Ein sehr umfangreicher und subjektiver literarischer Jahresrückblick, Teil 2
Wiederentdecktes auf Englisch, Essays, Memoirs, Kurzgeschichten und mehr
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Ihr Lieben,
ich hoffe, ich habe euch mit dem gestrigen ersten Teil meines persönlichen literarischen Jahrsrückblicks nicht zu sehr überfordert und ihr habt noch genug Energie für die versprochene zweite Runde, die leider leider nochmal genauso umfangreich geworden ist und deshalb heute auch ausnahmsweise zum Mittagessen statt zum Frühstück erscheint. Wem das immer noch nicht genug ist, der*die kann sich auch noch den spontanen, plauderigen Jahresrückblick (nicht nur literarischer Art) angucken, den meine liebe Kollegin und Frundin Alex und ich gestern Abend auf ihrem Instagram-Kanal veranstaltet haben. Vielleicht machen wir das mit diesem "Phytomagdarine"-Talk in Zukunft öfter, mal gucken.
Aber genug Vorgeplänkel, ich habe schließlich viel mit euch vor heute!
(Bücher, auf die ich in früheren Ausgaben dieses Newletters schon einmal näher eingegangen bin, habe ich auch diesmal wieder mit einem Stern* markiert.)
Wiederentdecktes (Englisch)
Ich habe es ja gestern schon erwähnt, dass meine Lektüre 2021 sehr backlistlastig war. Meine deutschsprachigen "Wiederentdeckungen" habe ich euch gestern schon vorgestellt, jetzt folgen die englischsprachigen bzw. ins Englische übersetzten Bücher aus dem 20. Jahrhundert, die mich dieses Jahr begeistert haben. Es waren sehr viele! Über mehr als die Hälfte davon hatte ich in früheren Ausgaben dieses Newsletters bereits ausführlich berichtet und fasse mich deshalb hier möglichst kurz:
*Josephine Tey, The Daughter of Time und *The Franchise Affair: Wenn ich Krimis lese, dann fast nur aus dem "Golden Age of Detective Fiction" und selbst da kannte ich bisher eigentlich nur viele Krimis von Agatha Christie und einige wenige von Dorothy L. Sayers. Dieses jahr habe ich nun zusätzlich noch Josphine Tey für mich entdeckt, von der ich ihre zwei bekanntesten Bücher dieses jahr verschlungen habe — zwei weitere habe ich mir schon besorgt.
*Christianna Brand, London Particular (auch: Fog of Doubt): Christianna Brands Name sagte mir überhaupt nichts, dieser Krimi von ihr aus dem Jahr 1952 war mal wieder ein totaler Zufallsfund im örtlichen englischen Antiquariat. Das Buch enthält aus heutiger (feministischer) Perspektive einige sehr fragwürdige Aspekte, aber ich fand es trotzdem ungemein spannend und bin jetzt in Sachen Brand ziemlich angefixt. Mehrere von Christianna Brands Krimis sind übrigens (auf Englisch) in den letzten Monaten neu aufgelegt worden und ich habe mir gestern mindestens einen davon bestellt.
*Ursule Molinaro, The Autobiography of Cassandra: Feministische oder anders subversive Neubearbeitungen mythologischer Stoffe ziehen mich ja magisch an, und auch wenn Ursule Molinaros Trojaroman logischerweise nicht an mein absolutes Lieblingsbuch, Christa Wolfs Kassandra, heranreicht, hat er mir trotzdem sehr sehr gut gefallen.
*G. E. Trevelyan, Appius and Virginia: Über diesen auf Englisch kürzlich neu herausgegebenen Roman einer völlig vergessenen Schriftstellerin denke ich seit Monaten nach. Es geht darin vordergründig um eine Frau, die im Rahmen eines verblendeten wissenschaftlichen Experiments einen kleinen Affen wie ein Menschenkind aufziehen will, aber eigentlich geht es um Mutterrollen und Selbstverwirklichung, um Einsamkeit und um das Problem der gesellschaftlich "überflüssigen" alleinstehenden älteren Frau.
*Theresa Hak Kyung Cha, Dictee: Ich habe schon einmal darüber geschrieben, dass ich dieses Buch nicht ansatzweise durchdrungen habe und sicher noch mehrere Male werde lesen müssen, um seine Komplexität wirklich zu verstehen. Klingt vielleicht abschreckend, tatsächlich ist es für mich aber in diesem Fall eher ein Ansporn, denn auch wenn meine spontane, private, völlig unvorbereitete erste Lektüre notwendigerweise sehr oberflächlich war, fand ich es trotzdem unglaublich faszinierend und mein Bauchgefühl sagt mir, dass es sich hierbei um ein großartiges Werk handelt, auch wenn das auf den ersten Blick nicht so offensichtlich ist. Inzwischen habe ich bereits mehrere Sekundärtexte über Theresa Hak Kyung Cha gelesen, 2022 werde ih ich also nochmal an Dictee wagen.
*Elizabeth Jolley, The Well: Ich liebe Gothic Novels und dieser dem Australian Gothic-Genre zuzuordnende Roman über eine alte Frau, die zusammen mit einem jungen Waisenmädchen, das sie bei sich aufgenommen hat, auf einem Hof in der australischen Pampa wohnt, hat mich sofort in seinen Bann gezogen. Der Grusel in diesem Buch ist sehr subtil, eigentlich geht es um Einsamkeit und Queerness und unerforschte Gefühle und Sexualitäten, aber auch um eine rätselhafte Stimme, die aus einem alten Brunnenschacht tönt und die häusliche Harmonie der beiden Protagonistinnen ins wanken bringt.
*Jane Oliver & Ann Stafford, Business As Usual: Ein unglaublich witziger wiederentdeckter Briefroman über eine junge Frau, die in einem Londoner Kaufhaus zu arbeiten beginnt und dank ihrer gewitzten Art sowohl karrieretechnisch als auch romantisch ihre Erfüllung findet.
*Rumer Godden, The Greengage Summer: Ein herrlich düsterer Roman über die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens in der französischen Sommerhitze, der mich davon überzeugt hat, dass ich dringend noch mehr von Rumer Godden lesen muss.
*Elizabeth Taylor, Mrs Palfrey at the Claremont: Das erste von mehreren Büchern über Frauen in Senior*innenheimen, das ich dieses Jahr gelesen habe, und auch hier ist glasklar, dass ich zukünftig noch mehr von Elizabeth Taylor (nicht verwandt mit der Kleopatra-Darstellerin) lesen muss.
*May Sarton, As We Are Now: Auh May Sartons Roman spielt in einem Senior*innenheim, ist aber viel düsterer und zynischer als Taylors Geschichte. Großartig fand ich ihn trotzdem, er wird natürlich nicht der einzige Sarton-Roman in meinem Regal bleiben!
*Leonora Carrington, The Hearing Trumpet: Ich kannte schon seit längerem einige von Leonora Carringtons skurrilen Kurzgeschichten sowie ihren autobiografischen Bericht über ihre Zeit in einer psychiatrischen Klinik, aber an ihren Roman hatte ich mich bisher nicht herangetraut. Aber weil auch dieser in einem Senior*innenheim spielt, bot es sich diesen Jahr dann endlich an. Es war eine gute Entscheidung, denn so einen herrlich skurrilen Roman habe ich schon lange nicht mehr gelesen.
*Rachel Ferguson, The Brontës Went to Woolworths: Diesem unglaublich lustigen Roman über drei exzentrische Schwestern aus London und deren ungewöhnliches Hobby habe ich ja eine ganze Sonderausgabe meines Newsletters gewidmet, deshalb beschränke ich mich hier nun auf die Bemerkung, dass er mich bei meienr zweiten Lektüre noch viel mehr utnerhalten hat als vor ein paar jahren beim ersten Mal Lesen.
*Ana María Matute, The Island (Ü: Laura Lonsdale): Noch ein sommerhitziger Coming-of-Age-Roman, diesmal aus dem Spanischen übersetzt, der nun zusammen mit Rumer Goddens Greengage Summer und einem meiner Lieblingsbücher seit Jugendtagen, Françoise Sagans Bonjour Tristesse, meine persönliche Holy Trinity in diesem Genre bildet.
*Anita Brookner, The Misalliance: Anita Brookner ist eine meiner wichtigsten literarischen Entdeckungen der letzten zwei Jahre und bisher habe ich noch keinen Roman von ihr gelesen, der mich nicht begeistert hätte. Zum Glück habe ich noch etwa 20 ihrer Romane vor mir.
Neben diesen im Newsletter ausführlicherer besprochenen Büchern habe ich auch noch einige tolle Romane gelesen, die bisher in diesem Newsletter noch keinen Plaz gefunden hatten, auch wenn sie zu meinen absoluten Lesehighlights zählen:
Alix Kates Shulman, Memoirs of an Ex-Prom Queen: Dieser Roman avancierte nach seinem ursprünglichen Erscheinen schnell zum Kultbuch und gilt manchen als "the first important novel to emerge from the Women's Liberation Movement". Trotzdem geriet er in den letzten Jahrzehnten zunehmend in Vergessenheit, bevor er vor einigen Jahren erst auf Englisch und dieses Jahr schließlich in deutscher Übersetzung neu aufgelegt wurde. Viele Aspekte dieser Coming-of-Age-Geschichte einer ambitionierten weißen amerikanischen Mittelschichtsfrau, die sich in ihrem Leben immer wieder gegen den Druck und die größeren und kleineren Diskriminierungserfahrungen innerhalb einer patriarchalen Gesellschaft behaupten muss, lesen sich leider auch 2021 noch erschreckend aktuell.
Dodie Smith, I Capture the Castle: Ich habe dieses Buch als Teenager schon einmal gelesen, damals hatte ich es aus der Schulbibliothek ausgeliehen und fand es so toll, dass ich es mir direkt im Anschluss dann doch noch selbst gekauft habe, weil ich es unbedingt besitzen wollte. Das ist gut 15 Jahre her und in der Zwischenzeit habe ich zwar immer wieder an den Roman von Dodie Smith, die übrigens ihrerzeit auch die Romanvorlage für 101 Dalmatiner geschrieben hat, gedacht, ihn aber nie mehr aus dem Regal geholt. Weil der Schweizer Kampa Verlag diesen Sommer eine Neuauflage der deutschen Übersetzung herausgebracht hat, habe ich dann aber doch endlich die Gelegenheit ergriffen und ihn noch einmal gelesen, und ich fand diese Geschichte über zwei Schwestern, die zusammen mit ihrer verarmten, exzentrischen Familie (der Vater ist der Autor eines Kultromans, der inzwischen seit Jahrzehnten an einer Schreibblockade leidet, die Stiefmutter ist ein ehemaliges Aktmodell, die gerne nachts im Garten nackt den Mond anbetet) in einem verfallenen englischen Schloss zur Miete wohnen, auch aus erwachsener Perspektive immer noch unglaublich charmant und witzig.
Laurie Colwin, Family Happiness: Laurie Colwin ist eine der Lieblingsautorinnen meines Twitterfreunds Dorian, der mir diesen Roman von ihr aus den 70ern (über eine eigentlich glückliche Ehefrau und Mutter, der trotzdem irgendetwas in ihrem von ihrer einflussreichen, konservativen Großfamilie bestimmten Leben fehlt und die daraufhin eine Affäre mit einem einzelgängerischen Künstler beginnt) schon letztes Jahr geschenkt hat, ich kam aber erst diesen Sommer dazu, ihn zu lesen. Und war sofort hin und weg, und die Konsequenz daraus (dass ich mir nämlich alle weiteren ihrer lieferbaren Titel jetzt auch noch als eBook gekauft habe) konntet ihr euch wahrscheinlich schon denken.
Maria Judite de Carvalho, Empty Wardrobes (Ü: Margaret Jull Costa): Diese aus dem Portugiesischen übersetzte Novelle aus den 60er Jahren ist gerade erstmals in englsicher Übersetzung erschienen, darauf aufmerksam wurde ich, weil meine geliebte Kate Zambreno (siehe weiter unten) das Vorwort dazu geschrieben hat. Ein beeindruckendes Buch über die versteckten Grausamkeiten in der Ehe, über das altern und darüber, wie Männer Frauen und Frauen sich gegenseitig immer wieder verraten.
Merle Hodge, Crick Crack Monkey: Von diesem Buch hatte ich noch nie gehört, es scheint auch schon lange vergriffen zu sein, ich habe es letztes Jahr zufällig im selben Antiquariat entdeckt, in dem ich auch Ursule Molinaros Kassandraroman gefunden habe. Merle Hodge gilt als "the first black Caribbean woman to have published a major work of fiction", und zwar diese Coming-of-Age-Geschiche über ein junges Mädchen, das im Spannungsfeld zwischen der ländlichen trinidadischen Existenz bei ihrer Tantie und dem urbanen, anglisierten Umfeld ihrer anderen Tante Beatrice aufwächst.
Ama Ata Aidoo, Our Sister Killjoy: Dieser eher experimentelle Roman einer der bekanntesten Ghanaischen Autorinnen des 20. Jahrhunderts handelt von einer jungen Frau aus Ghana, die dank eines Stipendiums nach Europa reisen darf, um sich "weiterzubilden" und u.a. einige Zeit in Europa verbringt. Er behandelt Themen wie Kolonialismus, die Schwarze Diaspora und die "colonization of the mind" und wirft v.a. einen kritischen Blick auf die Verherrlichung Europas durch manche Afrikaner*innen.
Gwendolyn Brooks, Maud Martha: Gwendolyn Brooks ist vor allem als Dichterin in den USA sehr bekannt, dies ist ihr einziger Roman, der in den 50er Jahren entstanden ist. Er schildert in vielen kurzen Vignetten das Erwachsenwerden der Titelfigur Maud in den Schwarzen Stadtteilen Chicagos.
Marie Redonnet, Hôtel Splendid, Forever Valley und Rose Mellie Rose (Ü: Jordan Stump): Diese drei sehr kurzen Romane (je nur etwa 100 Seiten) der französischen Schriftstellerin Marie Redonnet fasse ich hier in einem Punkt zusammen, denn sie bilden, obwohl sie erstmal unabhängig von einander (aber innerhalb von nur zwei Jahren) verfasst wurden, laut der Autorin ein unbeabsichtigtes literarisches Triptychon über drei unterschiedliche sehr resiliente Frauen, die allen Widerständen zum Trotz bis zum ausausweichlichen Schluss die Hoffnung nicht aufgeben. Im ersten geht es um eine alte Frau, die quasi auf sich allein gestellt versucht, den Betrieb in einem verfallenen Hotel in der Nähe eines Sumpfes aufrecht zu erhalten. Im zweiten hat ein junges, von einem pensionierten Pfarrer aufgezogenes Waisenmädchen sich in den Kopf gesetzt, den alten Friedhof auszugraben, den es im Garten des Pfarrhauses vermutet, und im dritten geht es um ein junges Mädchen, das nach seiner Geburt in einer Grotte in den Bergen ausgesetzt wurde und dort in einem Souvenirshop aufwächst, bevor sie sich nach dem Tod ihrer Ziehmutter alleine durchschlagen muss. Drei sehr skurrile, mitunter fiebertraumartig anmutende Romane, die mich gleichermaßen verwirrt und fasziniert haben.
Essayistisches
Ich habe ja schn mehrmals betont, wie sehr ich Essaysammlungen schätze und dass ich mir davon dringend noch mehr auf dem deutschsprachigen Markt wünsche. Und weil der Markt auf mich hört, sind dieses Jahr gleich drei ganz großartige deutschsprachige Essaybände erschienen, die zu meinen liebsten Lektüren des Jahres zählen:
Asal Dardan, Betrachtungen einer Barbarin: Schon seit Asal vor gut 2,5 Jahren (?) auf Twitter berichtet hat, dass sie einen Buchvertrag für eine Essaysammlung abgeschlossen hat, habe ich dieses Buch gespannt erwartet und wurde alles andere als enttäuscht, als es dann dieses Frühjahr endlich erschienen ist. In diesen unglaublich guten, berührenden, klugen Texten steckt so viel drin über Familie, Herkunft, Heimat, Mutterschaft, Widerstand, Schweden, Abtreibung und noch viel mehr.
Uljana Wolf, Etymologischer Gossip: Uljana Wolf ist Lyrikerin und Übersetzerin, ich selbst kannte noch keines ihrer Gedichte, als ich diese Sammlung ihrer Essays und Reden bei uns im Laden aus einer Kiste auspackte und mich sofort ein bisschen darin festlas. In den Texten geht es um Sprache und Lyrik, um translinguales Dichten und Übersetzen, um eine intensive Auseinandersetzung mit dem Werk anderer Schriftstellerinnen wie Ilse Aichinger oder Theresa Hak Kyung Cha und ihr Buch Dictee, das ich ja weiter oben schon als eine meiner faszinierendsten Lektüren dieses Jahres aufgezählt habe. Sie haben mir große Lust gemacht, mich sowohl mit Wolfs eigener Lyrik (und ihren Übersetzungen) als auch mit den von ihr erwähnten anderen Autor*innen und deren Werk ausführlicher zu befassen.
Hanna Engelmeier, Trost: Hanna fand ich schon lange sympathisch und klug und witzig auf Twitter, deswegen war von vornherein völlig klar, dass ich ihr Buch vermutlich ebenso großartig finden würde. Es hat sich auch bewahrheitet und dank dieser vier dem Trost nachspürenden und dadurch selbst irgendwie tröstlichen Texte habe ich sogar fast Lust bekommen, auch irgendwann mal irgendwas von DFW zu lesen. Im nächsten Leben dann vielleicht!
*Cathy Park Hong, Minor Feelings: Auch Cathy Park Hong hat übrigens einen sehr tollen Text über Theresa Hak Kyung Cha geschrieben, der in diesem grandiosen Essayband über anti-asiatischen Rassismus, über Familie und Scham und Kunst und Frauenfreundschaften, über Mental Health und Politik, enthalten ist. Genau die richtige Mischung aus Memoir und Kulturwissenschaft, wie ich sie am liebsten lese.
*Elissa Washuta, My Body Is A Book Of Rules: Bei diesem Buch von Elissa Washuta handelt es sich um ein formal innovatives Memoir in Essays über ihren persönlichen Konflikt mit ihrer eigenen indigenen Identität (sie stammt mütterlicherseits vom im heutigen Bundesstaat Washington ansässigen Cowlitz Tribe ab), ihre Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen, das Trauma sexualisierter Gewalt und den schwierigen Übergang von der wilden Collegezeit in ein geregeltes Erwachsenenleben, bei dem mich vor allem das Spiel mit verschiedenen literarischen Formen sehr fasziniert hat: Sie erzählt darin beispielsweise die Geschichte ihrer psychischen Erkrankung und den holprigen, langwierigen Weg bis hin zu einer korrekten Diagnose und Behandlung anhand einer kommentierten Krankenakte, die verschiedenen sexuellen Verwicklungen und Beziehungsdramen ihrer Collegezeit versteckt sie in den Fußnoten zu einer empirischen Hausarbeit, die sie im Rahmen des Studiums verfasst hat, und über die sexualisierte Gewalt, die ihr im Laufe ihres Lebens von verschiedenen Männern angetan wurde, spricht sie im Rahmen eines imaginierten Scripts für eine Folge der TV-Serie Law & Order: SVU.
Larissa Pham, Pop Song: Adventures in Art & Intimacy: Larissa Pham verknüpft in ihren sehr persönlichen Essays Gedanken über Liebe, Beziehungen, Trennungen und Abschiede mit klugen Reflexionen über Kunst (sowohl aus Künstlerinnen- as auch aus Betrachterinnenperspektive), die mir große Lust gemacht haben, mich auch selbst mit den erwähnten Künstler*innen und deren Werk genauer auseinanderzusetzen. Außerdem hat der erste enthaltene Essay mir fast Lust aufs Joggen gehen gemacht. Es war sehr knapp!
*Sinéad Gleeson, Constellations: In ihren Essays beschreibt Sinéad Gleeson die Geschichte ihres eigenen Körpers und der Belastungen, denen dieser — sei es durch Krankheiten, Schwangerschaft und Geburt, oder allgemein das Leben als Frau in einer patriarchalen Gesellschaft — ausgesetzt ist. Dabei sind sehr berührende, oft schmerzhafte, traurig und wütend machende Texte entstanden. Ein Buch, bei dem ich mich sehr ärgere, dass die deutsche Übersetzung (Ü: Stephanie Singh, btb) quasi komplett untergegangen ist.
Autobiografisches und Autofiktionales
Auch dieses Jahr habe ich wieder viele beeindruckende und berührende autobiografische oder autofiktionale Texte gelesen:
*Nastassja Martin, An das Wilde glauben (Ü: Claudia Kalscheuer): Ich habe ja irgendwie (literarisch betrachtet) eine ganz spezielle Beziehung zu Bären aufgebaut in der letzten Zeit, da ist es also kein Wunder, dass dieses Buch der französischen Anthropologin Nastassja Martin, die bei einem Forschungsaufenthalt in Kamchatka von einem Bären angefallen und lebensgefährlich verletzt wird, zu meinen Lieblingslektüren des Jahres zählt. Lustigerweise war es auch das allererste Buch, das ich 2021 gelesen habe, und dann gleich eines der beeindruckendsten!
*Till Raether, Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?: 2021 war das Till-Raether-Jahr schlechthin, denn gefühlt ist jeden zweiten Monat ein neues Buch von ihm erschienen. Dieses hier, ein Essay über seine eigenen Erfahrungen mit einer Depressionserkrankung, ist völlig zurecht auf der SPIEGEL-Bestsellerliste gelandet. Auch mir, als Angehöriger von Menschen mit Depression, hat es sehr die Augen geöffnet.
Gabriele von Arnim, Das Leben ist ein vorübergehender Zustand: Dieses Buch von Gabriele von Arnim darüber, wie sie ihren Mann, den sie zu diesem Zeitpunkt eigentlich verlassen wollte, nach seinem Schlaganfall bis zu seinem Tod zehn Jahre lang gepflegt hat, hat mich so beeindruckt, dass ich vor einigen Monaten meine übliche Coolness an der Kassentheke in der Buchhandlung völlig verloren habe, als die Tochter der Autorin (ich habe sie am Namen erkannt) plötzlich vor mir stand, und ihr ganz aufgeregt erzählt habe, wie großartig ich das Buch ihrer Mutter fand. Ich glaube/hoffe, sie hat sich gefreut und fand meinen Ausbruch nur ein kleines bisschen seltsam.
Kate Zambreno, To Write As If Already Dead: Von Kate Zambreno ist noch kein einziges Werk ins Deutsche übersetzt worden, was mich als großen Fan ihres Werks ziemlich empört. Vielleicht liegt es daran, dass eigentlich alle ihrer Bücher schwer zu kategorisieren sind, sie sprengen Genre-Grenzen, behandeln vermeintliche "Nischenthemen" oder mäandern plotlos vor sich hin. Trotzdem hat mich bisher jedes ihrer Bücher, das ich kenne (ein paar habe ich noch vor mir), ungemein fasziniert, vor allem dieses neueste, das eine autofiktionale Erzählung über eine komplizierte Internetfreundschaft mit einer anderen Autorin verknüpft mit einer tagebuchartigen Reflexion über Mutterschaft auf der einen und das Werk des französischen Schriftstellers und Fotografen Hervé Guibert auf der anderen Seite. Ich wusste vor der Lektüre von Zambreno gar nichts über Guibert, nach der Lektüre habe ich mir dann natürlich sofort eines seiner Bücher besorgt, weil mir im Grunde gar nichts anderes übrig blieb.
*Eula Biss, On Immunity und *Alice Hattrick, Ill Feelings: Diese beiden Bücher habe ich direkt hintereinander gelesen, sie sind beide in einem meiner liebsten englischen Indieverlage erschienen (Fitzcarraldo Editions) und sind sich auch sonst sehr ähnlich, weil sie beide in einer Mischung aus persönlichem Memoir und kulturgeschichtlicher Betrachtung über Gesundheit und Krankheit schreiben. Bei Eula Biss geht es um (die Angst vor) Impfungen und bei Alice Hattrick um ME/CFS (auch "chronisches Erschöpfungssyndrom"), beides Themen, die in Pandemiezeiten angesichts einer erschreckend weitverbreiteten Impfgegner*innenschaft und den bisher kaum erforschten Auswirkungen von "Long-Covid"-Erkrankungen relevanter denn je sind.
Kurzgeschichtliches
Es dürfte ja allgmein bekannt sein, dass ich sehr sehr gerne Kurzgeschichten lese, vor allem, wenn sie einen grotesken, gruseligen, weirden, surrealen Touch haben. Dieses Jahr waren neben solchen aber auch einige absolut — beinahe schon schmerzhaft — realistische Texte unter meinen Favoriten.
*Deesha Philyaw, The Secret Lives of Church Ladies: wie ich schonmal in einer frühen Ausgabe dieses Newsletter geschrieben habe, kommt es selten vor, dass wirklich jede einzelne Geschichte in einer Kurzgeschichtensammlung mich voll abholt. Bei diesen neun Erzählungen über unterschiedliche Schwarze Frauen und Mädchen aus vier verschiedenen Generationen, mit unterschiedlichen Wünschen, Begierden und Bedürfnissen, die sie jeweils mit den kirchlichen Doppelstandards und gesellschaftlichen Konventionen in Einklang zu bringen versuchen müssen, war es so!
*Rumena Bužarovska, Mein Mann (Ü: Benjamin Langer): In diesen aus dem Mazedonischen übersetzten Geschichten erzählen verschiedene Frauenfiguren von ihren dysfunktionalen Beziehungen und den erbitterten Kämpfen um Selbstbestimmung und -verwirklichung, die hinter den Fassaden ihrer bürgerlichen Ehen toben, und das trocken, lakonisch, spöttisch und oft unglaublich witzig, aber auf eine Art, dass einer dabei manchmal auch das Lachen im Halse stecken bleibt!
Helga Schubert, Lauter Leben: Diesen alten Band mit Erzählungen von Helga Schubert hat mir dieses Jahr eine Twitterfreundin geschenkt, ich kannte vorher nur Schuberts Bachmannpreis-Text, jetzt bin ich aber Fan! Ich glaube, diese frühen Geschichten von ihr über den oft banalen und gleichzeitig tragischen Alltag von (hauptsächlich) Frauen in der DDR haben mir sogar noch ein bisschen besser gefallen als die autofiktionalen Texte in Vom Aufstehen, das ich ja ebenfalls sehr gut fand und das Schubert nach Jahrzehnten der Vernachlässigung dieses Jahr zurück in die Aufmerksamkeit der literaturinteressierten Öffentlichkeit katapultiert hat.
*María Fernanda Ampuero, Cockfight (Ü: Frances Riddle): Die meisten Geschichten der ecuadorianischen Autorin María Fernanda Ampuero handeln von sexualisierter und sonstiger (patriarchaler) Gewalt gegen Frauen und Mädchen und den damit verbundenen Traumata, sie sind allesamt so brutal, dass ich beim Lesen mehrmals fast an die Grenzen des für mich Aushaltbaren gestoßen bin. Losgelassen haben die Texte mich trotzdem auch nach Monaten noch nicht.
*Sarah Hall, Madame Zero: Diesen Band hatte ich vor einigen Monaten eigentlich nur wegen einer einzigen darin enthaltenen Geschichte hervorgekramt, nämlich einer Adaption von David Garnetts kurzem Roman Lady into Fox, den ich direkt davor gelesen hatte. Wie das meistens so ist, habe ich mich dann aber doch in dem Buch festgelesen und fand die anderen Geschichten darin sogar noch viel besser als die, wegen der ich es eigentlich aufgeschlagen hatte.
*Rachel Ingalls, Mrs Caliban & other stories: Dieses Buch von Rachel Ingalls habe ich eigentlich nur zu lesen angefangen, weil ich so viel von ihrer berühmt-berüchtigten Monstersex-Novelle Mrs Caliban gehört hatte und neugierig auf das avocadoliebende Seeungeheuer Larry war, mit dem die Protagonistin, eine frustrierte, von ihrem Ehemann vernachlässigte Hausfrau, eine Affäre beginnt. Umso überraschter war ich dann darüber, dass die restlichen in dem Band enthaltenen Kurzgeschichten (ich habe eine eBook-Ausgabe gelesen, in Printausgaben von Mrs Caliban fehlen die anderen Geschichten leider meistens) mir noch viel mehr den Boden unter den Füßen weggezogen haben (in a good way!) als Larry und seine sexuellen Künste.
