Ein Lebenszeichen und vier schnelle Buchtipps
und eine Ankündigung für bezahlende Abonnent*innen
Ihr Lieben,
seit wir uns das letzte Mal gelesen haben, ist wirklich sehr viel passiert — in der Welt sowieso (während ich dies schreibe, wird gerade die Entlassung Christian Lindners als Finanzminister verkündet) und auch bei mir privat/beruflich. Ich habe nach 6,5 Jahren als Buchhändlerin meinen Abschied vom Ocelot gefeiert, direkt danach haben wir den diesjährigen Deutschen Buchpreis an Martina Hefter und ihren großartigen Roman Hey guten Morgen, wie geht es dir? verliehen (nachdem wir am Tag vor der Preisverleihung in unserer letzten Jurysitzung stundenlang über den Gewinnertitel diskutiert hatten), haben damit einen regelrechten Literaturskandal provoziert, in dessen Kontext der derzeitige gesamtgesellschaftliche misogyne Backlash auch innerhalb des Kulturbetriebs mal wieder besonders deutlich zutage trat, dann war Frankfurter Buchmesse und wir haben alle gerätselt, wer sich hinter dem Literarischen Quarktett verstecken könnte, und direkt im Anschluss an die Messe habe ich meinen neuen Vollzeitjob im Berliner Literaturhaus Lettrétage angetreten. Ach ja, dazwischen habe ich auch noch ein Nachwort für ein fantastisches Buch über Schweizer Autorinnen der 1970er Jahre geschrieben, das im Frühjahr im Hier und Jetzt Verlag erscheinen wird, bin während meiner letzten Wochen im Ocelot bereits in meine neue Stelle in der Lettrétage eingearbeitet worden und habe also einen Monat lang zwei Jobs parallel gearbeitet, und gerade bereite ich außerdem noch zwei verschiedene Veranstaltungen vor, bei denen ich Ende November auf der Bühne sitzen bzw. stehen werde, um über die Autorinnen Gisela Kraft bzw. Mary MacLane zu sprechen (über Gisela Kraft habe ich vor Jahren schonmal eine Newsletterausgabe und über Mary MacLane einen Essay auf 54books geschrieben). Ihr könnt also vielleicht nachvollziehen, warum ich zwischen all dem Chaos und den großen Umwälzungen in meinem Leben diesen Newsletter die letzten Monate etwas vernachlässigt habe. Ich verspreche, irgendwann, wenn ich mich in den neuen Job eingewöhnt habe, werde ich ihn wieder in einem geregelteren Rhythmus und in gewohnter Länge verschicken, aber momentan brauche ich einfach ganz klar eine kleine Pause (und freue mich schon so unfassbar auf einen Dezember ohne Weihnachtsgeschäft und ganze zwei Wochen am Stück Urlaub zwischen den Jahren!). Um euch bis dahin nicht völlig darben zu lassen, habe ich aber vier schnelle Buchtipps für euch im Gepäck, außerdem habe ich mir für die zahlenden Abonnent*innen unter euch etwas Besonderes überlegt, das ich zukünftig umsetzen möchte. Worum es sich dabei handelt, erfahrt ihr ganz am Ende des Newsletters.
Dark Academia liegt dank BookTok und Co. als literarisches Genre schon seit mehreren Jahren im Trend und erzeugt zumindest bei mir inzwischen ernsthafte Ermüdungserscheinungen — ich denke daher, dass es höchste Zeit wird, mit "Cozy Academia" den nächsten Hype auszurufen!
"But for now she will read, and continue to read, without hurry, searching herself for a theme. When an idea begins to inflate itself she will become purposeful, but until then she will just read." (Rosalind Brown, Practice)
Paradebeispiel für dieses soeben von mir erfundene Genre ist der Debütroman Practice (dt. Übung, Ü: Eva Bonné) von Rosalind Brown, den ich vor einigen Wochen in einem Rutsch gelesen habe. In dem passiert nämlich ausgesprochen wenig und schon gar nicht werden darin irgendwelche Morde begangen, Flüche ausgesprochen oder dunkle Geheimnisse aufgedeckt. Stattdessen handelt er einfach von einer jungen Frau, Studentin in Oxford, die ihren Sonntag damit verbringt, das Schreiben eines Essays über Shakespeares Sonette zu prokrastinieren, das sie eigentlich in zwei Tagen abgeben muss. Zwar hat sie ihr Handy ausgeschaltet und will sich außer Tee Kochen, Yoga und einem Spaziergang keinerlei Ablenkung erlauben, doch immer wieder dringt die Außenwelt in Form ihres fordernden Freundes Rich, ihrer Familie und ihrer elaborierten sexuellen Fantasien in die stille Gelehrsamkeit ein. Der Erzählton ist von so einem klugen trockenen Witz und die banalsten Vorgänge wie Zubereitung einer Salat-Bowl oder das Wasserlassen auf der Toilette (ja, wirklich!) so präzise und dabei beinahe lyrisch beschrieben, dass ich das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen konnte. Vom Vibe her hat es mich dabei ein bisschen an Claire-Louise Bennets grandiosen Roman in Erzählungen Pond (dt. Teich), der übrigens ebenfalls von Eva Bonné ins Deutsche übersetzt wurde, erinnert, oder auch an Ali Smiths Artful (dt. Wem erzähle ich das?, Ü: Silvia Morawetz).
Auf andere Art cozy sind die beiden Bücher, die meine lieben Freund*innen Till Raether und Nicole Seifert kürzlich für den Arche Verlag geschrieben bzw. übersetzt haben und die für mich nicht nur optisch (siehe unten) ein ungemein passendes Lektürepaar bilden, weil sie beide das Chaos und die Freuden des Familienlebens und vor allem des Familienwohnens auf ähnlich liebevolle (und in ihrem Tonfall doch völlig unterschiedliche) Art in den Blick nehmen. Tills Drinnen ist ein wunderschöner Essay übers Um- und Einziehen, übers Zuhause ankommen und übers Wohnen, der mich im Jahr meines eigenen großen Umzugs ganz besonders abgeholt hat. Shirley Jacksons autofiktionaler Roman Alles wie immer (orig. Raising Demons, Ü: Nicole Seifert) ist die Fortsetzung von Krawall und Kekse (orig. Life among the Savages), das ebenfalls von Nicole übersetzt wurde, und auch darin wird umgezogen und gewohnt. Denn nach der Geburt des vierten Jackson-Kindes Barry (von seiner Familie auch liebevoll Mr. Beekman genannt) ist das alte Haus in New England, das wir aus dem Vorgängerroman kennen, für die exzentrische Familie zu klein geworden. Aber der Umzug in ein neues, größeres Haus gestaltet sich mit 4 Kindern, einer ganzen Menagerie an Haustieren und vor allem zehntausenden von Büchern alles andere als einfach. Wer Shirley Jackson hauptsächlich als Autorin psychologischer Horrorgeschichten kennt, wird überrascht ein vom unbändigen Humor ihrer beiden autobiografischen Bücher — und von der tiefen Liebe für ihre Familie, die aus beiden Texten spricht!
Gar nicht cozy dagegen geht es in Iida Turpeinens Roman Das Wesen des Lebens (aus dem Finnischen übersetzt von Maximilian Murmann) zu. Ganz im Gegenteil ist der Roman, der "ausgehend von der ausgestorbenen Stellerschen Seekuh von obsessiven Sammlern und rastlosen Wissenschaftlern, von begeisterten Naturschützern und den Frauen, die an Naturerforschungen immer schon beteiligt waren," erzählt, streckenweise ganz schön brutal und traurig — die Passage aus der Sicht einer sterbenden Seekuh ist wohl das herzzerreißendste Stück Literatur, das ich in diesem Jahr bisher gelesen habe — , dabei aber auch immer wieder unglaublich berührend und fesselnd. Ich war als Kind nie so paläontologiebegeistert wie manch andere meiner Altersgenossen, ich kann auch keine ausgesprochene Dinosaurierobsession o.ä. vorweisen, nachdem ich aber nun dank Turpeinens Erzählung einen ersten Einblick in die spannende Geschichte der Paläontologie erhalten habe, bin ich angefixt und habe mir mit Deborah Cadburys The Dinosaur Hunters: A True Story of Scientific Rivalry and the Discovery of the Prehistoric World kürzlich auch ein vielversprechend klingendes Sachbuch zum Thema bestellt.
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
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Auf bald!
Eure Magda
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Danke, liebe Magda für die Tipps.
Das Verhalten Clemens Meyers finde ich unglaublich unkollegial. Ein neiderfüllter, sich selbst überhöhender Kerl... Buchpreise sind nicht für die Schuldenabzahlung da. Diese Macho-Kerle sind zum Heulen.