Ein sehr umfangreicher und sehr subjektiver literarischer Jahresrückblick, Teil 1
Aktuelle Romane, Wiederentdecktes auf Deutsch, Sachbücher, Lyrik und eine Graphic Novel
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Ihr Lieben,
was war das bloß für ein Jahr? Vieles war schlimm (und ist es noch immer) und ich fühle mich momentan hauptsächlich erschöpft und ein bisschen traurig — gleichzeitig ist der Jahreswechsel für mich immer mit einer gewissen Zuversicht und hochtrabenden Plänen fürs nächste Jahr verbunden. Die Sache, die mir in diesem blöden zweiten Pandemiejahr it Abstand am meisten Halt gegeben hat, war meine Beschäftigung mit Literatur (ich habe in den letzten 12 Monaten mehr gelesen als jemals zuvor in meinem Leben) und die Tatsache, dass ich diese hier mit euch teilen konnte. Ich danke euch sehr für eure treue Leser*innenschaft und dass ihr mir dieses Jahr auf den verschlungenen Pfaden meiner Lektüren gefolgt seid!
2021 habe ich ganze 22 Ausgaben dieses Newsletters verschickt (dies ist die Nummer 23) und (Stand: 28.12. abends) 209 Bücher zuende gelesen. Über viele davon habe ich hier in unterschiedlichen Zusammenhängen bereits berichtet, manche andere haben dagegen aus verschiedenen Gründen bisher nicht in den Newsletter gepasst. Weil ich Listen aller (aber vor allem literarischer) Art sehr liebe, möchte ich euch zum krönenden Abschluss eines insgesamt zwar anstrengenden, aber zumindest lektüretechnisch für mich ziemlich erfolgreichen Jahres eine Liste mit den — sehr subjektiv betrachtet — besten Büchern, die ich 2021 gelesen habe, präsentieren.
Einer der Aspekte, der mich an meiner Branche mit am meisten stört, ist, wie schnelllebig der Markt funktioniert. Bücher, die ein paar Monate nach ihrem Erscheinen noch keinen ausreichenden Buzz erzeugt haben, gelten quasi als gescheitert und irrelevant und müssen innerhalb der feuilletonistischen und sonstigen Aufmerksamkeitsökonomie bald den glänzenderen, weil frischeren Nachrückern Platz machen. Mir persönlich sind Listen, die Anfang Dezember schon von sich behaupten, die “besten Bücher” des laufenden Jahres zu küren, im Grunde ziemlich suspekt. Ich glaube, die besten 2021 erschienenen Bücher könnte ich frühestens in sagen wir mal fünf Jahren mit einem Minimum an Confidence benennen, in Wahrheit vermutlich eher erst in 10+. Deswegen orientiert sich meine Liste nicht am Erscheinungs- sondern am Lektüredatum, so dass hier Bücher von 2021 Rücken an Rücken mit solchen stehen, die bereits vor 5 oder 10 oder 50 und mehr Jahren (erstmals) erschienen sind, die ich aber erst dieses Jahr gelesen habe.
Es ist deshalb auch keine runde Zahl geworden und die Liste ist auch nicht irgendwie gewichtet, weil ich in Sachen Literatur dieses Wettbewerbsding ("Es kann nur eine*n Gewinner*in geben" etc.) eh ziemlich doof finde — stattdessen habe ich einfach alle Bücher aus diesem Lesejahr, die mich in irgendeiner (positiven) Form nachhaltig beschäftigen, in verschiedene Kategorien sortiert, jeweils grob in der Reihenfolge, in der ich sie gelesen habe. Bücher, über die ich schonmal ausführlicher in diesem Newsletter geschrieben habe, sind mit einem Stern* markiert. Weil es so viele Bücher geworden sind und der Newsletter deshalb den erträglichen Umfang für eine einzelne Ausgabe um ein vielfaches sprengen würde, habe ich mich entschieden, meinen Rückblick in zwei Teile aufzusplitten, die erste Lieferung gibt es heute, die zweite dann morgen.
Aber genug der Vorrede, fangen wir nun also an mit meinen Lieblingsbüchern 2021!
Deutschsprachiges Neuerschienenes
Zeitgenössische deutschsprachige Literatur lese ich eigentlich erst, seit ich selbst im Buchhandel arbeite, bevor ich im Ocelot angefangen habe, war meine Leseliste noch viel viel backlistlastiger als heute. Auch jetzt machen deutschsprachige (also ursprünglich auf Deutsch verfasste und nicht aus anderen Sprachen übersetzte) belletristische Neuerscheinungen nur etwa 1/7 meiner Lektüre aus, und vieles davon würde ich vermutlich nicht (oder zumindest nicht so zeitnah nach dem Erscheinen) lesen, wenn ich nicht immer die Tatsache, dass deutschsprachige Romane die Kategorie sind, bei der meine Kund*innenschaft am häufigsten eine Beratung möchte, im Hinterkopf hätte — oder wenn ich nicht mit so vielen deutschsprachigen Autor*innen auf Twitter verbandelt wäre. Dann wären mir aber in diesem Jahr auch ein paar großartige Romane entgangen, bei denen ich sehr dankbar bin, sie gelesen zu haben, und die ich auch in der Buchhandlung sehr breit empfehle:
Alena Schröder, Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid: Alle, die wie ich aufmerksam den Podcast sexy & bodenständig von und mit Till Raether und Alena Schröder verfolgen, haben Alenas Debütroman schon lange entgegengefiebert. Wegen der Pandemie wurde der Erscheinungstermin dann um mehrere Monate nach hinten verschoben, so dass ich das langersehnte Buch statt 2020 erst im Januar 2021 lesen konnte. Als es endlich da war, habe ich es innerhalb von wenigen Tagen verschlungen und seither ist es eines meiner meistempfohlenen Bücher im Ocelot. Ich habe es sogar schon in eine Kamera gehalten, bevor es auf der SPIEGEL-Bestsellerliste stand!
Till Raether, Treue Seelen: Aufmerksamen Leser*innen dieses Newsletters wird nicht entgangen sein, dass ich — vorsichtig ausgedrückt — eher wenig Bücher lese, die von Männern geschrieben wurden. Aber für Till mache ich Ausnahmen, denn auch seinen neuesten Roman habe ich sehnsüchtig erwartet, seit ich ihn im Podcast darüber sprechen hörte. Wie schon bei Alenas Roman ist auch hier ein besonderer Bonus, dass wichtige Szenen des Buchs in der Gegend von Berlin spielen, in der ich wohne.
*Esther Becker, Wie die Gorillas: Esther Beckers Debütroman über die Freundschaft dreier Mädchen und deren episodisch erzähltes Aufwachsen in einer von patriarchalen Strukturen geprägten Gesellschaft ist eines dieser Bücher, das dieses Jahr fast durch unser gesamtes Buchhandelsteam weitergewandert ist und uns alle gleichermaßen begeistert hat. Ich habe mein Exemplar danach sofort an meine kleine Schwester weitergegeben, weil ich diesen beeindruckenden Roman unbedingt mit ihr teilen wollte.
*Sharon Dodua Otoo, Adas Raum: Neben den Büchern von Till und Alena war der Debütroman von Bachmannpreisträgerin Sharon Dodua Otoo wohl die deutschsprachige Neuerscheinung, auf die ich mich dieses Jahr am allermeisten gefreut habe, und ich wurde nicht enttäuscht. Ich habe schon lange keinen so ungewöhnlich erzählten Roman mehr gelesen. Ein großartiges Spiel mit unterschiedlichen Erzählperspektiven und narrativen Schleifen!
Shida Bazyar, Drei Kameradinnen: Fast hätte ich Shida Bazyars zweiten Roman nicht gelesen, weil mich der Klappentext nicht sofort angesprochen hatte und ich auch ihren Debütroman, der bereits vor mehreren Jahren erschienen ist, immer noch nicht gelesen kannte. Dann hat eine Bemerkung meiner Kollegin mich aber dazu gebracht, mir das Buch doch mal genauer anzuschauen, und nach 3 Seiten war ich komplett gefangen von dieser innovativ erzählten Geschichte. Wäre es nach mir gegangen, hätte dieser Roman den diesjährigen deutschen Buchpreis gewonnen!
Dilek Güngör, Vater und ich: Wenn ich ehrlich bin, habe ich zunächst nur nach diesem Roman gegriffen, weil er auf der Longlist für den deutschen Buchpreis 2021 stand und schön kurz ist und ich dringend noch ein Buch brauchte, dass ich im Rahmen meiner Insta-Live-Kooperation mit 54books und dem Goetheinstitut Schweden besprechen könnte. Umso überraschter war ich dann darüber, wie sehr mich diese knapp gehaltene und doch ganz genau hinschauende Schilderung einer komplizierten Vater-Tochter-Beziehung gerührt hat.
Sabine Schönfellner, Draußen ist weit: Dieser Roman wäre komplett unter meinem Radar geblieben, wenn mich nicht ein paar meiner österreichischen Twitter-Mutuals davon überzeugt hätten, dass ich ihn lesen muss. Zum Glück habe ich meiner Bubble vertraut, denn dieser Text über Erinnerung und Verdrängung hat mir ausgesprochen gut gefallen.
Sasha Marianna Salzmann, Im Menschen muss alles herrlich sein: Bereits der erste Roman von Sasha Salzmann hat mich vor ein paar Jahren sehr gefesselt und deshalb habe ich mich auch auf ihr neues Werk sehr gefreut. Wie es der Zufall so wollte, wurde der Roman mir dann auch noch als mein Patenbuch beim diesjährigen #Buchpreisbloggen zugelost, in diesem Kontext habe ich mich auf Instagram ausführlicher dazu geäußert:
Hier habe ich ausführlicher über die Romane von Dilek Güngör, Sabine Schönfellner und Sasha Marianna Salzmann gesprochen.
Deutschsprachiges Backgelistetes
Neben diesen druckfrischen Romanen habe ich auch endlich ein paar Romane nachgeholt, die bereits vor mehreren Jahren erschienen sind, als ich mich noch nicht für deutschsprachige Gegenwartsliteratur interessiert habe.
Shida Bazyar, Nachts ist es leise in Teheran: Nach meiner Begeisterung für Drei Kameradinnen musste ich mir natürlich auch sofort Shida Bazyars ersten Roman besorgen, der mir dann fast genauso gut gefallen hat (aber ich finde, Bazyar hat sich bei den Kameradinnen nochmal deutlich weiterentwickelt). Ich bin jetzt ganz klar ein Bazyar-Fangirl und werde ihr nächstes Buch definitv gleich nach Erscheinen lesen!
*Barbara Frischmuth, Verschüttete Milch: Barbara Frischmuth schreibt seit den 60er Jahren, ich habe sie erst dieses Jahr für mich entdeckt, wieder mal auf Empfehlung eines Twitterfreundes. Dieser Kindheitserinnerungsroman von 2019 hat mir so gut gefallen, dass sich inzwischen die antiquarisch besorgten Frischmuth-Backlist-Titel bei mir stapeln und ihrer baldigen Lektüre harren.
*Susanne Röckel, Rotula: Diesen Roman aus der Backlist von Susanne Röckel hatte ich mir schon besorgt, als ich vor drei Jahren begeistert ihren damals frisch erschienenen Roman Der Vogelgott gelesen habe. Wie das dann meistens so ist, stand dieser frühere Roman von ihr dann erstmal ziemlich lange ungelesen bei mir im Regal, bis dirsen Herbst plötzlich der richtige Zeitpunkt dafür gekommen war. Kein perfektes Buch, aber viele Einzelaspekte dieses futuristisch-paläontologischen Gruselromans beschäftigen mich noch Wochen später.
Teresa Präauer, Johnny und Jean: Und noch ein Buch, das ich nur auf eine Twitterempfehlung hin gelesen habe. Teresa Präauer sagte mir zwar dem Namen nach grob etwas, ihr literarisches Werk war aber bis vor wenigen Wochen komplett an mir vorbeigegangen. Diese Coming-ofAge-Geschichte/Kunstbetriebssatire/Freundschaftserzählung, bei der die Grenzen zwischen "Realität" und "Fantasie" (sofern man von beidem bei einer fiktionalen Geschichte überhaupt sprechen kann) ununterbrochen verschwimmen, hat mich verwirrt, aber auch sehr fasziniert, und Präauers nächstes Buch liegt schon bereit.
