Heimliche Projekte, neue Blicke auf Jugendlektüren und ein Fischsülzesexbuch
und ein paar ganz famose Neuerscheinungen
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Ihr Lieben,
jetzt musstet ihr fast zwei Monate lang auf eine neue Ausgabe dieses Newsletters warten, im März ist er einfach ausgefallen, aber das hat euch wenigstens ein bisschen Zeit gegeben, eure Lesestapel abzuarbeiten, bevor ich euch wieder mit viel zu vielen neuen Lektüreempfehlungen überfalle. Der fehlende März-Newsletter hat u.a. damit zu tun, dass ich in den letzten Wochen und Monaten mit zwei großen (und mehreren kleinen) aufregenden Projekten beschäftigt war und zwar viel für jene gelesen habe, aber daneben einfach keine Zeit hatte, auch noch einen ausführlichen Newsletter zu fabrizieren (und unausführlich kann ich nicht!).
Eines dieser tollen Projekte war mein Online-Lesekreis #HellemyrLesen, bei dem ich mich gemeinsam mit einigen von euch 10 Wochen lang intensiv mit dem naturalistischen Meisterinnenwerk Die Leute vom Hellemyr der norwegischen Autorin Amalie Skram beschäftigt habe, das Ende 2022 erstmals vollständig in deutscher Übersetzung (von Christel Hildebrandt, Nora Pröfrock und Gabriele Haefs) im tollen Guggolz Verlag erschienen ist und auf rund 1200 Seiten in vier Bänden vom Niedergang einer Familie nahe der norwegischen Stadt Bergen erzhält, "die sich gegen ihr Unglück und einen schlechten Ruf auflehnt, doch bis in die nachfolgenden Generationen immer wieder davon eingeholt wird". Für diesen Lesekreis habe ich wöchentlich einen ausführlichen Diskussionspost verfasst, in dem ich und meine Mitleser*innen unsere Leseeindrücke miteinander geteilt haben, und zum Abschluss haben wir uns in der 11. Woche dann noch zu einem gemeinsamen Zoom Call getroffen, bei dem auch der Verleger Sebastian Guggolz mit dabei war und all unsere Fragen zu diesem verlegerischen Monumentalprojekt beantwortet hat. Ich fand das gemeinsame Lesen und den intensiven persönlichen Austausch über ein so umfangreiches, komplexes Werk unglaublich bereichernd, deswegen werde ich mit Sicherheit in Zukunft nochmal ein ähnliches Lesekreisprojekt auf die Beine stellen, wenn mir ein passender Text über den Weg läuft. In jedem Fall wird es dann wieder um eine "wiederentdeckte" Autorin gehen. Da die Vorbereitung und Betreuung des Lesekreises aber ungemein arbeitsaufwändig war, wird es bis dahin wohl noch ein wenig dauern. Wer nachträglich unsere Diskussionen zu den Leuten vom Hellemyr nachlesen möchte, kann das hier tun:
Der andere Grund für meine Newsletter-Sendepause im letzten Monat hat mit meinem wohl mit Abstand aufregendsten Nebenprojekt dieses Jahres zu tun, von dem ich euch hoffentlich nächste Woche endlich, endlich ausführlich erzählen kann! Für dieses Projekt habe ich die letzten Wochen intensiv an einem Text gearbeitet, der sehr rechercheintensiv war (kleiner Teaser — ich bin fies, ich weiß —: ich habe mich dafür u.a. viel mit Angestelltenromanen aus den 20er und 30er Jahre befasst), aber am Dienstag habe ich ihn endlich abgegeben und jetzt ein paar Tage Verschnaufpause, bevor ich mich in den nächsten von drei weiteren Texten stürze, die ich in den nächsten 2 Monaten abgeben muss…
Ein kleineres, aber umso erfreulicheres Nebenprojekt, das mich Ende März immerhin einen Arbeitstag lang beschäftigt hat, hat damit zu tun, dass der Chefredakteur des Branchenmagazins BuchMarkt mich gefragt hat, ob ich mir vorstellen könnte, für die neue Kolumne "Wie wir lesen" einen kleinen Text über meine Lektürevorlieben und Lesegwohnheiten zu schreiben. Daraus ist nun diese schöne Doppelseite (mit ganzseitigem Farbfoto von mir, wie krass ist das bitte?!?) in der April-Ausgabe des Magazins entstanden und das fühlt sich schon irgendwie ziemlich toll an:
Außerdem bin ich mal wieder in einem Podcast aufgetreten, und zwar in Zwischen…, einem Projekt von Chris Möller, das sie so beschreibt:
Vermittlung ist die Instanz dazwischen. Sie ist ein schwammiges, weites Feld, das als eigenständige Kulturpraxis nur selten besprochen wird.
Dieser Podcast möchte darum genau in diese Zwischenschicht gucken und die Frage beantworten: Zeitgenössische Vermittlung – was bedeutet das eigentlich? Welches Verständnis von Literatur und Gegenwart liegt ihr eigentlich zugrunde oder soll umgekehrt aktiv geformt werden?
Unterschiedliche Akteur:innen aus der Buch-Branche sprechen hier über ihr Handwerk, ihre Motivation und ihre kuratorische Handschrift – darüber, wie man die Angst vorm Digitalen überwindet, darüber, wie man den Weg aus dem Elfenbeinturm findet und darüber, wie sexy Lesen sein kann.
Die Folge, die Chris und ich zusammen aufgenommen haben, heißt "Zwischen… den Bücherregalen der Stars" und ihr könnt sie hier anhören:
Jetzt soll es aber endlich nicht mehr um mich gehen, sondern um die Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Das waren, neben dem (noch geheimen) Recherchematerial für meinen bereits erwähnten wichtigen Text dieses Mal hauptsächlich Neuerscheinungen aus den Frühjahrsprogrammen deutschsprachiger Verlage, weil ich davon ja für meinen Hauptjob als Buchhändlerin ein möglichst breites Spektrum kennen sollte. Hier ein paar meiner Favoriten, die ich euch unbedingt empfehle:
Irgendwie habe ich ein Faible für Lateinamerikanische Autorinnen, letztes Jahr habe ich hier ja z.B. mal ausführlich über Verónica Gerber Biccecis faszinierendes Roman-Kunstwerk Leere Menge (Ü: Birgit Weilguny) geschwärmt:
Kürzlich ist nun mit Lina Meruanes Nervensystem (Ü: Susanne Lange) ein Roman aus dem chilenischen Spanisch übersetzt worden, der mich auf ganz ähnliche weise fasziniert hat. Seine Protagonistin, eine Astrophysikerin, die wie alle Figuren und Orte dieses Romans namenlos bleibt, stammt aus dem „Land der Vergangenheit“, einer ehemaligen Diktatur in Lateinamerika, die geprägt ist von kollektiven und persönlichen Traumata gleichermaßen. Im „Land der Gegenwart“, in dem sie nun fernab von ihrer Familie, aber ausgestattet mit den Ersparnissen ihres Vaters, zusammen mit ihrem Partner, einem Gerichtsmediziner, lebt, kämpft sie, die eigentlich an ihrer Dissertation arbeiten sollte, mit einer Schreibblockade und dem schlechten Gewissen darüber, die in sie gesetzten Erwartungen nicht zu erfüllen. Fast wünscht sie sich, krank zu werden, um endlich Zeit fürs Schreiben zu finden, doch als tatsächlich mysteriöse Symptome bei ihr auftreten, für die ihre Ärzte keine Erklärung haben, wächst nicht nur ihre Angst, sondern auch ihr Bedürfnis, in das „Land der Vergangenheit“ und die Geschichte ihrer von zahlreichen Krankheiten und Gewalterfahrungen heimgesuchten Familie zurückzureisen. Am Anfang habe ich ein wenig gebraucht, um in den unkonventionellen Erzählstil (kurze Vignetten, keine zeitliche Linearität, keine Namen, etc.) hineinzufinden, aber bald hat diese Geschichte über Körper und Krankheiten, Verlust und Vertreibung, über komplexe politische, Familien- und Kommunikationssysteme und die Traumata, die in ihnen vererbt werden, dann doch einen Sog entwickelt, dem ich mich gar nicht mehr entziehen konnte.
Um Krankheiten, Pflegearbeit und komplizierte Famlienbeziehungen geht es auch in Rosa Schleim (Ü: Petra Strien) von Fernanda Trías, einer uruguayischen Autorin, die mit diesem Buch eine sehr poetische, melancholische Klimadystopie geschrieben hat. Eine unbenannte Hafenstadt wird von "roten Winden" heimgesucht, die eine geheimnisvolle Pandemie mit sich bringen — bald werden Lockdowns verhängt, die Menschen verlassen nur noch mit Mudnschutz das Haus, in den Krankenhäusern herrscht der Ausnahmezustand, Lebensmittel werden knapp, die Reichen flüchten sich raus aufs Land. Das kommt uns nach drei Jahren Corona ziemlich bekannt vor, tatsächlich ist der Roman allerdings bereits 2019 entstanden und ist somit ein coronaunabhängiger, spookily vorausschauender Pandemieroman, der dann von der Wirklichkeit plötzlich eingeholt wurde. Die Protagonistin des Romans ist eine von den Leuten, die weiterhin in der Hafenstadt ausharrt und ihre Zeit zwischen den Ausgangssperren auf drei verschiedene Menschen aufteilt, um die sie sich kümmern muss: erstens ihre Mutter, die in ihrem Häuschen am Stadtrand wohnen bleibt und der die Heldin trotz eines schwierigen Verhältnisses zueinander regelmäßig Nahrungsmittel vorbeibringt. Zweitens ihr Exmann, der sich frühzeitig mit der geheimnisvollen neuen Krankheit infiziert hat und den sie regelmäßig im Krankenhaus besucht, wo er als medizinischer Sonderfall (sein Zustand verschlechtert sich nicht, wird aber auch nicht besser, sondern bleibt immer in der Schwebe) unter dauerhafter Beobachtung steht. Und dann ist da noch Mauro, der kleine Sohn eines reichen Ehepaares, der unter einer seltenen und schwerwiegenden Erkrankung leidet: er verspürt keinerlei Sättigungsgefühl, befindet sich in einem ständigen Hungerzustand, und muss daher rund um die Uhr beaufsichtigt und vor sich selbst beschützt werden, weil er sonst vor lauter hungriger Verzweiflung Müll, Dreck und andere unappetitliche bis gefährliche Dinge in sich hineinstopfen würde. Die Eltern des Jungen, die sich wie so viele ihrer Schicht ins Landesinnere zurückgezogen haben, haben die Betreuung ihres Kindes auf die Erzählerin des Romans ausgelagert, die sie fürstlich dafür entlohnen und regelmäßig mit wertvollen Lebensmitteln versorgen, die in der Stadt nirgends mehr zu bekommen sind. Das Buch stellt wichtige Fragen über (un)bezahlte Care-Arbeit und die Freiwilligkeit von zwischenmenschlichen Beziehungen, hat mich aber vor allem auch sprachlich (in der sehr stimmigen Übersetzung von Petra Strien) sehr abgeholt, so dass ich mir gleich als nächstes auch Fernanda Trías bisher nur ins Englische übersetzten Debütroman The Rooftop (Ü: Annie McDermott) beschafft habe. Dieser erzählt eine ähnlich klaustrophobische aber ungleich verstörendere Geschichte von einer jungen, immer mehr dem Verfolgungswahn verfallende Frau, die ihren alternden Vater und ihre kleine (womöglich gemeinsame, denn Inzest wird hier stark impliziert) Tochter in ihrer kleinen, dunklen Wohnung gefangen hält. Er hat mich, um ehrlich zu sein, eher ratlos zurückgelassen und mir weitaus weniger gefallen als Rosa Schleim. Ich finde, die Autorin hat zwischen den beiden Büchern eine ziemliche Entwicklung durchgemacht, und bin deshalb trotzdem sehr gespannt, was uns aus ihrer Feder sonst noch so erwartet.
Vom hungrigen Mauro komment wir zu Hungry Paul, bei dem im zugehörigen Roman jedoch nie erklärt wird, wieso er so genannt wird und dessen Spitzname im deutschen Titel des Buches dann auch einfach unter den Tisch fällt. Die Rede ist von Rónán Hessions Debütroman Leonard und Hungry Paul, der 2019 in dem kleinen englischen Independent-Verlag Bluemoose Books erschienen ist und schnell zu einem ziemlichen Überraschungserfolg und Buchhänler*innenliebling wurde. Der Roman hat auch die beiden deutschen Buchbranchenprofis Torsten Woywod und Frauke Meurer so begeistert, dass sie extra einen eigenen Verlag gegründet haben, um eine deutsche Übersetzung des Romans (unter dem Titel Leonard und Paul, Ü: Andrea O’Brien) auf den Weg zu bringen. Und ich kann das ziemlich gut verstehen, denn es ist wirklich ein tolles, unglaublich warmherziges Buch. Als Buchhändlerin habe ich ja oft das Problem, dass meine Kund*innen irgendetwas Fröhliches, Aufbauendes, aber nicht zu Seichtes empfohlen haben wollen, und dann stehe ich oft erstmal etwas überfordert da, weil so viele meiner Lieblingsbücher oder auch allgemein der belletristischen Neuerscheinungen mit "literarischem Anspruch" eher ernst und düster sind (im Genrebereich und der Unterhaltungsliteratur sieht das natürlich ganz anders aus, aber unser Laden hat nunmal einen sehr literarischen Fokus). Die Geschichte der beiden liebenswerten, sanftmütigen, unscheinbaren, von den (oft sehr normativen) Ansprüchen des modernen Arbeits- und Soziallebens oft überforderten Freunde, von denen der eine als Ghostwriter für Kidnerenzyklopädien und der andere als Aushilfsbriefträger arbeitet, füllt für mich genau diese Lücke. Die beiden Helden, die im Laufe des Romans ihren Lebensradius vorsichtig erweitern und sich selbst dabei trotzdem treu bleiben, sind mir auf ähnliche Weise ans Herz gewachsen wie zuvor schon Andrew Sean Greers Mister Weniger (original Less, Ü: Tobias Schnettler) — davon erscheint übrigens bald eine Fortsetzung (Happy End, Ü: Charlotte Milsch, ET: 24.05.2023).
Diese liebenswürdige Ahnungslosigkeit und Überforderung teilen Leonard und Paul nicht nur mit Arthur Weniger, sondern in gewisser Hinsicht auch mit den Hauptfiguren in den Romanen von Till Raether. In Treue Seelen, das ich vor zwei Jahren mit sehr viel Freude gelesen habe, war das z.B. der liebe, aber auch leicht trottelige Achim, der in den 80er Jahren zusammen mit seiner Partnerin von der westdeutschen Provinz nach West-Berlin zieht, nur um dort dann in der zehlendorfschen Enge und Spießigkeit eine Affäre mit seiner in ihrer Jugend aus der DDR geflohenen Nachbarin zu beginnen. Auch Otto Bretz, eine der Hauptfiguren aus Tills frisch erschienenem neuen Roman Die Architektin, hat für mich irgendwie einen ähnlichen Vibe wie Leonard, Paul, Arthur Weniger und co., auch wenn die Geschichte des jungen Zeitungspraktikanten beim Spandauer Volksblatt, der ganz unbedarft von einem vermeintlichen Spuk auf einer Berliner Großbaustelle berichtet und damit versehentlich mitten in ein Wespennest voller politischer Intrigen sticht, ansonsten wenig mit der Low-Stakes-Geschichte über zwei brettspielende introvertierte Freunde von Rónán Hession gemeinsam hat.
Die zweite Hauptfigur in dem Roman ist nämlich die titelgebende Architektin, eine skrupellose Baulöwin, die in den frühen 70er Jahre die Männer der Westberliner High-Society und Politik um den Finger wickelt, um ihre Bauvorhaben durchzuboxen, und dafür sind ihr alle Mittel recht…
Till hat so einen unangestrengt wirkenden (bestimmt aber gar nicht so einfach hinzukriegenden), witzig-warmherzigen Schreibstil, der mich unabhängig vom Thema bisher bei jedem seiner Bücher total abgeholt hat und auch hier wieder dafür gesorgt hat, dass ich die 400 Seiten des Romans innerhalb von zwei Tagen verschlungen habe, obwohl mich Architektur als Thema eigentlich überhaupt nicht interessiert und ich bei einem anderen Namen auf dem Buchcover vielleicht eher nicht danach gegriffen hätte (obwohl das Cover wirklich unglaublich ästhetisch ansprechend ist!). Wie schon in Treue Seelen ist es ihm auch diesmal wieder gelungen, die West-Berliner Atmosphäre der 70er (vorher: 80er) auf eine Weise einzufangen, die sich zumindest für mich als erst 2016 Zugezogene (und in Prenzlauer Berg Lebende) ziemlich glaubhaft anfühlt. Außerdm strotzt der Roman nur so vor versteckten literarischen Anspielungen, einige davon auf Bücher, die ich selbst Till irgendwann mal empfohlen habe. Und weil er es in dem Zusammenhang schon mehrmals erwähnt hat, habe ich jetzt einen neuerlichen Motivationsschub erhalten, endlich auch mal Brigitte Reimanns Roman Franziska Linkerhand zu lesen. Zum Glück sind im Aufbau Verlag gerade diese unglaublich hübschen Reimann-Neuausgaben erschienen, die natürlich schon hier bereitliegen:
Am allermeisten freut mich aber, dass Till für mich höchstpersönlich ein ziemlich großartiges Easter Egg in den Roman eingebaut hat. Ich werde es hier nicht verraten, aber alle, die mich ein bisschen kennen und meine literarischen Obsessionen der letzten Jahre hier und auf Twitter ein wenig mitverfolgt haben, werden es sofort erkennen. Allein deshalb solltet ihr Tills Roman unbedingt lesen — und um herauszufinden, warum ich dafür gerne den Hashtag #Fischsülzesexbuch etablieren würde! Die Berliner Buchpremiere zu Die Architektin, moderiert von Alena Schröder, findet übrigens nächsten Dienstag, den 18.4. im Pfefferberg Theater statt.
Auch wenn meine Lektüren davon schon länger zurückliegen, möchte ich euch noch darauf hinweisen, dass zwei Bücher, von denen ich in der Vergangenheit in diesem Newsletter schon berichtet habe, jetzt endlich in deutscher Übersetzung erhältlich sind.
In meiner Newsletterausgabe über "Literarische Archäologie" habe ich vor fast zwei Jahren sehr von A Ghost in the Throat von Doireann Ní Ghríofa geschwärmt und freue mich jetzt sehr, dass es gerade im btb Verlag als Ein Geist in der Kehle in der Übersetzung von Cornelius Reiber und Jens Friebe auf Deutsch erschienen ist und, soweit ich das beobachten konnte, breits sehr viele Leser*innen tief beeindruckt hat.
Und vielleicht erinnert ihr euch noch, wie ich Anfang 2022 total von einem wiederentdeckten Roman aus den 30er Jahren geschwärmt und deutsche Verlage dazu aufgefordert habe, diesen unbedingt genauer anzuschauen?
Ohne dass ich es wusste, war der tolle Hamburger mareverlag zu diesem Zeitpunkt ebreits dran an der Sache, sie haben sich dann sehr schnell bei mir gemeldet, und jetzt ist die deutsche Übersetzung von Gentleman über Bord von Klaus Bonn in einer wunderschönen und hochwertigen Ausstattung erschienen, und ich durfte dafür sogar einen Blurb liefern!
"Dieser Roman schafft es, in einer nahezu perfekten Mischung aus Tragik und Komik die großen Widersprüche der menschlichen Existenz einzufangen, und hat uns heute noch genauso viel zu sagen wie vor über achtzig Jahren. Seine Wiederentdeckung ist ein großes Geschenk!" steht da jetzt hinten auf dem Schmuckschuber drauf, mit meinem Namen dahinter. Wie krass!
Bevor ich diese Newsletterausgabe beende und mich von euch verabschiede, möchte ich noch ein paar Worte über meine aktuelle Lektüre verlieren. Ich lese gerade zum ersten Mal seit ca. 17 oder 18 Jahren (ganz genau kann ich es leider nicht rekonstruieren, aber es muss vor dem Sommer 2006 gewesen sein, damals habe ich nämlich angefangen, jede einzelne meiner Lektüren genau zu dokumentieren) Emily Brontës Roman Wuthering Heights (dt. Sturmhöhe, zahlreiche unterschiedliche Übersetzungen) und es ist wirklich eine völlig neue, andere Experience als damals als Teenager. Ich hatte zwar bereits mit ca. 13 oder 14 Jahren begonnen, englische Romanklassiker des 19. Jahrhunderts wie die Bücher von Jane Austen, Charles Dickens oder auch Jane Eyre von Emily Brontës Schwester Charlotte zu lesen, aber dass ich damals mit vermutlich etwa 16 Jahren auch zu einer kleinen Manesse-Ausgabe (Ü: Siegfried Lang) der Sturmhöhe griff, hatte, wenn ich mich recht erinnere, einen ganz spezifischen Grund:
In der Twilight-Buchreihe von Stephenie Meyer wurde der Roman als eines von Protagonistin Bellas Lieblingsbüchern erwähnt. Und weil Bella und ich literarisch auch schon bezüglich ihres anderen Lieblingsbuches Stolz und Vorurteil auf einer Wellenlänge lagen, war es damals absolut logisch für mich, ihr auch Sturmhöhe hinterherzulesen. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, was mir beim Lesen damals durch den Kopf ging, sicher ist aber jedenfalls, dass es mich nicht ansatzweise so vom Hocker gehauen hat wie die Romane von Jane Austen, die ich alle seit meiner Teenagerzeit noch 3 oder 4 oder 5 Mal wiedergelesen habe. Auf alle Fälle fand ich den Roman nicht ansatzweise so romantisch, wie Bella Swan ihn mir verkauft hatte. Insgesamt fand ich ihn glaube ich damals einfach irgendwie langweilig und kompliziert, mit seinen vielen verschiedenen Erzählfiguren und Geschichten in der Geschichte, und diesen verdammten Landschaftsbeschreibungen! Mit denen ich als Teenager wirklich so absolut gar nichts anfangen konnte. Die ganze Symbolik, die vor allem auch in diesen Natur- und Wetterpassagen steckte, ist an der vergleichsweise ungeübten Leserin, die ich damals war, einfach komplett vorbeigegangen. Jetzt lese ich das Buch also gerade nochmal, mit viel geschulterem Blick, was literaturgeschichtliche Traditionslinien und literaturwissenschaftliche Interpretationsansätze angeht (in der Zwischenzeit habe ich bspw. schon zwei Mal Sandra M. Gilberts und Susan Gubars Standardwerk der feministischen Literaturwissenschaft The Madwoman in the Attic gelesen), und was soll ich sagen: diesmal macht es mir so richtig krass viel Spaß! Ich amüsiere mich köstlich über die Lauchigkeit des ersten Erzählers Lockwood, staune über die Offensichtlichkeit der Tatsache, dass Heathcliff vermutlich Schwarz (oder zumindest anderweitig rassifiziert) ist — was mir damals beim ersten Lesen komplett entgangen war — und erfreue mich an der Verschachtelung und Nonlinearität der Erzählung. Ich bin emotional wieder so tief drin im Brontë-Kosmos, dass ich mir als nächstes auch die Hauptwerke von Emilys Schwestern, Charlottes Jane Eyre und Annes The Tenant von Wildfell Hall, zum ersten mal seit meiner Teenagerzeit wieder vornehmen möchte. Außerdem liegt hier schon seit Jahren eine Ausgabe von Lucasta Millers Sachbuch The Brontë Myth herum, und eine 800-seitige Adaption, die lose die Handlung von Wuthering Heights ins Japan der Nachkriegszeit versetzt (Minae Mizumuras A True Novel, Ü: Juliet Winters Carpenter), und dann gibt es da noch Maryse Condés in Cuba und Guadelupe spielende postkoloniale Bearbeitung des Stoffes in ihrem Roman Windward Heights (orig. La migration des coeurs, Ü: Richard Philcox; dt. Sturminsel, Ü: Klaus Laabs), und … ihr kennt mich, da braut sich eindeutig ein neues Leseprojekt am Horizont zusammen!
Dass ich jetzt nochmal für eine Relektüre nach dem Buch gegriffen habe, hatte dabei eigentlich einen ganz einfachen, harmlosen aber erfreulichen Grund: im Rahmen der Leipziger Buchmesse wurde ich vom Online-Magazin TraLaLit eingeladen, an einem Podiumsgespräch zum Thema Übersetzungskritik teilzunehmen. Zusammen mit der Moderatorin Lisa Mensing, der Literaturübersetzerin Julia Rosche und der Literaturvermittlerin Karla Paul werde ich am 27.4. um 15 Uhr (Halle: 4, Stand: C407) neben allgemeinen Fragen zur Beurteilung von Übersetzungen auch anhand konkreter Beispiele die Frage diskutieren, welche der zahlreichen verschiedenen Übersetzungen von Sturmhöhe heutzutage am ehesten zu empfehlen ist.
Ich würde mich freuen, den einen oder die andere von euch bei dieser Gelegenheit auf der Buchmesse zu sehen, aber vorher und davon unabhängig würde mich auch total interessieren, welche Bücher ihr zuerst als Teenager und dann im Erwachsenenalter noch ein zweites Mal mit völlig neuen Augen gelese hat und was genau sich bei eurer Relektüre verändert hat. Ich freue mich auf Berichte in den Kommentaren oder Antworten per Mail!
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich voraussichtlich an einem Donnerstag im Mai verschicken, außer es kommt mir was dazwischen. Bis dahin findet ihr mich mit buchnahem Content auf Twitter (solange es noch funktioniert).
Sollte diese Ausgabe nicht in eurem Postfach auftauchen, dann checkt euren Spam-Ordner und fügt ggf. diese Mailadresse eurem Adressbuch hinzu. Grundsätzlich könnt ihr alle alten Ausgaben des Newsletters auch jederzeit im Archiv auf der Substack-Seite nachlesen.
Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda
Gentleman über Bord wurde gerade von Campino im SRF Literaturclub vorgestellt!
Ich habe als Teenagerin alles von Jane Austen verschlungen (war glaube ich auch Bella und Rory Gilmore-geschädigt?:) ) und es geliebt! Heute komme ich nicht mehr über die ersten paar Seiten ihrer Bücher - da hat sich wohl etwas getan, vielleicht auch an meiner Aufmerksamkeitsspanne :D Danke für den Newsletter!