herzlich willkommen zu unserer ersten Diskussionsrunde im Rahmen des Lesekreises zu Ursula K. Le Guins Immer nach Hause. Wir widmen uns heute der ersten Leseetappe (S. 13 bis 156).
"Die Leute in diesem Buch könnten einst lang, lang nach unserer Zeit in Nordkaliforniern gelebt haben werden."
Schon der erste Satz des Buches mit seiner komplizierten Gramamtik deutet an, dass eine komplexe und herausfordernde Lektüre auf uns zukommt und tatsächlich hab ich ein bisschen gebraucht, um richtig in den Leseflow reinzukommen. Wir beginnen mit dem ersten Teil von Erzählsteins Geschichte und auf den ersten paar Seiten habe ich mich gefühlt wie eine völlig ahnungslose Reisende, die ohne Kompass, Landkarte oder Wörterbuch in einem ihr vollkommen fremden Land unterwegs ist. Bzw. mit einer Zetmaschine in eine unbekannte Zukunft gereist ist, ohne die geringste Ahnung zu haben, was dort auf sie zukommt. Der Text wimmelt nämlich nur so von ungewohnten Eigennamen und fremden Konzepten, deren Bedeutung man sich manchmal aus dem Kontext erschließen kann, die man manchmal aber auch einfach so hinnehmen muss, ohne sie wirklich verstanden zu haben — zumindest ging es mir so. Auch der Erzählton ist ganz anders, als man es von Romanen üblicherweise kennt. Mit der Zeit nimmt Erzählsteins Coming-of-Age-Geschichte aber immer mehr an Fahrt auf und ich bin gespannt, wie es mit dem Mädchen und ihrer Familie weitergeht, ob sie ihren Vater aus dem Kondorvolk jemals wiedersehen wird usw.
Die eher sachlichen Beschreibungen der verschiedenen Häuser der Kesh oder der Sterberituale im Tal fand ich interessant und zuweilen etwas trocken, aber in dieser Leseetappe waren es tatsächlich die Gedichte und kürzeren (Volks-)Erzählungen und Fabeln, die mich am meisten fasziniert und unterhalten haben. Es gefällt mir sehr gut, wie sich durch diese ganzen sehr unterschiedlichen Textformen nach und nach ein immer deutlicheres Bild von der Kultur der Kesh ergibt, während ich als Leserin aufmerksam mitarbeiten muss und mir nicht alle Zusammenhänge ordentlich und linear erzählt auf dem Silbertablett serviert werden. Gleichzeitig finde ich es extrem beeindruckend, wie realistisch mir alles, was Ursula K. Le Guin uns über diese fiktive Kultur erzählt, vorkommt. Die Wortgeplänkel zwischen den Leuten "oben in Chumo" und denen "unten im Tal" kann ich mir z.B. lebhaft vorstellen und sie haben mich mehrfach zum Lachen gebracht. Zu meiner großen Begesterung habe ich dann vorgestern auch noch festgestellt, dass Ursula K. Le Guin einige der Lieder und Gedichte der Kesh zusammen mit dem Musiker Todd Barton vertont hat, so dass wir einen noch authentischeren Eindruck bekommen können, wie das geklungen haben werden könnte:
Wie erging es euch mit diesem ersten Leseabschnitt? Habt ihr gut in den Text reingefunden?Fiel es euch schwer, euch auf die ungewöhnliche Erzählweise und die wechselnden Textformen einzulassen? Wie gelungen findet ihr die deutsche Übersetzung? Welche Texte haben euch bisher am besten gefallen? Worüber wollt ihr mehr erfahren?
Ich bin gespannt auf eure Eindrücke und darauf, was euch besonders aufgefallen ist.
Juchhu, ich habe es geschafft. S.155 ist erreicht und das Auge entwickelt sich nach der OP weiter gut, was bedeutet, ich darf täglich mehr lesen und werde zukünftig wohl im Zeitplan bleiben. Ach, Magda, Dein Text hat mich sehr beruhigt.
Ich habe sehr gefremdelt mit dem Buch auf diesen ersten Seiten. Meine Erwartung war wohl ganz anders. Ich fand mich unvorstellbar mutig, mich auf Science-Fiction (Die Autorin sei die Grande Dame der angloamerikanischen Science Fiction, so steht es im Porträt der Autorin am Ende des Buches!). Und das ist gar nicht mein Genre. Obwohl ich Märchen über alles liebe, bestimmt einen Regalmeter an Märchenbüchern habe und manchmal denke, ich hätte Märchenforscherin werden sollen, liegen mir SciFi und Fantasy nicht. Was habe ich erwartet? Lauter kleine Et 's? Ich weiß es nicht. Nun arbeite ich mich also hinein. Was finde ich? Lyrik, Sagenhaftes/Märchenhaftes, eine Art von Sachtexten, Prosa... eine Bandbreite. Irgendwie auch toll. Mit meiner 14 jährigen Enkelin (eine absolute Leseratte) sprach ich über die Herausforderung des Lesens im Alter :-). Sie meinte, "Oma, das klingt eher nach Fantasy..." und amüsierte sich über die "ungewöhnlichen Namen".
Beim Lesen merke ich, dass ich mich mit Erzählstein durchaus identifizieren kann und neugierig bin, wie es ihr wohl zukünftig gehen mag. Mir gefallen die Namen wie Erzählstein oder Unverzagt (wow, was sagt das über diese Oma, so lese ich sie, aus!). Die Mutter "Weide" - nicht so starr, beweglich wie eine Weide? Meine Assoziationen reichen von : Geschichte eines indigenen Volkes in Südamerika - Kondorvolk), Geschlechterzuordnungen erscheinen mir manchmal als offen dargestellt bis zu: das Verhalten der Menschen erinnert mich an aktuelle weltweite gesellschaftliche Geschehnisse.
Berührt haben mich die Zeichnung auf Seite 16: Ist es die Wachtel oder die Feder? Beides?
und auf S. 20/21 das Feenvolk, das nicht zu finden ist bei Grabungen, sondern: "Nimm dein Kind oder Enkelkind auf den Arm, einen Säugling, noch kein Jahr alt, und gehe hinunter zum wilden Hafer." Da entstand gleich ein Märchenbild in mir.
Ab S.62 verdichtet sich die Erzählung: Das entspannte Leben wandelt sich hin zu einem angespannten, auch angstbesetztem; kriegerische Vorbereitungen beginnen. Die Kinder entfernten sich nicht mehr so weit von ihren Häusern...
Als Pazifistin gefällt mir, dass die Kondor-Krieger als dumm und einfältig dargestellt werden. Keine Sorge, ich weiß wohl, dass die Menschen nicht so leicht in Kategorien einzuteilen sind...
Schön, dass es dir und deinen Augen wieder besser geht und du hier mti dabei bist!
Ich finde auch, dass der Erzählton z.B. in Erzählsteins Geschichte viel mehr Ähnlichkeiten mit Märchen hat als mit "klassischer" Science Fiction oder Fantasy -- es ist auch schön, im Laufe der Lektüre zu merken, wie man immer mehr eigene Vorurteile im Bezug auf Genres, Erzählkonventionen usw. nacheinander über Bord werfen muss.
Schön, dass du die Zeichnung(en) erwähnst. Ich finde, die Illustrationen von Margaret Chodos-Irvine tragen viel dazu bei, dass sich diese "Archäologie der Zukunft" so real(istisch) anfühlt. Eigentlich schade, dass heutzutage die wenigsten (belletristischen) Bücher illustriert sind.
Ich habe übrigens heute angefangen, Monique Wittigs "Les guérillères" zu lesen, falls das jemandem von euch etwas sagt, und da erging es mir erstmal ganz ähnlich wie bei Le Guin, dass ich mich in eine Welt geworfen gefühlt habe, in der ich zunächst nichts verstehe, in der lauter seltsame Rituale vorkommen, deren Zweck ich noch nicht durchschaue, etc. Irgendwie spannend, wie sich solche Lektüreparallelen manchmal fast wie von selbst und ganz unbewusst ergeben.
Ich fühle mich als Leser von der Autorin miteinbezogen in ihr Roman-Universum, ich werde zum Sammler von Hinweisen, zum Spurenleser: wie verheerend muss die Katastrophe gewesen sein, dass die überlebende Bevölkerung sich in der geschilderten Umwelt wiederfindet, in einem Leben geprägt u.a. von Ritualen, deren Entwicklung und Ausgestaltung und Bedeutung die hingebungsvolle wiederholte Übung von (wieviel?) Generationen von Menschen voraussetzt? Die inhaltlich schlichten Geschichten, die vor allem mündlich überliefert werden, weil sie als Geschenk, als Gabe betrachtet werden und dadurch erst ihren Wert erhalten, erzählen von Alltäglichem, von Eigentümlichem, offenbaren die gängigen Umgangsformen, Umgangston, Humor u.s.f.
Ja, dieses Zusammentragen der einzelnen Puzzleteile (oder auch Teppichflicken ;)), die am Ende das Panorama der Kesh ergeben sollen, das macht mir bislang Spaß.
Und ich freue mich über die Gedanken, die Funde und Wegweiser, die ihr hier teilt. Danke dafür!
Das mit dem Sammeln von Hinweisen/Puzzlestücken, aus denen wir Leser*innen uns selbst das Gesamtbild zusammensetzen müssen, passt ja auch irgendwie zu Le Guins berühmter "Carrier Bag Theory of Fiction" -- der Essay, den sie darüber geschrieben hat, ist ja glaube ich auch im Anhang zu "Immer nach Hause" mit abgedruckt, wir kommen also später nochmal dazu, das genauer aufzudröseln. Und die von dir genannten Teppichflicken passen wiederum zu Janas Hinweis auf Weben als Pendant zum Erzählen.
Ich mag ja auch die "alltäglichen", "banalen" Geschichten und Gedichte, aus denen wir trotzdem zwischen den Zeilen so viel über diese faszineirende Kultur und Lebensweise lernen, bisher am liebsten.
Ich hab' so viel Spaß mit der Lektüre, habe allerdings spät begonnen und bin mit dem ersten Part noch nicht ganz durch, das nur vorab. Trotzdem ein paar lose erste Gedanken.
Für mich ist hier noch mehr als in den anderen Romanen, die ich bisher von ihr gelesen habe (The Dispossessed und The Left Hand of Darkness) die Perspektive und die Erzählhaltung ganz nah an der einer Anthropologin. Das schreibe ich zwar in dem Wissen, dass ihre Mutter eine wichtige Anthropologin ihrer Zeit war, aber ich denke, auch ohne diese biografische Zusatzinfo ist es recht offensichtlich. Ich mag das total gern und empfinde diesen Zugang als sehr zugewandt, mitfühlend und dennoch wertfrei. Ein beschreibender Stil, der trotzdem nicht nüchtern ist. Ich bin emotional ehrlich gesagt schon sehr involviert, aber wahrscheinlich doch auf eine andere Weise als bei anderen Büchern – vielleicht weniger auf der Basis von Affekten und Sympathien für einzelne Figuren.
Was ich auch ganz besonders und großartig finde: Bei mir weckt das Buch eine große Neugier auf unsere Welt und unsere Gegenwart – auf andere Kulturen, Lebensformen und Arten des Zusammenlebens. Oder auch auf das, was man schon zu kennen glaubt, aber mit verändertem Blick nochmal ganz anders sehen kann. Ich habe leider nur die englische Ausgabe, aber eine Schlüsselstelle aus der Telling-Stone-/Erzählstein-Passage war für mich: »I went around all the places I knew finding everything turned around. It was strange, but I enjoyed the strangeness, though I hoped it would not remain.« (Über die Rückkehr nach Sinshan, also eine Art coming home...) Es gab in The Dispossessed eine Stelle, die ich mochte, rausgeschrieben habe und an die ich wieder denken musste: »And day to day, life's a hard job, you get tired, you lose the pattern. You need distance, interval. The way to see how beautiful the earth is, is to see it as the moon.«
Danke für den Hinweis mit der Biodiversität. Das finde ich auch bemerkenswert und es wird außerdem so toll erzählt, als oft gedeihliches Miteinander. Die Tierhaltung wirkt schon vorindustriell, oder? – als wäre die Gesellschaft einerseits zu einem bestimmten Zustand zurückgekehrt, anderseits aber ohne rückschrittig zu wirken. Das finde ich angesichts der momentanen Diskussion um Degrowth und ein Ende des (Wirtschafts-)Wachstums einen spannenden Ansatz, der Fortschritt ganz anders begreift als es derzeit politischer und sozialer Konsens ist. Dass sie das schafft, ohne es einseitig werden zu lassen oder zu romantisieren, ist so stark.
Und noch zuletzt: Ich sehe irgendwie überall Hinweise auf Ursula K. Le Guins Poetik – das Weben als Pendant zum Erzählen (Text und Textil) zum Beispiel. Bilde ich mir das ein (durchaus möglich), oder seht Ihr stellenweise auch eine Art Metaebene?
Ich freue mich jedenfalls aufs Weiterlesen, danke für die Lektüreauswahl und Eure vielen interessanten Gedanken dazu!
Ich merke, dass ich bei den kürzeren Texten emotional involvierter bin als bei der Erzählsteingeschichte, bei vielen von den Gedichten kann ich mir z.B. lebhaft die Situationen vorstellen, in denen sie entstanden sind, während ich bei Erzählsteins Schilderung eher interessiert-fasziniert von oben/außen draufgucke. Ich bin gespannt, ob sich das noch ändert.
Dieses Zitat aus der Erzählstein-Erzählung hat mich auch sehr angesprochen. Durch deinen Hinweis lese ich es jetzt aber nochmal anders und nehme es in die weitere Lektüre mit. Danke dafür!
In der deutschen Übersetzung heißt es „Ich suchte alle Orte auf, die ich kannte, und alles war umgekehrt. Es war seltsam, aber ich genoss die Seltsamkeit, auch wenn ich hoffte, dass es nicht so bleiben würde.“ (S. 37)
Mir macht die Lektüre bisher viel Spaß und ich bin gut reingekommen. Vielleicht hat mir die Neugier aufs Abenteuer den Einstieg erleichtert. Die längere Geschichte von Erzählstein und die Volkssagen haben mir ebenfalls gut gefallen und einen guten Ausgleich zu den unterschiedlichen Textformen gegeben. Ansonsten bin ich eher fasziniert von der Archäologie der Zukunft und der Umsetzung des Romans als emotional involviert. Bin gespannt ob sich das im Verlauf der Lektüre ändert und bleibe total neugierig auf alles was uns da noch erwartet.
Mir ging es beim Einstieg ins Buch sehr ähnlich wie Magda und fand es mühsam, inzwischen freue ich mich aber auf die tägliche Lektüre. Mir gefällt die Welt, die Le Guin beschreibt sehr gut und ich bin gespannt, mehr darüber zu erfahren!
Die Geschichte ist wirklich ganz anders erzählt als alles was ich bisher kenne (was nicht viel ist)… Anfang letztes Jahr habe ich mich an Callenbachs „Ökotopia“ versucht, weil ich Lust auf zuversichtliche Science Fiction - oder das Solarpunk-Genre wenn man so will - hatte. Ich habe aufgegeben, die Erzählung war teils zu dokumentarisch, die Welt zu idealistisch und die Geschlechterverhältnisse zwar irgendwie progressiv, aber an einigen Stellen mE doch unerträglich schief.
Ich finde, Le Guins Buch wirkt auch sehr zuversichtlich - sehr interessant und irgendwie entlastend finde ich, dass Technologie so gar nicht im Vordergrund steht. Science Fiction ohne großes Gewese um Technik kam mir bisher noch nicht so unter. Habt Ihr da Vergleichbares gelesen?
Mir gefallen auch die Geschlechterverhältnisse und die vielen weiblichen Perspektiven gut, sie wirken ziemlich entspannt auf mich: denn es scheint sehr verschiedene, gleichermaßen okaye Formen des Zusammenlebens zu geben, Männer und Frauen die zusammenleben oder auch nicht (mehr), stabile und weniger stabile Beziehungen. Gerade die Rollen von Vätern/Großvätern scheinen wenig festgeschrieben zu sein. In der Tendenz ist es aber eine binäre/hetero Welt, es gab bisher nur vereinzelt Stellen, wo das durchbrochen wurde…
Wie angenehm das Dorfleben zu sein scheint, die verschiedenen Häuser/Heyimas, die Gemeinschaften und Zugehörigkeiten bilden über kleinere und größere Kernfamilien hinaus und die auch Gemeinschaftsräume sind. Das Fehlen von Hierarchien, das Verhältnis zu Besitz. Die Tatsache, dass auch Tiere und Pflanzen „Leute“ sind. Das spannende, eher zirkuläre (?) Verständnis von Zeit. Zeit vergeht irgendwie nicht, es geht auch nicht „voran“, es gibt keine großen Projekte/Entwicklungsrichtungen für die Zukunft. All das finde ich ziemlich schön und das Lesen entspannt mich irgendwie.
Und Le Guinness kann großartige Sätze schreiben. „The King was pregnant.“ aus Left Hand of darkness fand ich schon toll. „Die Leute könnten gelebt haben werden.“ begeistert mich auch wahnsinnig.
Dies mein Gedankensammelsurium, ich mache hier mal einen Punkt!
Ich finde auch, dass es insgesamt ziemlich zuversichtliche/hoffnungsvolle Texte sind -- auch wenn mit den kriegstreiberischen Kondormännern oder auch der Erzählung des Müllers, der seiner Verwandten gegenüber sexualisierte Gewalt ausübt, immer wieder auch eher düstere Aspekte dieser Gesellschaft aufblitzen. Deshalb bin ich auch sehr gespannt, wie Erzählsteins Geschichte weitergeht, ob die junge Nordeule ihrem Vater folgt und direkter in das Kriegsgeschehen involviert wird etc. (und ob wir dann noch andere "verfeindete" Völker kennenlernen werden).
Auch ich habe mich am Anfang mit den Eigennamen und den vielen unbekannten Begriffen schwergetan. Es hat definitiv den Effekt der „Archäologie“ und der Fremdheit für mich verstärkt, da sich die Bedeutung von Dingen erst nach und nach entfaltet, ähnlich wie bei einer Ausgrabung, bei der man am Anfang noch nicht weiß, was es mit den Funden auf sich hat. Das hat sich allerdings schwerer angefühlt als ich vor dem Lesen erwartet hatte.
Während des Lesens musste ich an eine Studie zur Artenvielfalt in der Literatur denken, die festgestellt hat, dass sich die abnehmende Biodiversität auch in den in Büchern vorkommenden Arten widerspiegelt. Mein erster Eindruck war, dass in Immer Nach Hause wahrscheinlich eher mehr Arten erwähnt werden als in anderen Büchern aus der gleichen Zeit.
(Ich habe sie noch nicht gelesen, aber falls es hier Interessierte gibt: Die Studie gibt es auch open access unter dem Titel „The rise and fall of biodiversity in literature: A comprehensive quantification of historical changes in the use of vernacular labels for biological taxa in Western creative literature“ doi: 10.1002/pan3.10256).
Was ich mochte:
- Reichtum bei den Kesh bedeutet nicht viel zu haben, sondern viel zu geben/schenken
- Vielfalt an Textsorten (insbesondere die Märchen/Fabeln und als ich hineingefunden hatte auch Erzählsteins Geschichte)
- Das Konzept von Erst-/Letztnamen
- die Illustrationen
- beim Beerdigungsritual: die Kinder, die Körner/Saaten aufs Grab gestreut haben, damit Vögel den Gesang in die Vier Häuser tragen (abgesehen davon fand ich diesen Abschnitt auch eher trocken)
- wie Carolin das Gedicht „Künstler“
- das Zitat von S.52, das Claudia gepostet hat
Was mich überrascht hat:
- Was für eine riesige Rolle Spiritualität und Rituale spielen
- die Profanitäten (kein Werturteil – ich hatte nur nicht damit gerechnet)
Was ich mich gefragt habe:
- wie Mona schrieb: wann taucht die im Klappentext erwähnte „hochentwickelte Technologie“ auf?
- in Erzählsteins Geschichte: Als Nordeules Großvater das Holzpaddel durch den Arm bewegt hat – was zum Teufel ist da passiert?
- wer ist Pandora? (klar, die fiktive Anthropologin, aber was weiß man über ihre Person? Woher kommt sie? Warum interessiert sie sich für die Kesh?)
Das ist ja spannend mit der Biodiversität, danke für den Link!
Stimmt, die tollen Illustrationen sollten auf keinen Fall unerwähnt bleiben, die tragen auf jeden Fall dazu bei, dass sich alles irgendwie "authentisch" zusammenfügt.
Über die Profanitäten musste ich auch oft überrascht schmunzeln, z.B. als die Koyotin zu den Bären sagt, die Menschen "denken und ficken zu schnell" oder so ähnlich; oder auch in den Liedern und Gedichten, z.B. das Lied der Lorbeerjungs, wo "er" "ihn" in alle möglichen Löcher stecken muss. Aber auch das trägt ja irgendwie zur "Authentizität" ieser Archäologie der Zukunft bei, ich erinnere nur an die ganzen versauten Inschriften, die beispielsweise in Pompeji und anderen antiken Stätten gefunden wurden.
Das mit dem Holzpaddel des Großvaters hatte ich schon wieder vergessen, aber du hast recht, das ist mysteriös; vielleicht irgendeine "alte" Hologrammtechnologie der untergegangenen hochentwickelten Zivlisation?
Was genau es mit Pandora auf sich hat, habe ich mich auch schon gefragt -- laut Inhaltsverzeichnis folgen ja noch einige Passagen mit ihr, vielleicht werden wir es also noch erfahren?
Aus dem ersten Textabschnitt hat mich das Gedicht "Künstler" besonders angesprochen (auch wenn mir das Ende zu derb ist) und die Sterbeanleitung. Mir scheint es tröstlich für alle Beteiligten, ein solches Ritual zu haben, das den Übergang vom Leben zum Tod begleitet (ich kenne nur christliche Bräuche wie Sakramente etc., die von einem Pfarrer gegeben werden). Interessant auch die Formulierung "er/sie lernte sterben", die den Sterbenden in eine aktive Position versetzt. An dieser Stelle vielleicht meine Antwort auf Magdas Frage: Ich finde die Übersetzung, ohne das Original zu kennen, sehr gut zu lesen, weil ich davon ausgehe, dass auch auf Englisch solche um die Ecke gebogenen Ausdrücke vorkommen.
Mir kommt die Übersetzung auch sehr gelungen vor und eigentlich finde ich diese zusätzliche Verfremdungsebene, die dadurch beim deutschen Text dazukommt, auch ziemlich passend. Denn Anthropologie an sich ist ja auch immer schon eine Übersetzungsleistung, wenn jemand eine fremde Kultur/Gesellschaft während der Beschreibung in für die eigene Gemeinschaft verständliche Konzepte überführt. Die Position des*der Beobachter*in beeinflusst ja immer auch die Deutung, also wird man als Außenstehende*r nie ein völlig authentisches Bild einer fremden Gesellschaft erlangen, immer nur eine Annäherung. Und so ist es bei (literarischen) Übersetzungen ja auch -- die können den Originaltext nie eins zu eins in eine andere Sprache überführen, irgendwas geht dabei immer verloren, aber andererseits werden dadurch manchmal vielleicht auch neue Nuancen gewonnen.
Mir ist es auch erstmal schwergefallen, in den Text/die Texte reinzukommen. Ich hab fast keine Leseerfahrung im Bereich Fantasy und fand es spannend, mit diesem Lesekreis-Projekt dieses Gerne mal etwas zu erkunden. Als ich angefangen habe zu lesen, war ich dann aber doch unsicher, ob das so eine gute Idee war und bin jetzt beruhigt zu sehen, dass ich mit den Startschwierigkeiten nicht allein war. Ich habe mich auch anfangs recht fremd gefühlt in der erzählten Welt und kam erst besser rein, als ich mich damit abgefunden habe, (noch) nicht alles verstehen zu können. Nach und nach hat man dann ja doch auch schon einiges über den Aufbau der Gesellschaft, Regeln, Rituale und Traditionen erfahren. Die Sachtexte fand ich dafür sehr spannend und erhellend.
Am besten gefallen hat mir aber der Erzählstein-Text und innerhalb dieser Erzählung der Part, als Nordeule der Spur des Löwen folgt. Ich lese gerne Nature Writing und in dem Abschnitt habe ich mich dann wieder mehr zu Hause gefühlt. Stellenweise hat es mich sehr an „An das Wilde glauben“ erinnert. Nur dass hier ein 8jähriges Kind tagelang allein in der Wildnis unterwegs ist!
Jetzt bin ich auch sehr gespannt, wie es mit Nordeule weitergeht und was wir noch alles über die Kesh und die Kondore erfahren und wie es überhaupt zu all dem gekommen sein wird.
Ich habe zwar schon deutliche Fantasy-Leseerfahrung (bin heimlicher Tolkien-Ultra z.B.), aber von Le Guins Werk kannte ich bis auf einige Essays und Kurzgeschichten auch noch gar nichts. Das mit dem Nature Writing ist ein guter Einwand, es geht ja wirklich ganz viel um Naturbeschreibungen und eben auch die Beziehungen zwischen der Meschen- und der Tierwelt, und das ist dann eben ein guter Anknüpfungspunkt auch für Leute, die mit Fantasy und SciFi bisher noch nicht so viel anfangen konnten. Einer meiner Lieblingsteile aus dem Text war ja die Geschichte von dem Kind, das bei der Koyotin aufwächst; v.a. über das "Haus der Koyotin", das quasi den kompletten von Menschen unbesiedelten Teil des Tals einnimmt, musste ich sehr lachen. Da wird die eigene gewohnte Sichtweise auf die Welt so richtig schön auf den Kopf gestellt!
Ich hatte schon damit gerechnet, dass es etwas schwer sein wird in den Text zu finden, allein von der Art wie der Roman angelegt ist. War aber dann positiv überrascht, wie schnell er mich dann doch bekommen hat, über die coming-of-age Geschichte. Finde es wirklich sehr stark, wie le Guin es schafft uns die Menschen in den verschiedenen Geschichten schnell nahe zu bringen. (Hab erst ein Buch von ihr gelesen, deswegen kenn ich mich noch nich so aus.) Ich hätte auch nich gedacht, dass einige Sachen so witzig sind.
Am besten bis dato hat mir die Kurzgeschichte Dira gefallen, auch wenn ich gerne direkt die Erzählsteingeschichte weitergelesen hätte.
Side note: hab erst kürzlich Der Junge & der Reiher im Kino gesehen & deswegen existieren die Kondore für mich im Kopf jetzt im Ghibli-style 😅
Die sachlichen Abhandlungen sind auch nich so meins, aber der Aufbau des Buchs is da natürlich von Vorteil, weil dann schnell ne Kurzgeschichte oder Gedichte kommen.
Wenn ich vllt etwas zu kritisieren hätte nach der 1. Etappe, wobei es eher an der Erwartungshaltung liegt, dass sich das alles noch nicht so wirklich wie Zukunft anfühlt. Es wurde gesagt, ja, aber so viele Anzeichen, dass es mal eine Katastrophe gab & sie, wie auf dem Buchrücken beschrieben über eine »hochentwickelte Technologie« verfügen, hab ich noch nich gefunden. Aber man darf mich gerne vom Gegenteil überzeugen :)
Das stimmt, von der "Katastrophe" und der ganzen Vorgeschichte hat man in diesem Abschnitt noch nicht so wirklich was mitgekriegt, ich musste mir beim Lesen auch aktiv ins Gedächtnis rufen, dass das Ganze in unserer Welt, genauer in Kalifornien, angesiedelt ist und nicht z.B. auf einem völlig fremden fiktiven Planeten. Ich bin gespannt, ob wir da in den späteren Abschnitten noch etwas mehr erfahren, wie es überhaupt zu diesen neuen Gesellschaftsstrukturen und Lebensweisen der Kesh, Kondore usw. kam.
Hallo. Ich bin quasi besessen von der Frage, wie es zu dem Bruch zwischen unserer Welt und dieser Zukunft kam - befürchte aber, dass es die Autorin weniger interessiert als mich, das zu klären. Habe viel über Worldbuilding in Fantasyromanen nachgedacht und die Art und Weise, wie ich als Leserin da mitgedacht werde - hier besucht mit „Pandora“ zwar eine offenbar fremde Person die Welt, aber woher sie stammt, was ihr Hintergrund ist, scheint mir ungeklärt. In den Gedichten und Geschichten sprechen die Kesh für sich von sich. Aber ihre Welt ist mir sehr fremd (das „indigene“ Gefühl kommt unweigerlich auf aber wird wiederum sehr bedacht in Details dekonstruiert).
Besonders gefallen hat mir die Geschichte des Erzählsteins. Auf diesen Teil trifft ja auch das Wort „Erzählung“ am ehesten zu. Die anderen Teile des ersten Abschnitts fand ich zwar interessant, aber auch wie Magda schreibt, ein bisschen trocken. Ich bin beeindruckt über das Ausmaß der Fantasie der Autorin. Eine Sprache mit Vokabeln und Grammatik, ein ganzer Kosmos, der mich ein bisschen an die indigene Bevölkerung Amerikas denken lässt. Die Lektüre hat mich angestrengt. Ich bin gespannt, ob das so bleibt.
Ich finde es spannend, dass Le Guin bestimmt auch von Tolkien, der ja eines ihrer literarischen Vorbilder war, inspiriert war, was den Umfang ihres Worldbuildings angeht, dass sich die Art der Umsetzung aber sehr stark von Herr der Ringe und co. unterscheidet. Wo Tolkien sehr deutlich von frühmittelalterlichen europäischen Mythen und Kulturen beeinflusst war, geht es bei Le Guin in eine ganz andere Richtung, der Blick auf die Welt, den sie den Kesh andichtet, wirkt viel weniger westlich und dadurch viel weniger vertraut als beispielsweise in den Geschichten aus Mittelerde oder auch Game of Thrones o.ä.
Das es insbesondere an die amerikanische indigene Bevölkerung erinnert, ist glaube ich kein Zufall, denn Le Guins Vater war ja Anthropologe und hat sich in seiner Forschung z.B. intensiv mit dem indigenen kalifornischen Volk der Yana befasst.
„Es ist schwer, mich daran zu erinnern, wie wenig ich wusste. (...) wir müssen lernen, so gut wir können, aber wir müssen uns stets bewusst sein, dass unser Wissen nicht den Kreis vollendet und die Lücke schließt. Denn sonst vergessen wir, dass das, was wir nicht wissen, grenzenlos bleibt, ohne Anfang und Ende, und das, was wir wissen, sein Bekanntsein mit dem teilen muss, was sich versagt.“ S.52
Guten Morgen. Ich lese, weil mich das Leben, der Mensch, die Schöpfung und der Mensch darin und sein Wirken und Ausgeliefertsein und und und ... interessieren, weil ich in Geschichten und Erzählungen an den Erfahrungen anderer teilhaben kann, Erkenntnisse gewinnen kann. „Immer nach Hause“ ist ein fiktiver Roman, wie die Autorin gleich im ersten Satz anmerkt. Die Inhaltsübersicht offenbart, dass uns eine Sammlung von Geschichten, Gedichten, Gesängen vorliegt, die die mögliche Existenz der Protagonisten belegt haben wird. Es menschelt darin, darum folge ich der Autorin gerne und freue mich darauf, mehr über ihre Kesh zu erfahren.
Juchhu, ich habe es geschafft. S.155 ist erreicht und das Auge entwickelt sich nach der OP weiter gut, was bedeutet, ich darf täglich mehr lesen und werde zukünftig wohl im Zeitplan bleiben. Ach, Magda, Dein Text hat mich sehr beruhigt.
Ich habe sehr gefremdelt mit dem Buch auf diesen ersten Seiten. Meine Erwartung war wohl ganz anders. Ich fand mich unvorstellbar mutig, mich auf Science-Fiction (Die Autorin sei die Grande Dame der angloamerikanischen Science Fiction, so steht es im Porträt der Autorin am Ende des Buches!). Und das ist gar nicht mein Genre. Obwohl ich Märchen über alles liebe, bestimmt einen Regalmeter an Märchenbüchern habe und manchmal denke, ich hätte Märchenforscherin werden sollen, liegen mir SciFi und Fantasy nicht. Was habe ich erwartet? Lauter kleine Et 's? Ich weiß es nicht. Nun arbeite ich mich also hinein. Was finde ich? Lyrik, Sagenhaftes/Märchenhaftes, eine Art von Sachtexten, Prosa... eine Bandbreite. Irgendwie auch toll. Mit meiner 14 jährigen Enkelin (eine absolute Leseratte) sprach ich über die Herausforderung des Lesens im Alter :-). Sie meinte, "Oma, das klingt eher nach Fantasy..." und amüsierte sich über die "ungewöhnlichen Namen".
Beim Lesen merke ich, dass ich mich mit Erzählstein durchaus identifizieren kann und neugierig bin, wie es ihr wohl zukünftig gehen mag. Mir gefallen die Namen wie Erzählstein oder Unverzagt (wow, was sagt das über diese Oma, so lese ich sie, aus!). Die Mutter "Weide" - nicht so starr, beweglich wie eine Weide? Meine Assoziationen reichen von : Geschichte eines indigenen Volkes in Südamerika - Kondorvolk), Geschlechterzuordnungen erscheinen mir manchmal als offen dargestellt bis zu: das Verhalten der Menschen erinnert mich an aktuelle weltweite gesellschaftliche Geschehnisse.
Berührt haben mich die Zeichnung auf Seite 16: Ist es die Wachtel oder die Feder? Beides?
und auf S. 20/21 das Feenvolk, das nicht zu finden ist bei Grabungen, sondern: "Nimm dein Kind oder Enkelkind auf den Arm, einen Säugling, noch kein Jahr alt, und gehe hinunter zum wilden Hafer." Da entstand gleich ein Märchenbild in mir.
Ab S.62 verdichtet sich die Erzählung: Das entspannte Leben wandelt sich hin zu einem angespannten, auch angstbesetztem; kriegerische Vorbereitungen beginnen. Die Kinder entfernten sich nicht mehr so weit von ihren Häusern...
Als Pazifistin gefällt mir, dass die Kondor-Krieger als dumm und einfältig dargestellt werden. Keine Sorge, ich weiß wohl, dass die Menschen nicht so leicht in Kategorien einzuteilen sind...
Schön, dass es dir und deinen Augen wieder besser geht und du hier mti dabei bist!
Ich finde auch, dass der Erzählton z.B. in Erzählsteins Geschichte viel mehr Ähnlichkeiten mit Märchen hat als mit "klassischer" Science Fiction oder Fantasy -- es ist auch schön, im Laufe der Lektüre zu merken, wie man immer mehr eigene Vorurteile im Bezug auf Genres, Erzählkonventionen usw. nacheinander über Bord werfen muss.
Schön, dass du die Zeichnung(en) erwähnst. Ich finde, die Illustrationen von Margaret Chodos-Irvine tragen viel dazu bei, dass sich diese "Archäologie der Zukunft" so real(istisch) anfühlt. Eigentlich schade, dass heutzutage die wenigsten (belletristischen) Bücher illustriert sind.
Ich habe übrigens heute angefangen, Monique Wittigs "Les guérillères" zu lesen, falls das jemandem von euch etwas sagt, und da erging es mir erstmal ganz ähnlich wie bei Le Guin, dass ich mich in eine Welt geworfen gefühlt habe, in der ich zunächst nichts verstehe, in der lauter seltsame Rituale vorkommen, deren Zweck ich noch nicht durchschaue, etc. Irgendwie spannend, wie sich solche Lektüreparallelen manchmal fast wie von selbst und ganz unbewusst ergeben.
Ich fühle mich als Leser von der Autorin miteinbezogen in ihr Roman-Universum, ich werde zum Sammler von Hinweisen, zum Spurenleser: wie verheerend muss die Katastrophe gewesen sein, dass die überlebende Bevölkerung sich in der geschilderten Umwelt wiederfindet, in einem Leben geprägt u.a. von Ritualen, deren Entwicklung und Ausgestaltung und Bedeutung die hingebungsvolle wiederholte Übung von (wieviel?) Generationen von Menschen voraussetzt? Die inhaltlich schlichten Geschichten, die vor allem mündlich überliefert werden, weil sie als Geschenk, als Gabe betrachtet werden und dadurch erst ihren Wert erhalten, erzählen von Alltäglichem, von Eigentümlichem, offenbaren die gängigen Umgangsformen, Umgangston, Humor u.s.f.
Ja, dieses Zusammentragen der einzelnen Puzzleteile (oder auch Teppichflicken ;)), die am Ende das Panorama der Kesh ergeben sollen, das macht mir bislang Spaß.
Und ich freue mich über die Gedanken, die Funde und Wegweiser, die ihr hier teilt. Danke dafür!
Das mit dem Sammeln von Hinweisen/Puzzlestücken, aus denen wir Leser*innen uns selbst das Gesamtbild zusammensetzen müssen, passt ja auch irgendwie zu Le Guins berühmter "Carrier Bag Theory of Fiction" -- der Essay, den sie darüber geschrieben hat, ist ja glaube ich auch im Anhang zu "Immer nach Hause" mit abgedruckt, wir kommen also später nochmal dazu, das genauer aufzudröseln. Und die von dir genannten Teppichflicken passen wiederum zu Janas Hinweis auf Weben als Pendant zum Erzählen.
Ich mag ja auch die "alltäglichen", "banalen" Geschichten und Gedichte, aus denen wir trotzdem zwischen den Zeilen so viel über diese faszineirende Kultur und Lebensweise lernen, bisher am liebsten.
Ich hab' so viel Spaß mit der Lektüre, habe allerdings spät begonnen und bin mit dem ersten Part noch nicht ganz durch, das nur vorab. Trotzdem ein paar lose erste Gedanken.
Für mich ist hier noch mehr als in den anderen Romanen, die ich bisher von ihr gelesen habe (The Dispossessed und The Left Hand of Darkness) die Perspektive und die Erzählhaltung ganz nah an der einer Anthropologin. Das schreibe ich zwar in dem Wissen, dass ihre Mutter eine wichtige Anthropologin ihrer Zeit war, aber ich denke, auch ohne diese biografische Zusatzinfo ist es recht offensichtlich. Ich mag das total gern und empfinde diesen Zugang als sehr zugewandt, mitfühlend und dennoch wertfrei. Ein beschreibender Stil, der trotzdem nicht nüchtern ist. Ich bin emotional ehrlich gesagt schon sehr involviert, aber wahrscheinlich doch auf eine andere Weise als bei anderen Büchern – vielleicht weniger auf der Basis von Affekten und Sympathien für einzelne Figuren.
Was ich auch ganz besonders und großartig finde: Bei mir weckt das Buch eine große Neugier auf unsere Welt und unsere Gegenwart – auf andere Kulturen, Lebensformen und Arten des Zusammenlebens. Oder auch auf das, was man schon zu kennen glaubt, aber mit verändertem Blick nochmal ganz anders sehen kann. Ich habe leider nur die englische Ausgabe, aber eine Schlüsselstelle aus der Telling-Stone-/Erzählstein-Passage war für mich: »I went around all the places I knew finding everything turned around. It was strange, but I enjoyed the strangeness, though I hoped it would not remain.« (Über die Rückkehr nach Sinshan, also eine Art coming home...) Es gab in The Dispossessed eine Stelle, die ich mochte, rausgeschrieben habe und an die ich wieder denken musste: »And day to day, life's a hard job, you get tired, you lose the pattern. You need distance, interval. The way to see how beautiful the earth is, is to see it as the moon.«
Danke für den Hinweis mit der Biodiversität. Das finde ich auch bemerkenswert und es wird außerdem so toll erzählt, als oft gedeihliches Miteinander. Die Tierhaltung wirkt schon vorindustriell, oder? – als wäre die Gesellschaft einerseits zu einem bestimmten Zustand zurückgekehrt, anderseits aber ohne rückschrittig zu wirken. Das finde ich angesichts der momentanen Diskussion um Degrowth und ein Ende des (Wirtschafts-)Wachstums einen spannenden Ansatz, der Fortschritt ganz anders begreift als es derzeit politischer und sozialer Konsens ist. Dass sie das schafft, ohne es einseitig werden zu lassen oder zu romantisieren, ist so stark.
Und noch zuletzt: Ich sehe irgendwie überall Hinweise auf Ursula K. Le Guins Poetik – das Weben als Pendant zum Erzählen (Text und Textil) zum Beispiel. Bilde ich mir das ein (durchaus möglich), oder seht Ihr stellenweise auch eine Art Metaebene?
Ich freue mich jedenfalls aufs Weiterlesen, danke für die Lektüreauswahl und Eure vielen interessanten Gedanken dazu!
Ich merke, dass ich bei den kürzeren Texten emotional involvierter bin als bei der Erzählsteingeschichte, bei vielen von den Gedichten kann ich mir z.B. lebhaft die Situationen vorstellen, in denen sie entstanden sind, während ich bei Erzählsteins Schilderung eher interessiert-fasziniert von oben/außen draufgucke. Ich bin gespannt, ob sich das noch ändert.
Dieses Zitat aus der Erzählstein-Erzählung hat mich auch sehr angesprochen. Durch deinen Hinweis lese ich es jetzt aber nochmal anders und nehme es in die weitere Lektüre mit. Danke dafür!
In der deutschen Übersetzung heißt es „Ich suchte alle Orte auf, die ich kannte, und alles war umgekehrt. Es war seltsam, aber ich genoss die Seltsamkeit, auch wenn ich hoffte, dass es nicht so bleiben würde.“ (S. 37)
Mir macht die Lektüre bisher viel Spaß und ich bin gut reingekommen. Vielleicht hat mir die Neugier aufs Abenteuer den Einstieg erleichtert. Die längere Geschichte von Erzählstein und die Volkssagen haben mir ebenfalls gut gefallen und einen guten Ausgleich zu den unterschiedlichen Textformen gegeben. Ansonsten bin ich eher fasziniert von der Archäologie der Zukunft und der Umsetzung des Romans als emotional involviert. Bin gespannt ob sich das im Verlauf der Lektüre ändert und bleibe total neugierig auf alles was uns da noch erwartet.
Das ist eine interessante Beobachtung, so geht es mir auch ein bisschn, also dass ich eher fasziniert als eemotional involviert bin.
Mir ging es beim Einstieg ins Buch sehr ähnlich wie Magda und fand es mühsam, inzwischen freue ich mich aber auf die tägliche Lektüre. Mir gefällt die Welt, die Le Guin beschreibt sehr gut und ich bin gespannt, mehr darüber zu erfahren!
Die Geschichte ist wirklich ganz anders erzählt als alles was ich bisher kenne (was nicht viel ist)… Anfang letztes Jahr habe ich mich an Callenbachs „Ökotopia“ versucht, weil ich Lust auf zuversichtliche Science Fiction - oder das Solarpunk-Genre wenn man so will - hatte. Ich habe aufgegeben, die Erzählung war teils zu dokumentarisch, die Welt zu idealistisch und die Geschlechterverhältnisse zwar irgendwie progressiv, aber an einigen Stellen mE doch unerträglich schief.
Ich finde, Le Guins Buch wirkt auch sehr zuversichtlich - sehr interessant und irgendwie entlastend finde ich, dass Technologie so gar nicht im Vordergrund steht. Science Fiction ohne großes Gewese um Technik kam mir bisher noch nicht so unter. Habt Ihr da Vergleichbares gelesen?
Mir gefallen auch die Geschlechterverhältnisse und die vielen weiblichen Perspektiven gut, sie wirken ziemlich entspannt auf mich: denn es scheint sehr verschiedene, gleichermaßen okaye Formen des Zusammenlebens zu geben, Männer und Frauen die zusammenleben oder auch nicht (mehr), stabile und weniger stabile Beziehungen. Gerade die Rollen von Vätern/Großvätern scheinen wenig festgeschrieben zu sein. In der Tendenz ist es aber eine binäre/hetero Welt, es gab bisher nur vereinzelt Stellen, wo das durchbrochen wurde…
Wie angenehm das Dorfleben zu sein scheint, die verschiedenen Häuser/Heyimas, die Gemeinschaften und Zugehörigkeiten bilden über kleinere und größere Kernfamilien hinaus und die auch Gemeinschaftsräume sind. Das Fehlen von Hierarchien, das Verhältnis zu Besitz. Die Tatsache, dass auch Tiere und Pflanzen „Leute“ sind. Das spannende, eher zirkuläre (?) Verständnis von Zeit. Zeit vergeht irgendwie nicht, es geht auch nicht „voran“, es gibt keine großen Projekte/Entwicklungsrichtungen für die Zukunft. All das finde ich ziemlich schön und das Lesen entspannt mich irgendwie.
Und Le Guinness kann großartige Sätze schreiben. „The King was pregnant.“ aus Left Hand of darkness fand ich schon toll. „Die Leute könnten gelebt haben werden.“ begeistert mich auch wahnsinnig.
Dies mein Gedankensammelsurium, ich mache hier mal einen Punkt!
Ich finde auch, dass es insgesamt ziemlich zuversichtliche/hoffnungsvolle Texte sind -- auch wenn mit den kriegstreiberischen Kondormännern oder auch der Erzählung des Müllers, der seiner Verwandten gegenüber sexualisierte Gewalt ausübt, immer wieder auch eher düstere Aspekte dieser Gesellschaft aufblitzen. Deshalb bin ich auch sehr gespannt, wie Erzählsteins Geschichte weitergeht, ob die junge Nordeule ihrem Vater folgt und direkter in das Kriegsgeschehen involviert wird etc. (und ob wir dann noch andere "verfeindete" Völker kennenlernen werden).
Auch ich habe mich am Anfang mit den Eigennamen und den vielen unbekannten Begriffen schwergetan. Es hat definitiv den Effekt der „Archäologie“ und der Fremdheit für mich verstärkt, da sich die Bedeutung von Dingen erst nach und nach entfaltet, ähnlich wie bei einer Ausgrabung, bei der man am Anfang noch nicht weiß, was es mit den Funden auf sich hat. Das hat sich allerdings schwerer angefühlt als ich vor dem Lesen erwartet hatte.
Während des Lesens musste ich an eine Studie zur Artenvielfalt in der Literatur denken, die festgestellt hat, dass sich die abnehmende Biodiversität auch in den in Büchern vorkommenden Arten widerspiegelt. Mein erster Eindruck war, dass in Immer Nach Hause wahrscheinlich eher mehr Arten erwähnt werden als in anderen Büchern aus der gleichen Zeit.
https://www.srf.ch/wissen/natur-tiere/biodiversitaet-in-buechern-auch-in-der-literatur-schrumpft-die-artenvielfalt
(Ich habe sie noch nicht gelesen, aber falls es hier Interessierte gibt: Die Studie gibt es auch open access unter dem Titel „The rise and fall of biodiversity in literature: A comprehensive quantification of historical changes in the use of vernacular labels for biological taxa in Western creative literature“ doi: 10.1002/pan3.10256).
Was ich mochte:
- Reichtum bei den Kesh bedeutet nicht viel zu haben, sondern viel zu geben/schenken
- Vielfalt an Textsorten (insbesondere die Märchen/Fabeln und als ich hineingefunden hatte auch Erzählsteins Geschichte)
- Das Konzept von Erst-/Letztnamen
- die Illustrationen
- beim Beerdigungsritual: die Kinder, die Körner/Saaten aufs Grab gestreut haben, damit Vögel den Gesang in die Vier Häuser tragen (abgesehen davon fand ich diesen Abschnitt auch eher trocken)
- wie Carolin das Gedicht „Künstler“
- das Zitat von S.52, das Claudia gepostet hat
Was mich überrascht hat:
- Was für eine riesige Rolle Spiritualität und Rituale spielen
- die Profanitäten (kein Werturteil – ich hatte nur nicht damit gerechnet)
Was ich mich gefragt habe:
- wie Mona schrieb: wann taucht die im Klappentext erwähnte „hochentwickelte Technologie“ auf?
- in Erzählsteins Geschichte: Als Nordeules Großvater das Holzpaddel durch den Arm bewegt hat – was zum Teufel ist da passiert?
- wer ist Pandora? (klar, die fiktive Anthropologin, aber was weiß man über ihre Person? Woher kommt sie? Warum interessiert sie sich für die Kesh?)
Das ist ja spannend mit der Biodiversität, danke für den Link!
Stimmt, die tollen Illustrationen sollten auf keinen Fall unerwähnt bleiben, die tragen auf jeden Fall dazu bei, dass sich alles irgendwie "authentisch" zusammenfügt.
Über die Profanitäten musste ich auch oft überrascht schmunzeln, z.B. als die Koyotin zu den Bären sagt, die Menschen "denken und ficken zu schnell" oder so ähnlich; oder auch in den Liedern und Gedichten, z.B. das Lied der Lorbeerjungs, wo "er" "ihn" in alle möglichen Löcher stecken muss. Aber auch das trägt ja irgendwie zur "Authentizität" ieser Archäologie der Zukunft bei, ich erinnere nur an die ganzen versauten Inschriften, die beispielsweise in Pompeji und anderen antiken Stätten gefunden wurden.
Das mit dem Holzpaddel des Großvaters hatte ich schon wieder vergessen, aber du hast recht, das ist mysteriös; vielleicht irgendeine "alte" Hologrammtechnologie der untergegangenen hochentwickelten Zivlisation?
Was genau es mit Pandora auf sich hat, habe ich mich auch schon gefragt -- laut Inhaltsverzeichnis folgen ja noch einige Passagen mit ihr, vielleicht werden wir es also noch erfahren?
Aus dem ersten Textabschnitt hat mich das Gedicht "Künstler" besonders angesprochen (auch wenn mir das Ende zu derb ist) und die Sterbeanleitung. Mir scheint es tröstlich für alle Beteiligten, ein solches Ritual zu haben, das den Übergang vom Leben zum Tod begleitet (ich kenne nur christliche Bräuche wie Sakramente etc., die von einem Pfarrer gegeben werden). Interessant auch die Formulierung "er/sie lernte sterben", die den Sterbenden in eine aktive Position versetzt. An dieser Stelle vielleicht meine Antwort auf Magdas Frage: Ich finde die Übersetzung, ohne das Original zu kennen, sehr gut zu lesen, weil ich davon ausgehe, dass auch auf Englisch solche um die Ecke gebogenen Ausdrücke vorkommen.
Mir kommt die Übersetzung auch sehr gelungen vor und eigentlich finde ich diese zusätzliche Verfremdungsebene, die dadurch beim deutschen Text dazukommt, auch ziemlich passend. Denn Anthropologie an sich ist ja auch immer schon eine Übersetzungsleistung, wenn jemand eine fremde Kultur/Gesellschaft während der Beschreibung in für die eigene Gemeinschaft verständliche Konzepte überführt. Die Position des*der Beobachter*in beeinflusst ja immer auch die Deutung, also wird man als Außenstehende*r nie ein völlig authentisches Bild einer fremden Gesellschaft erlangen, immer nur eine Annäherung. Und so ist es bei (literarischen) Übersetzungen ja auch -- die können den Originaltext nie eins zu eins in eine andere Sprache überführen, irgendwas geht dabei immer verloren, aber andererseits werden dadurch manchmal vielleicht auch neue Nuancen gewonnen.
Mir ist es auch erstmal schwergefallen, in den Text/die Texte reinzukommen. Ich hab fast keine Leseerfahrung im Bereich Fantasy und fand es spannend, mit diesem Lesekreis-Projekt dieses Gerne mal etwas zu erkunden. Als ich angefangen habe zu lesen, war ich dann aber doch unsicher, ob das so eine gute Idee war und bin jetzt beruhigt zu sehen, dass ich mit den Startschwierigkeiten nicht allein war. Ich habe mich auch anfangs recht fremd gefühlt in der erzählten Welt und kam erst besser rein, als ich mich damit abgefunden habe, (noch) nicht alles verstehen zu können. Nach und nach hat man dann ja doch auch schon einiges über den Aufbau der Gesellschaft, Regeln, Rituale und Traditionen erfahren. Die Sachtexte fand ich dafür sehr spannend und erhellend.
Am besten gefallen hat mir aber der Erzählstein-Text und innerhalb dieser Erzählung der Part, als Nordeule der Spur des Löwen folgt. Ich lese gerne Nature Writing und in dem Abschnitt habe ich mich dann wieder mehr zu Hause gefühlt. Stellenweise hat es mich sehr an „An das Wilde glauben“ erinnert. Nur dass hier ein 8jähriges Kind tagelang allein in der Wildnis unterwegs ist!
Jetzt bin ich auch sehr gespannt, wie es mit Nordeule weitergeht und was wir noch alles über die Kesh und die Kondore erfahren und wie es überhaupt zu all dem gekommen sein wird.
Ich habe zwar schon deutliche Fantasy-Leseerfahrung (bin heimlicher Tolkien-Ultra z.B.), aber von Le Guins Werk kannte ich bis auf einige Essays und Kurzgeschichten auch noch gar nichts. Das mit dem Nature Writing ist ein guter Einwand, es geht ja wirklich ganz viel um Naturbeschreibungen und eben auch die Beziehungen zwischen der Meschen- und der Tierwelt, und das ist dann eben ein guter Anknüpfungspunkt auch für Leute, die mit Fantasy und SciFi bisher noch nicht so viel anfangen konnten. Einer meiner Lieblingsteile aus dem Text war ja die Geschichte von dem Kind, das bei der Koyotin aufwächst; v.a. über das "Haus der Koyotin", das quasi den kompletten von Menschen unbesiedelten Teil des Tals einnimmt, musste ich sehr lachen. Da wird die eigene gewohnte Sichtweise auf die Welt so richtig schön auf den Kopf gestellt!
Ich hatte schon damit gerechnet, dass es etwas schwer sein wird in den Text zu finden, allein von der Art wie der Roman angelegt ist. War aber dann positiv überrascht, wie schnell er mich dann doch bekommen hat, über die coming-of-age Geschichte. Finde es wirklich sehr stark, wie le Guin es schafft uns die Menschen in den verschiedenen Geschichten schnell nahe zu bringen. (Hab erst ein Buch von ihr gelesen, deswegen kenn ich mich noch nich so aus.) Ich hätte auch nich gedacht, dass einige Sachen so witzig sind.
Am besten bis dato hat mir die Kurzgeschichte Dira gefallen, auch wenn ich gerne direkt die Erzählsteingeschichte weitergelesen hätte.
Side note: hab erst kürzlich Der Junge & der Reiher im Kino gesehen & deswegen existieren die Kondore für mich im Kopf jetzt im Ghibli-style 😅
Die sachlichen Abhandlungen sind auch nich so meins, aber der Aufbau des Buchs is da natürlich von Vorteil, weil dann schnell ne Kurzgeschichte oder Gedichte kommen.
Wenn ich vllt etwas zu kritisieren hätte nach der 1. Etappe, wobei es eher an der Erwartungshaltung liegt, dass sich das alles noch nicht so wirklich wie Zukunft anfühlt. Es wurde gesagt, ja, aber so viele Anzeichen, dass es mal eine Katastrophe gab & sie, wie auf dem Buchrücken beschrieben über eine »hochentwickelte Technologie« verfügen, hab ich noch nich gefunden. Aber man darf mich gerne vom Gegenteil überzeugen :)
Das stimmt, von der "Katastrophe" und der ganzen Vorgeschichte hat man in diesem Abschnitt noch nicht so wirklich was mitgekriegt, ich musste mir beim Lesen auch aktiv ins Gedächtnis rufen, dass das Ganze in unserer Welt, genauer in Kalifornien, angesiedelt ist und nicht z.B. auf einem völlig fremden fiktiven Planeten. Ich bin gespannt, ob wir da in den späteren Abschnitten noch etwas mehr erfahren, wie es überhaupt zu diesen neuen Gesellschaftsstrukturen und Lebensweisen der Kesh, Kondore usw. kam.
Hallo. Ich bin quasi besessen von der Frage, wie es zu dem Bruch zwischen unserer Welt und dieser Zukunft kam - befürchte aber, dass es die Autorin weniger interessiert als mich, das zu klären. Habe viel über Worldbuilding in Fantasyromanen nachgedacht und die Art und Weise, wie ich als Leserin da mitgedacht werde - hier besucht mit „Pandora“ zwar eine offenbar fremde Person die Welt, aber woher sie stammt, was ihr Hintergrund ist, scheint mir ungeklärt. In den Gedichten und Geschichten sprechen die Kesh für sich von sich. Aber ihre Welt ist mir sehr fremd (das „indigene“ Gefühl kommt unweigerlich auf aber wird wiederum sehr bedacht in Details dekonstruiert).
Besonders gefallen hat mir die Geschichte des Erzählsteins. Auf diesen Teil trifft ja auch das Wort „Erzählung“ am ehesten zu. Die anderen Teile des ersten Abschnitts fand ich zwar interessant, aber auch wie Magda schreibt, ein bisschen trocken. Ich bin beeindruckt über das Ausmaß der Fantasie der Autorin. Eine Sprache mit Vokabeln und Grammatik, ein ganzer Kosmos, der mich ein bisschen an die indigene Bevölkerung Amerikas denken lässt. Die Lektüre hat mich angestrengt. Ich bin gespannt, ob das so bleibt.
Ich finde es spannend, dass Le Guin bestimmt auch von Tolkien, der ja eines ihrer literarischen Vorbilder war, inspiriert war, was den Umfang ihres Worldbuildings angeht, dass sich die Art der Umsetzung aber sehr stark von Herr der Ringe und co. unterscheidet. Wo Tolkien sehr deutlich von frühmittelalterlichen europäischen Mythen und Kulturen beeinflusst war, geht es bei Le Guin in eine ganz andere Richtung, der Blick auf die Welt, den sie den Kesh andichtet, wirkt viel weniger westlich und dadurch viel weniger vertraut als beispielsweise in den Geschichten aus Mittelerde oder auch Game of Thrones o.ä.
Das es insbesondere an die amerikanische indigene Bevölkerung erinnert, ist glaube ich kein Zufall, denn Le Guins Vater war ja Anthropologe und hat sich in seiner Forschung z.B. intensiv mit dem indigenen kalifornischen Volk der Yana befasst.
„Es ist schwer, mich daran zu erinnern, wie wenig ich wusste. (...) wir müssen lernen, so gut wir können, aber wir müssen uns stets bewusst sein, dass unser Wissen nicht den Kreis vollendet und die Lücke schließt. Denn sonst vergessen wir, dass das, was wir nicht wissen, grenzenlos bleibt, ohne Anfang und Ende, und das, was wir wissen, sein Bekanntsein mit dem teilen muss, was sich versagt.“ S.52
Guten Morgen. Ich lese, weil mich das Leben, der Mensch, die Schöpfung und der Mensch darin und sein Wirken und Ausgeliefertsein und und und ... interessieren, weil ich in Geschichten und Erzählungen an den Erfahrungen anderer teilhaben kann, Erkenntnisse gewinnen kann. „Immer nach Hause“ ist ein fiktiver Roman, wie die Autorin gleich im ersten Satz anmerkt. Die Inhaltsübersicht offenbart, dass uns eine Sammlung von Geschichten, Gedichten, Gesängen vorliegt, die die mögliche Existenz der Protagonisten belegt haben wird. Es menschelt darin, darum folge ich der Autorin gerne und freue mich darauf, mehr über ihre Kesh zu erfahren.
Schönen Sonntag wünscht - Claudia
Das ist ein sehr schönes Zitat, das habe ich mir beim Lesen auch angestrichen!