Marie Luise Kaschnitz, Vogel Rock: Aus irgendeinem Grund hatte ich bisher noch nie irgendwas von Kaschnitz gelesen, dieser kleine Band aus der Bibliothek Suhrkamp war neulich ein absoluter Spontankauf, als ich bei einer Medimopsbestellung noch den Mindestbestellwert für den Gratisversand vollbekommen wollte (wer kennt es nicht?). Die im Untertitel versprochenen unheimlichen Geschichten waren genau das, alle zeichnen sich durch ein schleichendes Unbehagen aus, das einen als Leserin am Ende leiccht verstört zurücklässt. Es wird nicht meine letzte Kaschnitz-Lektüre gewesen sein!
Mariana Enriquez, The Dangers of Smoking in Bed (Ü: Megan McDowell): Seit etwa zwei Jahren bin ich fest davon überzeugt, dass Mariana Enriquez eine Autorin genau nach meinem Geschmack ist, ohne irgendetwas von ihr gelesen zu haben. Vor etwas über einer Woche habe ich endlich zu einem Erzählungsband von ihr gegriffen, der kürzlich ins Englische übersetzt wurde, und sah meine Vorahnung sofort bestätigt. Die darin enthaltenen Geschichten sind allesamt makaber, grotesk, zuweilen sehr gruselig, es geht um Okkultes, um Obsessionen, Kannibalismus, Geisterbeschwörungen, spukende Babies und vieles mehr. Nichts für schwache Nerven, aber brillant!
Fragmentarisches
Gegen Ende des Jahres habe ich noch zwei großartige Bücher für mich entdeckt, die beide nicht so leicht zu kategorisieren sind und sich dabei in ihrem fragmentarischen Charakter auch irgendwie ähneln:
Elisa Aseva, Über Stunden: Ich kannte schon eine Handvoll von Elisa Asevas gesammelten Facebookposts AKA Prosaminiaturen, die Anfang letzten Jahres auf 54books erschienen sind und habe seither auf eine Veröffentlichung in Buchform gewartet. Die ist nun endlich erschienen und war erwartbar gut, denn Elisa Aseva schreibt einfach unglaublich gut und witzig und traurig und wütend und politisch und überhaupt.
*Annemarie von Matt, Meine Nacht schläft nicht: Annemarie von Matts Name sagte mir nichts, bis ich vor einigen Wochen bei uns in der Buchhandlung zufällig ein Buch mit einer Auswahl ihrer (zu Lebzeiten nie publizierter) auf losen Zetteln, Umschlägen, Postkarten und in verschiedenen Notizbüchern verfassten literarischen Fragmente in die Finger bekam und mich quasi schockverliebte (in der vorletzten Ausgabe dieses Newsletters habe ich genauer darüber berichtet). Spät im Lesejahr noch ein absolutes Lektürehighlight!
Das waren sie also, meine Lieblingslektüren 2021. Nur eine habe ich unterschlagen, die ich gerade eben erst beende, während ihr diesen Newsletter lest. Sie war eine der besten Leseerfahrungen des Jahres für mich, ist aber noch geheim! Eigentlich darf ich euch erst ab Februar davon berichten, vielleicht drücke ich aber vorher schon für einige von euch ein Auge zu:
Nächste Woche werde ich nämlich, als kleines Dankeschön an die finanziellen Unterstützer*innen dieses Newsletters für ihren Support in diesem Jahr, meinen ersten Exklusiv-Beitrag für zahlende Abonnent*innen verschicken — es wird ein kleiner Ausblick auf die kommenden Verlagsprogramme werden, in dem ich euch ein paar Bücher zeigen möchte, auf die ich mich 2022 besonders freue. Wer diesen Beitrag dann lesen möchte und noch kein*e zahlende*r Unterstützer*in ist, kann hier noch bis inkl. 5. Januar 2022 ein Jahresabo mit 20% Rabatt abschließen:
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Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda