Wilde Genremixe, lesbische Lyrik und die (unbegründete?) Angst vor Fortsetzungen
Außerdem habe ich mal wieder einem Kunden ein Buch nachgekauft
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es war wieder länger still um diesen Newsletter, Grund dafür waren a) die Hitze der letzten Wochen, bei der ich mich nur schlecht konzentrieren konnte, und, noch ausschlaggebender, b) die leidige Lohnarbeit, denn ich hatte schlicht und ergreifend mit der Vorbereitung verschiedenster (unglaublich aufregender, aber leider noch geheimer) Projekte viel zu viel zu tun, als dass ich nebenher noch einfach nur privat für mich bzw diesen Newsletter zum Lesen und Schreiben gekommen wäre. Daran wird sich auch in der nächsten Zeit nicht so viel ändern, ich versuche aber weiterhin, mindestens einmal im Monat einen neuen Newsletter zu verschicken.
Es gibt einen Roman, den ich lustiger finde als fast alle anderen Bücher, die ich kenne, auch wenn es fällt mir sehr schwer fällt, auszuformulieren, woran genau das liegt. Jetzt ist endlich die Fortsetzung davon erschienen und natürlich hatte ich große Angst, dass sie dem ersten Teil nicht ansatzweise das Wasser reichen kann, habe trotzdem direkt vorher noch mal das erste Buch gelesen und dann gleich im Anschluss daran das neue, und dann seeeehr ereichtert aufgeatmet: nicht nur hat der erste Roman auch nach 4 Jahren einer Relektüre problemlos standgehalten und ich fand ihn immer noch genauso großartig wie beim ersten Mal, auch der zweite Band knüpft sowohl inhaltlich als auch in Sachen Qualität direkt an denVorgänger an. Die Rede ist von Elif Batuman und ihren beiden autobiographischen Romanen The Idiot (2017, dt. Die Idiotin, Ü: Eva Kemper, leider vergriffen) und Either/Or (2022, nicht übersetzt).
Auf Batuman wurde ich erstmals 2016 aufmerksam, als ich in einem Berliner Antiquariat auf ihre Essaysammlung The Possessed: Adventures with Russian Books and the People Who Read Them (dt. Die Besessenen, Ü: Renate Orth-Guttmann, leider momentan wohl nur noch als eBook erhältlich?) stieß. Darin schreibt sie witzig, klug und mit großer literaturwissenschaftlicher Leidenschaft über ihr Studium der russischen Sprache und ihre (akademische) Beschäftigung mit russischen Literaturklassikern und das auf eine Art, die mir Lust macht, mich doch irgendwann noch mal selbst mit diesen ganzen toten alten weißen Männern zu befassen. Vorher hat der Essayband mich aber erstmal sehr neugierig auf Batumans ersten Roman gemacht, den ich 2018 zum ersten Mal gelesen habe. Darin erzählt sie aus der Sicht von Selin, einer 18-jährigen türkisch-amerikanischen Studentin aus New Jersey, die Anfang der 90er Jahre als Freshman (Freshwoman?) in ihr erstes Collegejahr an der Harvard University in Cambridge, Massachussetts startet. Der Roman hat keinen wirklichen Plot, wir folgen Selin einfach durch den Alltag dieses ersten Studienjahres, sitzen mit in ihren Seminaren, lesen ihre (für die sexuell/romantisch völlig unerfahrende Selin) verwirrende E-Mail-Romance mit Ivan, einem ungarischen Mathematikstudenten aus ihrem Russischkurs, reisen mit ihr in ein ungarisches Dorf, in dem sie in den Sommerferien kleinen Kindern Englischunterricht erteilen soll. Selin ist dabei immer eine unglaublich witzige, kluge, oft selbst-ironische und dann hin und wieder ungemein naive Beobachterin, deren trockene Kommentare mich ca. zwei mal pro Seite zum Lachen gebracht haben. Either/Or setzt zeitlich genau da ein, wo The Idiot aufhört, nämlich zu Beginn von Selins zweitem Collegejahr, und auf den ersten Blick wirken Tonfall und Aufbau sehr ähnlich wie im ersten Buch. Allerdings gibt es doch einen subtilen, aber doch im Laufe des Romans immer deutlicher erkennbaren Unterschied zwischen beiden Büchern.
Elif Batuman hat The Idiot veröffentlicht, als sie 39 Jahre alt war, geschrieben hat sie große Teile des Romans bzw. dessen Erstfassung aber bereits mit 23. Die Fortsetzung Either/Or dagegen hat sie erst nach der Veröffentlichung des ersten Bands zu schreiben begonnen, auch wenn der Roman inhaltlich direkt an den Vorgänger anknüpft, ist die Geschichte von Selins zweitem Collegejahr hier nun also aus der Perspektive der inzwischen fast 20 Jahre älteren Autorin erzählt, und das merkt man dem Buch an. Batuman hat sich einiger der häufig gegenüber The Idiot hervorgebrachten Kritikpunkte (u.a. wurde ihr angekreidet, dass Selin in dem Buch jegliches politische, insbesondere feministische, Interesse fehlt) angenommen und mit dem neuen Buch bewusst eine neue Blickrichtung eingeschlagen. In Interviews spricht Batuman darüber, wie sie erst nach dem Erscheinen von The Idiot, nach Trumps Amtsantritt, dem Aufkommen der #MeToo-Bewegung und dem Beginn ihrer eigenen ersten gleichgeschlechtlichen Beziehung nach Jahrzehnten ausschließlich heterosexueller Erfahrungen, selbst langsam anfing zu erkennen, wie sehr ihr Leben und v.a. ihre sexuellen und romantischen Erfahrungen als junge Frau vom Patriarchat und ihrer heteronormativen Sozialisation geprägt und verzerrt waren. Diese späte Erkenntnis macht sich auch auf subtile Weise in Either/Or bemerkbar, welches mir durch diese neue Ebene insgesamt fast noch besser gefallen hat als der erste Roman. Manchmal lösen Sequels eben doch ein, was ihre Vorgänger versprochen haben!
Lustigerweise werde ich mich übrigens in wenigen Wochen wieder in einer ähnlich bangen Situation befinden, wenn nämlich die Fortsetzung zu einem weiteren Buch aus meiner persönlichen “Lustigste Romane”-Liste erscheint. Ich spreche von Andrew Sean Greers fantastischem Roman Less (dt. Mr. Weniger, Ü: Tobias Schnettler), der wohl zu den Büchern gehört, die ich in den letzten Jahren mit Abstand am häufigsten im Ocelot empfohlen habe. Es geht darin um Arthur Less, einen eher mäßig erfolgreichen Schriftsteller in der Midlife-Crisis, der eine Hochzeitseinladung seines wesentlich jüngeren Exfreundes (über den er noch lange nicht hinweg ist) erhält und sich auf keinen Fall die Blöße geben kann, der Feier ohne triftigen Grund fernzubleiben. Eine gute Ausrede muss her, und zwar dringend! Also sagt Arthur kurzerhand alle Einladungen für Lesungen, Gastdozenturen, Konferenzbeiträge usw. zu, die er unter normalen Umständen niemals wahrgenommen hätte, und begibt sich zusammen mit seinem gebrochenen Herzen auf eine unglaublich komische Reise, die ihn u.a. nach New York, Berlin, Mexico City und Kyoto verschlägt… Ich kenne kaum eine liebenswürdigere Romanfigur, und kaum eine, die ich öfter vor Frustration einfach mal so richtig durchschütteln wollte, weil Arthur Less sich das Leben selbst so schwer macht. Wenn ihr noch eine leichte und witzige Urlaubslektüre sucht, sei euch dieser Roman wirklich allerwärmstens ans Herz gelegt! Im September erscheint nun mit Less is Lost (dt. Übersetzung noch nicht angekündigt) ganz unerwartet eine Fortsetzung zu dieser in meinen Augen perfekten romantischen Komödie, und ich bin ein wenig ambivalent, weil ich mir kaum vorstellen kann, dass es nochmal so gut wird wie Band eins, aber verschlingen werde ich sie natürlich trotzdem sofort nach Erscheinen!
In der letzten Folge von "Neues aus dem Regal" (in Kooperation mit 54books) habe ich mit Simon u.a. über Kim de l’Horizons gerade erschienenen Schweizer Debütroman Blutbuch gesprochen. Kim de l’Horizon spürt darin in einem autofiktionalen Brief an Kims an Demenz erkrankte Großmutter der eigenen Familiengeschichte, vor allem der weiblichen Linie, und den in dieser Geschichte verborgenen Traumata, aber auch der eigenen queeren, non-binären Identität nach.
Blutbuch war aber nicht der einzige formal eher ungewöhnlich-experimentelle Roman aus der Perspektive ein*er trans bzw. non-binary Autor*in, den ich in letzter Zeit begeistert gelesen habe. Auch di*er amerikanische Autor*in Megan Milks setzt sich in dem dieses Jahr veröffentlichten Roman Margaret and the Mystery of the Missing Body mit Fragen der Genderidentität, Körperlichkeit und (sexuellem) Begehren auseinander.
Megan Milks’ Roman verwebt spielerisch verschiedene populäre Genres der 90s-Jugendliteratur (u.a. Mädchen-Buchreihen im Stil von The Babysitters Club o.ä., Choose-Your-Own-Adventure-Geschichten und reißerische Anorexieberichte) zu einer queeren Coming-of-Age-Geschichte über Gender, Körper, Sexualität, Freundschaft, Nostalgie und Schmetterlingsmutanten. Margaret, die Hauptfigur des Romans, ist Highschoolschülerin und ziemlich verwirrt. Vor ein paar Jahren war noch alles gut, als Zwölfjährige hat sie zusammen mit ihren drei besten Freundinnen den "Girls Can Solve Anything"-Detektivinnenclub gegründet und viel Spaß beim Lösen von über hundert aufregeden Kriminalfällen gehabt (einmal mussten sie z.B. ihre Biologielehrerin aufhalten, die eine wertvolle, seltene Schmetterlingsart aus dem botanischen Garten geklaut hat, um an sich selbst genmanipulative Experimente mit Schmetterlingsgenen auszuprobieren!). Doch mit Beginn der Highschool hat sich der Club aufgelöst, die Freundschaften sind zerbrochen, und Margaret hat allen Halt im Leben verloren. Sie will nicht erwachsen werden, klinkt sich aus, entwickelt stattdessen eine Essstörung und landet schließlich in einer Klinik, in der nicht nur neue Erkenntnisse über ihre eigene Identität und ihr Begehren, sondern auch neue übersinnliche Geheimnisse auf sie und ihre Mitinsass*innen warten…
An diesem Buch fand ich v.a. spannend, wie durch den wilden Genremix ganz viele unterschiedliche Facetten von (vermeintlicher) "Girlhood" (dafür gibt es irgendwie kein wirklich passendes deutsches Wort, oder?) beleuchtet, aber auch infragegestellt werden. Vor allem die Kapitel im Stil klassischer Mädchen-Detektiv-Reihen ("XY and the Mystery of the Z") waren ziemlich lustig, und für alle Fans von skatologischer Literatur gibt es gegen Ende des Romans auch noch eine freudige dickdarmige Überraschung!
Ihr solltet übrigens dringend alle den neuen Lyrikband Pandoras Playbox von Anna Hetzer lesen, sofern ihr Lyrik mögt und schon immer fandet, dass die griechische Mythologie viel zu patriarchal ist oder euch gefragt habt, wo eigentlich Marias Hebamme in der Heiligen Nacht war, oder einfach Bock auf sehr gute (lesbische) Liebesgedichte habt. Und dann hängt ihr am besten gleich direkt noch die beiden letzten (Achtung: englischen!) Gedichtbände von Fiona Benson dran, die sich (neben anderen Themen, z.B. Insektenliebesgedichten) beide ebenfalls aus weiblich-feministischer Perspektive mit griechischen Mythen befassen: in Vertigo & Ghost zeigt Benson in einem längeren Gedichtzyklus den Göttervater Zeus ganz ungeschönt als den, der er ist — nämlich ein Serial Rapist, der reihenweise Frauen und Mädchen vergewaltigt. Und in Ephemeron, ihrer gerade erschienenen dritten Lyriksammlung, erzählt sie u.a. die Sage vom Minotauros neu, aber aus Sicht von dessen Mutter Pasiphae und Schwester Ariadne. Was "feministische Nacherzählungen" von griechischen Mythen und Sagen in Romanform angeht, bin ich ehrlich gesagt inzwischen ein wenig übersättigt, aber diese lyrischen Neuinterpretationen von Anna Hetzer und Fiona Benson haben es dann doch geschafft, mir nochmal einen neuen, kreativen Blickwinkel auf die altbekannten Stoffe aufzuzeigen.
Zuletzt noch der Hinweis auf ein schmales Bändchen, das ich kürzlich gelesen habe und das ich thematisch für unglaublich aktuell und wichtig halte (und das mich natürlich gleich wieder auf neue Lektürepfade geschickt hat, die mich in den nächsten Wochen und Monaten beschäftigen und selbst wiederum auf neue Abzweigungen leiten werden…) und das ich euch deshalb dringend ans Herz legen möchte — einerseits zur Lektüre, und andererseits nochmal ganz besonders den Verleger*innen unter euch, denn ich glaube, dass dieser Text auch dringend eine deutsche Übersetzung nötig hätte. Ich persönlich könnte es mir beispielsweise als Merve-Bändchen oder auch im August Verlag wunderbar vorstellen!
Aufmerksam geworden bin ich auf So Mayers Essay über "Kunst, Körper und Faschismus", A Nazi Word for a Nazi Thing, durch eine Kund*innenbestellung bei uns im Laden (wie es vergleichsweise häufig vorkommt), denn als ich das Buch neulich morgens aus der Libri-Wanne ausgepackt habe, hat es mich gleich so fasziniert, dass ich es mir unbedingt sofort selbst bestellen musste. Aus der Beschreibung des Verlags:
In an era where identity politics is being weaponised against the very people it has sought to make visible, how can we reclaim complexity?
In 1937 the Nazis staged an exhibition of seized modernist artworks. Named Entartete ‘Kunst’ – Degenerate ‘Art’ – it sought to define degeneracy, display it and destroy it.This act of violent appropriation is one episode in a long and ongoing history of the erasure of queer and non-normative cultures.
A Nazi Word for a Nazi Thing works against this erasure; it is a manifesto – a catalogue for an exhibition that could never take place. Drawing on work from dissident sexologist Magnus Hirschfeld to South African artist Zanele Muholi, as well as a century of queer cinema from Sergei Eisenstein to Pedro Almodóvar, So Mayer creates an archive of resistance.
How might we continue the joyous riot?
So Mayer setzt sich in dem Essay u.a. mit dem Nazi-Konzept der "Entartung" und mit dem von Magnus Hirschfeld gegründeten und von den Nazis zerstörten Berliner Institut für Sexualwissenschaft auseinander:
"Nazism is a grammar of turning descriptions into designations, fixed identities marked permanently on the body. 'Entartet' encapsulates the fascist reduction of the complexity of identification, heritage and lived experience to a stamp: not only because it was used to fix rather than describe, but because it means something indescribable. It was an identity without identity, a denial of the right to self-identify and an assertion of the state's power to identify. 'Entartet' stops the mouth, takes away the words you have for yourself, and then uses them to destroy you. […] 'Entartet', as a label, homogenized biology, psychology and sociology into a simplistic proposition: that those of us being demonized and excluded are our bodies, and – because those bodies are nothing – nothing more. There is a reversal of categories. On the one hand, qualities that had been argued by Hirschfeld as facts of biology are presented as cultural, as in the Nazis' pre-1929 propaganda that claims that queerness and transness are a 'Jewish plot'; on the other, cultural phenomena such as political allegiance and aesthetic practices are defined as biological 'facts' – deviant and pathological – in line with eugenic ideology."
(So Mayer, A Nazi Word for a Nazi Thing)
Mayers Buch hat mich inspiriert, mich endlich ausführlicher mit Magnus Hirschfelds sexualwissenschaftlichen Entdeckungen und allgemein der queeren Szene der Weimarer Zeit auseinanderzusetzen, und wie es der Zufall (=meine Book-Hoarding-Tendenzen) so will, hatte ich mit Robert Beachys Gay Berlin ein Standardwerk zum Thema bereits seit mehreren Jahren ungelesen im Regal stehen. Außerdem ist vor wenigen Wochen erst eine ausführliche (sprich: über 500 Seiten) Geschichte von Hirschfelds Institut bei Suhrkamp erschienen, die ich mir natürlich ebenfalls gleich besorgen musste. Ich bin sehr gespannt!
"When we exclude QUILTBAG narratives and communities from radical and antifa history, we do the Nazis' work for them. Equally, when we characterize persecution as an act consigned to a Nazi past. […] It is easier to treat Nazi ideology and practices as 'entartet' – as outside the set of all sets of human behaviour – than to see them as part of a shared history. Framing Nazi ideology as not just an exception but the exception conforms to the Pathé version of history, the single story that exempts us from complicity. It unfolds time by rendering Nazi fascism as a fixed point that neither extends back through colonial histories nor forward into contemporary authoritarian populism that take their shape from such erasure of historical continuity and memory."
(So Mayer, A Nazi Word for a Nazi Thing)
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich voraussichtlich wieder an einem Mittwoch verschicken, irgendwann im August. Bis dahin findet ihr mich mit buchnahem Content auf Twitter.
Sollte diese Ausgabe nicht in eurem Postfach auftauchen, dann checkt euren Spam-Ordner und fügt ggf. diese Mailadresse eurem Adressbuch hinzu. Grundsätzlich könnt ihr alle alten Ausgaben des Newsletters auch jederzeit im Archiv auf der Substack-Seite nachlesen.
Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda