsame Zuwendung und Fürsorge eine ebenso enge Bindung zu seinem Säugling herstellen kann wie die Mutter - und das in einer Zeit, als es noch keine Hilfsmittel wie Brustpumpe, Pre-Nahrung & Co gab. Damals war das mit Sicherheit eine große Ausnahme, aber selbst heute ist es z.T. ja noch eine durchaus gängige Ansicht, dass die Mutter aufgrund biologischer Gegebenheiten zur ersten und wichtigsten Bindungsperson eines Kindes prädestiniert sei. Das zeigt, wie wahnsinnig modern der Text immer noch ist.
Ja, das stimmt. Und dass er das mit der Fürsorge eben auch ganz "instinktiv" und ohne Anleitung hingekriegt hat, so wie es von Frauen seit jeher erwartet und wie es Männern normalerweise gar nicht zugetraut wird.
Ich finde es beeindruckend, wie Amalie Skram auf so wenigen Seiten im ersten Band schon so viel Leben und Hintergründe packt. Man bekommt ein sehr gutes Gefühl für die damalige Zeit und Gesellschaft und wie du auch schon meintest, gibt es kein Schwarz oder Weiß, sondern sehr viele Grautöne, in denen sich die Charaktere verlieren.
Mit dem Dialekt habe ich (als Süddeutsche) wirklich arge Probleme, ich merke nämlich, dass ich häufig dazu neige, Absätze zu scannen, statt genau zu lesen und bei all den Dialekt-Sätzen gelingt mir das nicht auf Anhieb. Aber das ist auch gar nicht so schlimm, dann konzentriere ich mich mehr aufs Lesen. Und ich bin schon sehr gespannt, ob sich hier in den nächsten Bänden ein Gewohnheitseffekt einstellen wird.
Ja, als fellow Süddeutsche geht es mir da wirklich ähnlich wie dir, was den Dialekt angeht, aber ich finde die Geschichte so mitreißend, dass es mir immer besser gelugnen ist, das eifnach hinzunehmen und mich darauf einzulassen.
Die Übertragung des Dialekts, bzw. der Dialekte, war wirklich eine große Herausforderung. Die Lösung, für die wir uns entschieden haben, ist sicher nur eine von vielen. Die eine perfekte Übertragung gibt es vermutlich nicht - auch wenn ich mich da gern eines Besseren belehren lasse! :)
Aber als Hintergrund kann ich hier vielleicht noch beitragen, dass der ländliche Strile-Dialekt, den Oline und Sjur Gabriel sprechen, ein sehr lokales Phänomen ist, mit dem sich viele Norweger*innen, die aus anderen Ecken des Landes kommen, ebenfalls schwertun. Schon zur Entstehungszeit des Romans wurde er vom Publikum z.T. als "Teufelssprache" wahrgenommen, weil er so unverständlich war. Für heutige Leser*innen kommt noch der zeitliche Abstand hinzu, der das Ganze zusätzlich erschwert. Christel Hildebrandt, die den Band übersetzt und die deutsche Form des Strile-Dialekts entworfen hat, geht darauf auch in ihrem Nachwort ein.
Dass der Dialekt auch für die zeitgenössischen Leser*innen des Romans ungewöhnlich und befremdlich war, macht es irgendwie dann wieder stimmiger für mich, dass ich damit so gestruggelt habe. Danke für die Erklärung! Ich bin auch gespannt, wie sich die Sprache in den weiteren Bänden entwickelt.
So dankbar, dass die Übersetzung sich den Dialekten gestellt hat. Das Erleben ist so anders. Da ich selber zwischen Dialekten und Milieusprachen groß wurde, mag ich Literstur sehr, die das abbildet. Wenn in die Richtung jemensch Empfehlungen hat...
Und ebenso immer wieder neu faszinierend die Selbstverständlichkeit von "Gott" im Fühlen, Denken, Sprechen der Menschen, die hier so leichtfüßig abgebildet ist.
Gerade gestern erst begonnen und nun voller Freude auf Band 2 ff..
Das ist ein schönes Kompliment, vielen Dank!
Ja, ich selbst bin überhaupt nicht religiös, aber finde Literatur, die Religion ernst nimmt, auch immer total faszinierend. Lese ja auch total gern Romane über so englische Pfarrfamilien etc. (Trollope z.B.!)
Eine meiner Lieblingsstellen ist der Dialog zwischen Oline und der Wirtin Guri, ganz am Anfang des Buchs. Es fängt an mit den alleroberflächlichsten Allgemeinplätzen und geht dann weiter mit dem Feilschen um ein Tuch, weil Oline Geld braucht. Ich fand die Stelle witzig und schrecklich gleichzeitig.
Ja, es sind irgendwie echt diese kleinen eher usncheinbaren Szenen, die besonders faszinierend wirken. Bei mir ist es wie gesagt die Szene, wie sich die alte Nachbarin nachts im Dunkeln ankleidet mit diesen vielen verschiedenen Lagen, als Sjur Gabriel sie wegen der anstehenden Geburt zu Hilfe holt. Das fand ich irgendwie unglaublich witzig.
Diese Szene liebe ich auch. :)
Eher am Rande, aber: Selten hat mich der letzte Satz eines Buches so sehr beeindruckt wie der von Sjur Gabriel. Mir fällt nichts vergleichbares ein.
Oh ja, der letzt Satz ist ein Hammer!
Stimmt. So nüchtern (höhö) und lakonisch und gleichzeitig so unglaublich beklemmend, und einerseits ist es wie ein Schlag ins Gesicht, andererseits macht es das Buch total rund und ist im Nachhinein betrachtet eigentlich ein total logisches Outcome.
Ja, alles das!