Übersetztes
Leider habe ich dieses Jahr nicht so viele Romane in Übersetzung gelesen, wie ich es mir eigentlich vorgenommen hatte (nächstes Jahr werden es hoffentlich wieder ein paar mehr), zwei waren aber doch dabei, die bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen haben:
*Léonora Miano, Zeit des Schattens (Ü: Ina Pfitzner): Dieser im präkolonialen Kamerun angesiedelte, aus dem Französischen übersetzte Roman ist die wohl eindrücklichste literarische Verarbeitung des transatlantischen Handels mit Versklavten und der kolonialistischen Gewalt, die ich bisher gelesen habe.
*Rosmarie Waldrop, Pippins Tochters Taschentuch (Ü: Ann Cotten): Zu diesem Roman habe ich eigentlich nur gegriffen, weil ich Ann Cotten als Übersetzerin schätze; über den Roman selbst und seine Autorin Rosmarie Waldrop wusste ich zunächst wenig. Nach der Lektüre war ich dann allerdings so beeindruckt, dass auch auch alle weiteren Werke von Waldrop auf meine Leseliste gesetzt habe.
Englisches Neuerschienenes
Ich habe dieses Jahr zwar jeweils fast gleich viele Bücher auf Englisch und auf Deutsch gelesen, aber irgendwie waren bei den Englischen nicht so besonders viele aktuelle Romane dabei wie sonst. Ein paar habe ich zwischen all den Backlisttiteln und antiquarischen Entdeckungen, denen ich mich dieses Jahr vermehrt gewidmet habe, aber doch noch untergebracht:
*Ruth Gilligan, The Butchers: Dieses Buch über Rinderwahn und einen ungewöhnlichen alten Volksglauben und von außen aufgezwungene Geschlecherrollen und häusliche Gewalt und Identitätssuche und die erste Liebe und familiäre Konflikte und mysteriöse Todesfälle und Fotografie und Irland war eines meiner ersten Jahreshighlights, über das ich auch Monate später immer wieder nachdenke.
*Akwaeke Emezi, The Death of Vivek Oji: Akwaeke Emezis Schaffen verfolge ich aufmerksam, seit ich vor zwei Jahren den Debütroman Freshwater gelesen habe. Der hatte mich damals so umgehauen, dass ich mich erst nicht getraut habe, auch Emezis zweiten Roman (für Erwachsene) zu lesen, weil ich Angst hatte, dass er nicht an dieses absolut herausragende Leseeerlebnis heranreichen würde, und deshalb nach Erscheinen fast ein Jahr gezögert habe, bis ich ihn endlich aufschlug. Meine Sorge war völlig unbegründet, denn auch dieser Roman ist, wie schon Freshwater, in meinen Augen ein kleines Meister*innenwerk, unglaublich traurig und wunderschön zugleich.
*Kylie Whitehead, Absorbed: Ich wünschte, alle Romane über dysfunktional Millenial-Beziehungen wären so gut und, nunja, rundherum seltsam, wie dieser hier über eine jugne Frau, die eines Nachts beim Sex ihren Freund wortwörtlich absorbiert.
*Rachel Yoder, Nightbitch: Wenig liegt mir in meiner persönlichen Lebensplanung ferner als Mutterschaft, und trotzdem gehören Bücher, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, seit einiger Zeit verlässlich zu den Lektüren, die den bleibendsten Eindruck bei mir hinterlassen. So auch dieser Roman über eine überforderte und erschöpfte junge Mutter, die die Befürchtung hat, sich nach und nach in eine Hündin zu verwandeln.
Gwendoline Riley, My Phantoms: Über Gwendoline Rileys neuesten Roman habe ich bisher noch gar nicht wirklich öffentlich gesprochen, dabei handelt es sich dabei um eine der besten Schilderungen eines schwierigen Mutter-Tochter-(bzw. Eltern-Tochter-)Verhältnisses, die ich je gelesen habe. Ein Buch mit wenig Handlung, aber mit starken Dialogen; manche der geschilderten Szenen fühlen sich in ihrer emotionalen Wucht an wie ein Schlag in die Magengrube.
Wiederentdecktes (Deutsch)
Ein Großteil meiner diesjährigen Lektüren bestand aus Büchern, die ich der Einfachheit halber alle als "Wiederdentdeckungen" bezeichne, auch wenn es sich bei manchen davon um persönliche antiquarische Entdeckungen inzwischen vergriffener Titel, bei anderen wiederum um kürzlich erschienene Wiederauflagen älterer, literaturgeschichtlich vernachlässigter bzw. nicht kanonisierter Texte handelt. In welchem Umfang ein einzelnes Buch tatsächlich "wiederentdeckt" werden musste oder konnte, ist hier also sehr unterschiedlich.
Gisela Elsner, Die Riesenzwerge: Gisela Elsner habe ich letztes Jahr für mich entdeckt, als ich mit Das Berührungsverbot den neusten Band der im Verbrecher Verlag erschienenen Elsner-Werkausgabe (Achtung, nur noch wenige Tage verfügbar!) gelesen habe. Das fand ich so grandios, dass ich unbedingt Elsners Gesamtwerk elsen möchte, dieses Jahr habe ich zeitlich allerdings nur ihren Debütroman Die Riesenzwerge untergebracht. Der war dafür aber lustig und skurril und komplex genug für drei Romane!
*Margarete Beutler, Ich träumte, ich hätte einen Wetterhahn geheiratet: Der AvivA Verlag steht mir v.a. deshalb sehr nahe, weil er die gleichen Interessen verfolgt wie ich: literaturgeschichtlich vernachlässigten Autorinnen wieder die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen. Dieses Jahr hat der Verlag u.a. die gesammelte Prosa der Schriftstellerin Margarete Beutler wieder zugänglich gemacht, und was für ein Glück für uns Leser*innen das ist!
Dorothea Kleine, Das schöne bißchen Leben: Über meine Zufallsentdeckung der größtenteils vergessenen DDR-Schriftstellerin Dorothea Kleine habe ich in einer früheren Ausgabe dieses Newsletters ausführlicher berichtet:
Inzwischen habe ich noch zwei weitere Bücher der Autorin gelesen, die mir noch besser gefallen haben als das, was ich damals im Bücherschrank gefunden habe. Vor allem Dorothea Kleines autofiktionale Erzählung Das schöne bißchen Leben über einen längeren Krankenhausaufenthalt und Genesungsprozess nach einer schwerwiegenden Operation am Herzen hat mich stark beeindruckt.
*Susanne Kerckhoff, Die verlorenen Stürme: Susanne Kerckhoff wurde erst letztes Jahr vom deutschen Buchmarkt "wiederentdeckt" und erzielte mit ihren Berliner Briefen 70 Jahre nach ihrem Tod nochmal einen Überraschungsbestseller. Der zweite wiederaufgelegte Roman von ihr, der diesen Herbst erschienen ist, hat mich sogar noch mehr fasziniert als Kerckhoffs sehr vorausschauender Briefroman.
*Leo Perutz, Zwischen Neun und Neun: Mal wieder ein Buch, das ich nur wegen einer Twitterempfehlung gelesen habe und das mich trotz einer sehr ärgerlichen unfreiwilligen Spoilererfahrung sehr gut unterhalten hat, weil es einfach unglaublich lustig ist.
Margrit Baur, Überleben: Die Schweizer Autorin Margrit Baur sagte mir bisher nichts, ihre Bücher sind schon seit Jahren vergriffen, dieses hier habe ich letztes Jahr spontan aus so einer 1-Euro-Kiste vor einem Antiquariat mitgenommen. Von diesem autobiografischen Text über das Schreiben, die Arbeit und die Einsamkeit war ich dann so beeindruckt, dass ich mir jetzt alle weiteren ihrer anderen Werke antiquarisch besorgt habe, die ich zu erschwinglichen Preisen auftreiben konnte.
Ingeborg Arlt, Das kleine Leben: Ähnlich wie bei Dorothea Kleine erging es mir auch bei dieser Novelle von Ingeborg Arlt, die ich ebenfalls zufällig im örtlichen öffentlichen Bücherschrank gefunden habe. Was Arlt in diesem von Christa Wolf hochgelobten Buch über toxische heterosexuelle Beziehungen und auch über queeres Leben in der DDR zu erzählen hatte, geht mir auch jetzt, Wochen später, immer noch nach.
*Emilia Pardo Bazán, Sonnenstich: Über diese schöne kleine spanische Novelle aus dem 19. Jahrhundert habe ich ja in der letzten Ausgabe ausführlich berichtet. Auch zwei Wochen nach der Lektüre bin ich immer noch begeistert davon und wünsche mir dringend eine deutschsprachige Neuausgabe.
Cécile Ines Loos, Der Tod und das Püppchen: Auf die Schweizer Autorin Cécile Ines Loos wurde ich dank einem Buch mit Texten von Annemarie von Matt aufmerksam, das später noch in diesem Jahresrückblick auftauchen wird. Den Roman von Loos kann man sich momentan nur antiquarisch besorgen, er erzählt einfühlsam und mit einem trotz des schmerzhaften Themas sehr feinen Humor die Coming-of-Age-Geschichte eines Waisenmädchens, das nach dem Tod seiner Adoptivmutter vom Rest der Familie in ein Waisenhaus abgeschoben wird und dort unter grausamen Bedingungen aufwächst.
Sachliches
Ich habe dieses Jahr insgesamt recht wenige Sachbücher (Essaysammlungen und Memoirs bzw hybride Textformen betrachte ich nochmal gesondert) gelesen und darunter waren noch weniger, die mich wirklich nachhaltig beschäftigen, außer diesen zwei über Frauen in der Literatur- und in der Medizingeschichte:
*Nicole Seifert, Frauen Literatur: Nicole und ich sind schon länger Verbündete, wenn es darum geht, Autorinnen den ihnen gebührenden Platz in der Literaturgeschichte und -kritik einzuräumen, deshalb habe ich auch die Entstehung ihres großartigen und so so wichtigen Buches von Anfang an aus nächster Nähe mitverfolgen dürfen. Das Endergebnis ist noch viel besser geworden, als ich mir vorab ausmalen konnte, und wenn ihr es noch nicht gelesen habt, solltet ihr das dringend noch nachholen!
*Elinor Cleghorn, Unwell Women: Dieses Buch über Frauen (als Patientinnen) in der Medizingeschichte hat mich, weil es sehr dick und teilweise sehr aufwühlend ist, mehrere Wochen lang begleitet und dabei immer wieder sehr wütend gemacht, denn vieles, was darin aus vergangengen Jahrhunderten über die Behandlung von Frauen durch Ärzte (absichtlich nicht gegendert) geschildert wird, hat auch heutzutage noch eindeutige Parallelen.
Lyrisches
Ich habe schon mehrmals behauptet, dass ich eigentlich keine Lyrikleserin sei, mich da überhaupt nicht auskenne, das meiste nicht verstehe, und überhaupt. Nach diesem Lektürejahr kann ich diese Behauptung eigentlich nicht mehr so wirklich aufrecht erhalten, denn ich habe 2021 für meine Verhältnisse erstaunlich viele Lyrikbände gelesen (insgesamt 25) und jetzt sind auch noch ziemlich viele davon in meinen Lieblingsbüchern des Jahres gelandet:
*Gisela Kraft, Katze und Derwisch: Dieser (nur noch antiquarisch erhältliche) Lyrikband war ein Geschenk einer Twitterfreundin und hat eine kleine Gisela-Kraft-Obsession bei mir ausgelöst, über die ich ja in diesem Newsletter schon ausführlicher berichtet habe.
*Sibylla Schwarz, Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden: Dieses Buch stammt aus der Reihe Femmes des Lettres aus dem Secession Verlag, die ich zwar von Beginn an gesammelt, aber dann erstmal nur ungelesen ins regal gestellt hatte. Aber weil sich 2021 der 400. Geburtstag der Greifswalder Dichterin Sibylla Schwarz jährte, habe ich doch endlich zu meiner ersten Lektüre aus dieser tollen Wiederentdeckungsreihe gegriffen und dabei erstaunt festgestellt, dass ich Barocklyrik eigentlich ziemlich toll finde.
*Honorée Fanonne Jeffers, The Age of Phillis: Die Autorin begibt sich in diesem grandiosen Band auf die Spuren von Phillis Wheatley, der ersten veröffentlichten afroamerikanischen Dichterin der USA, und ich bin ihr auf diesem Weg mit großer Bewunderung gefolgt. Honorée Fanonne Jeffers’ dieses Jahr erschienener Debütroman liegt daher natürlich auch bereits auf meinem Lesestapel für 2022.
*Elfriede Haslehner, Ausgewählte Gedichte (Podium Porträt 13): Eine ähnliche Obsession wie die mit Gisela Kraft hat in diesem Fall auch wieder eine Twitterfreundin bei mir ausgelöst, indem sie einige Zitate aus dieser Lyriksammlung der österreichischen Autorin Elfriede Haslehner-Götz geteilt hat. Ich war sofort Feuer und Flamme und versuchte, soviele ihrer (vergriffenen) Bände wie möglich antiquarisch zu ergattern, was mir zum Glück gelungen ist.
*Christine Nöstlinger, iba de gaunz oaman Fraun: Weil Elfriede Haslehner auch Mundartlyrik verfasst hat, bin ich dann wiederum von jemandem auf die Wienerischen Gedichte von Christine Nöstlinger aufmerksam gemacht worden, die ich bisher nur wegen ihrer Kinderbücher, die mir viel bedeuten, verehrt hatte. Jetzt, wo ich ihre Gedichte gelesen habe, hat meine Verehrung neue Dimensionen angenommen.
*Gisela Brinker-Gabler (Hrsg.), Deutsche Dichterinnen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart: Diese ursprünglich aus den 70er Jahren stammende Anthologie, die deutschsprachige Dichterinnen aus 500 Jahren vorstellt, hat mich über mehrere Monate hinweg begleitet und mir viele zukünftige neue Lektürepfade eröffnet.
Alke Stachler, Geliebtes Biest: Dieses Buch war ein absoluter Spontankauf, weil mich der Titel und die Aufmachung des kleinen Hefts aus der österreichischen, unabhängigen kleinen edition mosaik so angesprochen haben. Darin bin ich dann auf ganz großartige mystisch-magisch-düster-feministische Prosagedichte gestoßen, von denen ich am liebsten jede zweite Zeile auf twitter zitiert hätte. Das ist fast immer ein untrügliches Zeichen dafür, dass mir ein Buch wirklich gut gefällt.
Christine Lavant, Gedichte (ausgewählt von Thomas Bernhard für die Bibliothek Suhrkamp: Von Christine Lavant kannte ich bisher nur ein paar der Prosatexte; aufgrund meiner eigenen Fehleinschätzung, keine Lyrik zu mögen, hatte ich mir vor zwei Jahren nur die beiden Prosabände der vierbändigen Lavant-Werkausgabe gekauft. In der Anthologie von Gisela Brinker-Gabler bin ich dann aber über einige Gedichte von Lavant gestolpert, die mich so berührt haben, dass ich unbedingt noch mehr von ihrer Lyrik lesen wollte und mir zunächst diese kleine Auswahl aus der Bibliothek Suhrkamp besorgt habe. Wie ihr euch denken könnt, nenne ich inzwischen aber auch die beiden fehlenden Lyrik-Bände der Werkausgabe mein Eigen.
Graphisches
*Hannah Eaton, Blackwood: Mein vorsichtiges Herantasten an die Welt der Graphic Novels habe ich ja in diesem Newsletter bereits ausführlich dokumentiert. Dabei ist noch ziemlich viel Luft nach oben bei mir, dieses Jahr habe ich erstmal nur drei Graphic Novels gelesen, aber bei denen war mit Hannah Eatons grandioser Folk Horror-Geschichte immerhin schon eine dabei, die es definitiv mit meinen liebsten Romanlektüren aus diesem Jahr aufnehmen kann. Nächstes Jahr wage ich mich weiter in dieses für mich neue Medium vor!
Das war also die erste Hälfte meiner Lieblingslektüren 2021. Der zweite Teil, mit Essays, Memoirs Kurzgeschichten und vor allem mit vielen englischen "Wiederentdeckungen", folgt voraussichtlich morgen.
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Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda