Von langweiligen Literaturverführern, einem literarischen Erwachen und the one that almost got away
Außerdem: ein persönlicher literarischer Interessenskonflikt und meine Wiederentdeckung des Jahres
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Surprise!
Ich weiß, heute ist gar nicht Mittwoch, sondern Samstag, aber ich kann dieses unglaublich anstrengende Jahr doch nicht einfach still und heimlich ausklingen lassen, ohne mich nochmal bei euch mit einem Update über meine literarischen Streifzüge der letzten Wochen zu melden! (Meine persönlichen Jahreslesehighlights 2022 präsentiere ich euch dann voraussichtlich irgendwann Anfang Januar.)
Danke, dass ihr — einige von euch nun schon fast zwei Jahre — meine sehr subjektiven, manchmal verworrenen Gedanken zu Literatur nach wie vor gerne lest und mir auf meinen oft sehr verschlungenen Lesepfaden so bereitwillig folgt. Eure moralische (und finanzielle!) Unterstützung bedeutet mir wirklich viel!
Habt einen guten Jahreswechsel! <3
In der allerersten Ausgabe dieses Newsletters im Februar 2021 habe ich Lesen als "Pyramid Scheme" bezeichnet, und obwohl ich mir dieser Tatsache vollauf bewusst bin, gibt es ein bestimmtes Genre von Büchern, das mich immer wieder magisch anzieht, obwohl ich schon vor dem Aufschlagen genau weiß, dass sie meine sowieso in drei bis siebzehn Lebenszeiten immer noch kaum zu bewältigenden Leselisten nur noch weiter anschwellen lassen werden: die Rede ist von sog. "Bibliomemoirs", von "Literaturverführern", kurz: von autobiografischen Büchern, in denen (oftmals professionelle) Leser*innen von den prägenden Lektüren ihres Lebens berichten.
"If the books I have read have helped to form me, then probably nobody else who ever lived has read exactly the same books, all the same books and only the same books, as me. So just as my genes and the soul within me make me uniquely me, so I am the unique sum of the books I have read. I am my literary DNA."
(Susan Hill, Howards End is on the Landing)
Mich fasziniert die Frage, wie Leser*innen ihre Lektüren auswählen, wie sie auf bestimmte Bücher kommen, welche manchmal sehr einleuchtenden, manchmal aber auch total überraschenden Assoziationsketten sie von Autor A zu Autorin B und von einem kanonisierten Kultklassiker zu obskuren, längst vergessenen literarischen Schätzen bringen — eine Faszination, die letztendlich auch diesem meinem Newsletter zugrunde liegt.
Einziges Problem bei diesen Bibliomemoirs: die darin abgebildeten Leselisten sind immer nur so interessant wie ihre Autor*innen, und gerade erst habe ich mal wieder ein solches Buch gelesen, das sich in dieser Hinsicht für mich als unglaublich enttäuschend entpuppte.
Eigentlich sollte man meinen, dass ein Buch mit dem Titel Fifty Forgotten Books wie extra für mich geschrieben sei, zumal der Autor R.B. Russell als Verleger der kleinen, unabhängigen, auf die Wiederentdeckung obskurer Horrorliteratur spezialisierten Tartarus Press auf den ersten Blick wie ein Mensch mit einem interessanten Literaturgeschmack wirkt. Aber, oh weh, ein erster Blick insInhaltsverzeichnis ließ nichts Gutes ahnen, denn von den 50 versprochenen "vergessenen Büchern" schienen, wenn ich mich nicht verzählt habe, nur etwa 8 von Frauen geschrieben zu sein — ein Muster, wie es in solchen Lesememoirs männlicher Literaturfreunde leider allzu häufig anzutreffen ist (siehe z.B. auch folgende deutschsprachigen Vertreter dises Genres aus den letzten Jahren: Tobias Blumenbergs Der Lesebegleiter, Michael Maars Die Schlange im Wolfspelz, Janko Ferks Mein Leben, meine Bücher: Erzählung oder Hermann Kurzkes Literatur lesen wie ein Kenner: Eine Handreichung für passionierte Leserinnen und Leser, die allesamt überwiegend — oder sogar ausschließlich — Bücher von männlichen Autoren als persönlich prägend oder überhaupt erwähnenswert zu empfinden scheinen.)
Der Verdacht, dass Russells Buch trotz des vielversprechenden Titels vielleicht eher doch nicht das richtige für mich sei, hat sich dann nach nur wenigen der fünfzig Kapitel bestätigt, denn Russell schafft es nicht, auch nur ein einziges seiner 50 Bücher so zu beschreiben, dass ich irgendwie Lust darauf bekommen habe, sie auf meine Leseliste zu setzen — tatsächlich schreibt er sogar über gefühlt jedes zweite dieser Bücher, dass es ihm bei der Relektüre gar nicht mehr so besonders gut gefallen habe und vielleicht auch nicht unbedingt so besonders empfehlenswert sei… Das Ende vom Lied: Ausnahmsweise ist die Lektüre eines Bibliomemoirs bei mir nicht wieder in ein Schneeballsystem an antiquarischen Bestellungen ausgeartet.
…OK, das ist allerdings nur die halbe Wahrheit! Dennich war von dieser unbefriedigenden Lektüre so frustriert, dass ich mir ein anderes Buch über "vergessene Bücher" noch einmal vorgenomme habe, das ich vor knapp fünf Jahren schon einmal gelesen hatte, nämlich Christopher Fowlers The Book of Forgotten Authors, in dem dieser 99 Schriftsteller*innen (die meisten englischsprachig) vorstellt, die früher mal sehr erfolgreich waren, heutzutage aber kaum mehr bekannt und deren Werke teilweise komplett vergriffen sind. Und beim Lesen ist etwas interessantes passiert: ich habe mir diesmal ganz andere Bücher aus Fowlers Kompendium herausgeschrieben und/oder antiquarisch bestellt als bei meiner ersten Lektüre im Januar 2018! Manche Bücher, die damals für mich eher langweilig und daher nicht von Interesse klangen, kamen mir diesmal wie etwas vor, das ich unbedingt und möglichst selber lesen muss. Spannend, wie sehr sich Interessen und Vorlieben manchmal innerhalb nur weniger Jahre verschieben können!
Ein paar andere solche bibliophilen Memoirs, die ich in der Vergangenheit mit großem Gewinn gelesen habe, möchte ich an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen:
Obwohl ebenfalls sehr männerlastig — schließlich geht es um "die großen Erzähler von 1800 bis 1930" — hat mir Rolf Vollmanns monumentaler "Roman-Verführer" Die wunderbaren Falschmünzer großes Vergnügen bereitet (ohne dass ich all die über tausend erwähnten Romane unbedingt selbst lesen möchte), was hauptsächlich dem sympathisch-witzige Stil des Autors geschuldet ist.
Helene Hanffs warmherziger bibliophiler Briefroman 84, Charing Cross Road über die lebenslange Brieffreundschaft einer bücherliebenden New Yorkerin zum Mitarbeiter eines kleinen Londoner Antiquariats ist völlig zurecht ein moderner Klassiker des Bibliomemoir-Genres.
Ruth Klüger verehre ich, seit ich als Jugendliche erstmals ihr autobiographisches Buch weiter leben gelesen habe, und auch ihr persönlicher Kanon in Was Frauen schreiben hat mich sehr inspiriert.
Susan Hill beschließt in Howards End is on the Landing, ein Jahr lang nur die Bücher (wieder) zu lesen, die bereits bei ihr zuhause in den Regalen stehen, und entdeckt dabei alte und neue Lieblinge wieder oder neu.
Auch Phyllis Rose hat sich selbst in The Shelf: From LEQ to LES: Adventures in Extreme Reading eine ganz besondere Aufgabe gesetzt: sie möchte ein komplettes, willkürlich ausgewähltes Regalbrett aus ihrer örtlichen Bibliothek in alphabetischer Reihenfolge lesen, "fairly sure that no one in the history of the world has read exactly this series of novels."
Mit Lennie Goodings’ A Bite of the Apple und Diana Athills Stet blicken zwei Grand Dames des englischen Verlagswesens auf unterhaltsame und inspirierende Art auf ihre Karrieren als Verlegerinnen bzw. Lektorinnen und die Bücher, denen sie in dieser Zeit auf die Welt geholfen haben, zurück.
Eine etwas andere Perspektive auf Bücher und das Publishing Business nimmt Louise Willder in ihrem kürzlich erschienenen Buch Blurb Your Enthusiasm ein: Willder ist seit vielen Jahren als Copy Writerin für u.a. Penguin tätig und hat in dieser Zeit über 5000 Klappentexte für Bücher aus den unterschiedlichsten Genres verfasst. Ihr informatives und unterhaltsames Buch verrät alles darüber, was eine gelungene Verpackung eines Buches ausmacht, von Titel und Cover über Beschreibungstexte bis hin zu Blurbs und Rezensionszitaten — in vielerlei Hinsicht war ihr Buch für mich als Literaturvermittlerin ziemlich augenöffnend!
(Wo ich so auf diese Liste meiner liebsten Bücher über Bücher blicke, fällt mir unangenehm auf, dass ich zwar anderen Autoren die Männerlastigkeit ihrer Buchauswahl angekreidet habe, selbst aber hier nur Bücher von weißen, westlichen Autor*innen aufgelistet habe. Was sicher einerseits auf ein Ungleichgewicht auf dem Buchmarkt hindeutet: weiße Autor*innen bekommen bestimmt leichter einen Book Deal für so ein persönliches Bibliomemoir als Autor*innen of Colour. Was aber nicht heißt, dass es diese Bücher grundsätzlich von nicht-weißen/nicht-westlichen Autor*innen nicht gibt. Ich werde danach Auschau halten und nehme auch entsprechende Empfehlungen von euch gerne entgegen!)
Zwei Wölfe leben in meinem Herzen, in der Form von zwei auf den ersten Blick diametral entgegengesetzten Interessensgebieten, von denen beiden ich aber literarisch betrachtet einfach nicht genug bekommen kann.
Schon seit vielen Jahren hat mich eine unglaubliche Faszination für Okkultismus, Hexen, Wicca, geheime Mysterienkulte und allgemein alles, was irgendwie mit Magie usw. zu tun hat, fest im Griff. Wenn ein neues (akademisches, kulturwissenschaftliches, geschichtliches) Buch zu diesem Themenfeld erscheint, muss ich es mir sofort besorgen, und Ronald Huttons brillantes Buch The Triumph of the Moon über die Geschichte von Wicca und anderen neopaganistischen Hexenreligionen gehört seit langem zu meinen all-time favorite Sachbüchern. Ich liebe außerdem ganz allgemein Folk Horror als literarisches/filmisches Genre sehr und auch Romanen, in denen Séancen vorkommen, ist meine sofortige Aufmerksamkeit gewiss.
Dann ist da aber noch dieser andere Wolf, der dafür sorgt, dass ich trotz (oder vielleicht wegen?) dieser Faszination für und Obsession mit okkulten Themen unglaublich skeptisch gegenüber jeder Form von Esoterik, New Age-Spiritualität usw. bin und die rasend schnelle Verbreitung von sog. Conspirituality (der Anschlussfähigkeit von weiten Kreisen der (New Age)-Spiritualität an Verschwörungsglauben, völkisches Denken und faschistoide Ideologien) als unglaublich gefährlich und deshalb beängstigend empfinde.
Gleichzeitig liebe ich auch den wohligen Grusel (und das Überlegenheitsgefühl?), der sich beim Lesen (oder TV-Doku-Gucken) über esoterische Quacksalber*innen usw. einstellt. Man könnte fast vermuten, das Konsumieren von Büchern über sog. "braune Esoterik" etc. bedient für mich dieselbe Sensationsgier, die für andere von True Crime-Formaten gestillt wird!? Gleichzeitig ist die Aufklärung über die "gefährlichen Weltbilder in alternativen Milieus" und die "radikale Gedankenwelt der Esoterik", um die Untertitel zweier meiner aktuellsten Lektüren in diesem Bereich zu zitieren, in meinen Augen gerade in Zeiten von Querdenker- und Reichsbürgertum, QAnon-Verschwörer*innen und der rasanten Zunahme völkischer Siedlungsprojekte wie der aus Russland zu uns rübergeschwappten Anastasia-Bewegung enorm wichtig, und deshalb möchte ich euch sowohl das neue Buch des Rechtsextremismusexperten Andreas Speit, Verqueres Denken, als auch das dritte gemeinsame Buch der Psychologin Pia Lamberty und der Publizistin Katharina Nocun, die sich beide seit Jahren mit den Themen Verschwörungserzählungen und Desinformation befassen, Gefährlicher Glaube, wärmstens empfehlen. Beide öffnen die Augen für das große Gefahrenpotenzial vermeintlich harmloser esoterischer Spinnereien (auch wenn ich mir bei dem Buch von Speit definitiv ein sorgfältigeres Korrektorat gewünscht hätte).
Bei mir zuhause wuchern die Bücherstapel nur so aus dem Boden, gefühlt jeden zweiten Tag nehme ich neue Medimops-Pakete entgegen oder schleppe neue Einkäufe und Leseexemplare aus der Arbeit mit nach Hause. Weil ich nämlich einerseits erstmal völlig unrealistisch und in keinerlei Zusammenhang mit meinen tatsächlichen Kapazitäten stehend alle Neuerscheinungen, die irgendwie interessant klingen, als Leseexemplar anfrage und horte (2023 muss wirklich das Jahr werden, in dem ich das endlich mal etwas realistischer einschätze!), und weil sich andererseits inzwischen auch bei den Verlagen langsam herumgesprochen hat, dass "Wiederentdeckungen" und Erstübersetzungen vergessener Autorinnen sowas wie mein Spezialgebiet sind und ich deshalb auch viele Leseexempalre aus diesem Bereich unverlangt oder zumidnest auf deren Vorschlag hin zugeschickt bekomme (das ist keine Beschwerde, please don’t stop!). Und dann stapeln sich diese Bücher hier, klingen weiterhin alle unglaublich interessant, aber dann trudeln unweigerlich neue Projekte und Verpflichtungen und Obsessionen ein und die Stapel wachsen und wuchern und manche der weiter unten liegenden Bücher geraten dann doch schnell wieder in Vergessenheit, weil ich einfach nicht hinterherkomme und dann ja schon wieder die Frühjahrsvorschauen erscheinen und und und. Das ist alles unglaublich schade und frustrierend, aber auch nicht zu ändern, denn der Buchmarkt ist einfach viel zu schnellebig und es gibt viel zu viele spannende Neuerscheinungen da draußen und es ist einfach menschenunmöglich, dabei vollständig up to date zu bleiben.
Worauf ich aber eigentlich hinaus will: wegen akuter Lesestapelüberforderung hätte ich beinahe ein kürzlich erschienenes Buch übersehen (AKA in ein paar Monaten ungelesen aussortiert, um Platz für die neuen Leseexemplare aus dem Frühjahrsprogramm zu machen), das sich nun völlig überraschend als eines meiner persönlichen Jahreshightlights entpuppt hat.
Zu verdanken habe ich diesen Fund meiner Freundin, der freien Journalistin und Lektorin Isabella Caldart, die vor etwas über einer Woche ein TikTok bzw. Instagram-Reel aufgenommen hat zu einem Buch, das ihrer Meinung nach in diesem Literaturherbst völlig zu Unrecht leider ziemlich untergegangen ist:
Weil die Frankfurter Verlagsanstalt (hi Anne!) mir die deutsche Erstübersetzung von Bel Kaufmans 60er-Jahre-Bestseller Die Abwärtstreppe rauf (orig. Up the Down Staircase, Ü: Alexandra Berlina) vor einiger Zeit ebenfalls zugeschickt hatte, wollte ich nach Isis Video eigentlich nur mal kurz in das Buch reinlesen, kam nur wenige Minuten später aus dem Lachen gar nicht mehr raus — und habe die über 400 Seiten letztlich in gerade mal zwei Tagen verschlungen!
Leute, was für ein großartiges, witziges, herzzerreißendes und -erwärmendes Buch das ist! Bel Kaufman wurde 1911 in Berlin in eine aus der heutigen Ukraine stammende jüdische Familie geboren, die 1914 zurück nach Odessa zog. Kaufman, der als Enkeltochter des berühmten jiddischen Schriftstellers Scholem Aleichem (verfasste mit Tewje, der Milchmann die Romanvorlage zum berühmten Musical Anatevka/Fiddler on the Roof) die Schriftstellerei quasi in die Wiege gelegt wurde, veröffentlichte mit nur sieben Jahren ihr erstes Gedicht in einer Zeitung. 1922 emigrierte Kaufmans Familie in die USA, wo Kaufman, die zunächst kein Englisch sprach, später am Hunter College und der Columbia University studierte und dann als Lehrerin arbeitete. Ihre Erfahrungen an New Yorker High Schools verarbeite sie schließlich in ihrem 1964 erschienenen Roman über die junge, motivierte Sylvia Barrett, die eine Stelle als Aushilfslehrerin an der Calvin Coolidge High School, einer fiktiven "Brennpunktschule" in einem "schwierigen" Stadtteil von New York, antritt. Obwohl ihre pädagogischen Bemühungen nicht nur vom heruntergekommenen Zustand der Schule und der Aufmüpfigkeit ihrer Schüler*innen, sondern vor allem auch von zahlreichen verworrenen schulbürokratischen Regeln erschwert werden, stellt sich Sylvia der Herausforderung, das Leben ihrer Schützlinge zumindest im Kleinen zum Besseren zu wenden. Was vielleicht auf den ersten Blick als Romanthema nicht sonderlich originell klingt (siehe z.B. bekannte Filmklassiker wie To Sir with Love, Dangerous Minds, Freedom Writers oder neuerdigns auch die sehr gute Comedy-Serie Abbott Elementary), besticht unabhängig vom Inhalt vor allem durch seine (für damalige Zeiten) innovative Form — der Roman wird nicht als linearer fortlaufender Erzähltext, sondern anhand einer wilden Zusammenstellung von aus Memos des Schulleiters, Briefen, Aufsätzen von Schüler*innen, Protokollen von Lehrkonferenzen etc. erzählt — und traf damit bei seinem Erscheinen in den 60ern offensichtlich einen Nerv: das Buch verkaufte sich bis heute über 8 Millionen Mal, wurde von Warner Brothers verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Durch diesen unglaublichen Erfolg ihres Romans wurde Kaufman schließlich zur Bildungsaktivistin und -beraterin. Noch als Hundertjährige leitete sie 2011 am Hunter College ein Seminar über den "jüdischen Humor" und ging bis zu ihrem Tod im Alter von 103 Jahren wöchentlich tanzen!
Was für ein Geschenk, dass Kaufmans wunderbarer Roman nun endlich auch auf Deutsch vorliegt, in einer meiner Meinung nach wirklich sehr gelungenen Übersetzung von Alexandra Berlina, die auch ein Nachwort beigesteuert hat (das Buch enthält außerdem ein Nachwort von Bel Kaufman selbst aus dem Jahr 2012, in welchem sie die Entstehungsgeschichte ihres Romans und die Folgen seiner Veröffentlichung nachzeichnet). Und was für ein Verlust wäre das gewesen, wenn dieses Buch weiterhin zwischen meinen vielen Bücherstapeln ungelesen versauert wäre!
Von der aus Louisiana stammenden amerikanischen Schriftstellerin Kate Chopin habe ich erstmals zu Schulzeiten gehört, als wir ihre großartige Kurzgeschichte The Story of an Hour im Englischunterricht in der Oberstufe lasen (die Erzählung ist übrigens auch in der großartigen von Sandra Kegel herausgegebenen Anthologie Prosaische Passionen. Die weibliche Moderne in 101 Short Stories vertreten). Diese Kurzgeschichte hat mich damals genug beeindruckt, dass ich mir kurze Zeit später antiquarisch eine Ausgabe von Chopins bekanntestem Text, dem Kurzroman The Awakening (dt. Das Erwachen, es sind zwei verschiedene Übersetzungen lieferbar, nämlich in der von Barbara Becker et al., neu bearbeitet von Karen Nölle und Christine Gräbe, und in der von Ingrid Rein), besorgte — und seither, also seit ungefähr 14 Jahren, ungelesen in meinem Regal stehen ließ. Ich hatte es zwar immer als frühen feministischen Romanklassiker irgendwie diffus auf dem Schirm, aber lange Zeit hat mir der letzte Schubser gefehlt, um nicht nur ständig Texte ÜBER das Buch, sondern endlich das Buch selbst zu lesen.
Diesen Schubser bekam ich letzte Woche in Form einer neuen Folge des sehr guten englischen Literaturpodcasts Backlisted, den ich — eher unregelmäßig — ab und zu höre.
Diese Kate Chopin und ihrem Roman gewidmete Folge hat mich dann doch so neugierig gemacht, dass ich noch am selben Tag das Buch aus meinem Regal hervorkramte und innerhalb weniger Stunden verschlang. Denn wow, wie Chopin das Innenleben der jungen Ehefrau eines wohlhabenden Creolen Edna Pontellier schildert, die eines Sommers eine plötzliche emotionale, sexuelle und spirituelle Erweckung erlebt, hat mich umgehauen und ich könnte mich einerseits ohrfeigen dafür, dass ich das jetzt erst endlich mal gelesen habe, andererseits war es vielleicht auch genau der richtge Zeitpunkt für mich und ich hätte das Buch als knapp 18jährige Schülerin überhaupt nicht so wertschätzen können wie jetzt, wer weiß… So oder so habe ich meinem persönlichen weiblichen Kanon nun eine weitere Schriftstellerin hinzugefügt, und ich möchte, nein ich muss jetzt dringend noch mehr von Kate Chopin lesen!
Um gleich bei amerikanischer Südstaatenliteratur zu bleiben: meine zweite liebste Wiederentdeckung des Jahres neben Bel Kaufman ist ganz klar der 2020 verstorbene afroamerikanische Autor Randall Kenan. Kenan (1963-2020) war ein schwuler Schwarzer Autor aus dem Süden der USA, der als Verlagslektor u.a. den Nachlass von James Baldwin betreut hat. Neben zwei Kurzgeschichtenbänden, verschiedenen Essays und einem Sachbuch über Schwarze Amerikaner*innen zur Zeit um die Jahrtausendwende hat er mit A Visitation of Spirits 1989 auch seinen einzigen Roman veröffentlicht. Dieser Coming-of-Age-Roman (mit einem Hauch von magischem Realismus) über einen schwulen Schwarzen Teenager, der in den 80ern Jahren an den äußeren Zwängen seiner Baptistengemeinde im Süden der USA zu zerbrechen droht (und dessen magisches Ritual, mit dessen Hilfe er sich in einen Vogel verandeln will, gehörig schief geht), ist, über 30 Jahre nach seiner ursprünglichen Veröffentlichung, gerade unter dem Titel Der Einfall der Geister in der sehr gelungenen deutschen Erstübersetzung von Eva Bonné und Aminata Cissé im Suhrkamp Verlag erschienen.
Dieser Roman hat mich so beeindruckt, dass ich mir sofort auch Kenans zwei Kurzgeschichtensammlungen Let the Dead Bury Their Dead und If I had Two Wings gekauft habe, die beide — genau wie schon sein Roman — in der fiktiven Südstaatenstadt Tims Creek in North Carolina spielen. Die Erzählungen darin rationiere ich mir aber momentan recht streng, denn außer diesen beiden Büchern und dem Roman hat Kenan sonst nur noch zwei Sachbücher veröffentlicht und ich möchte noch nicht an eine Welt denken, in der ich keine neuen Texte von ihm mehr zu entdecken habe!
An zwei andere Romane musste ich beim Lesen von Kenans Buch übrigens immer wieder denken: zum einen an Jesmyn Wards Sing, Unburied, Sing (dt. Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt, Ü: Ulrike Becker, anscheinend nur noch als eBook erhältlich?), der die Traumata einer Schwarzen Südstaatenfamilie ebenfalls anhand einer Geistergeschichte erzählt, und andererseits an James Baldwins autobiografisch inspirierten Klassiker Go Tell It On The Mountain (dt. Von dieser Welt, Ü: Miriam Mandelkow), der ebenfalls von einem mit seiner Sexualität kämpfenden Jugendlichen aus einer Baptistengemeinde handelt.
Überhaupt ist das ein ziemlich erfreulicher Trend in der deutschsprachigen Verlagslandschaft, dass in den letzten Jahren so viele Klassiker*innen der afroamerikanischen Literatur deutschsprachige Neu- bzw. Erstübersetzungen erfahren haben. Ich versuche mich mal an einer möglichst vollständigen Liste dieser Autor*innen und Werke, die deutschsprachigen Leser*innen so zugänglich gemacht wurden. Gelesen habe ich selbst erst ungefähr die Hälfte davon, den Rest möchte ich aber dringend bald noch nachholen:
James Baldwin, Giovannis Zimmer
James Baldwin, Ein anderes Land
James Baldwin, Beale Street Blues
Maya Angelou, Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt (+ Folgebände)
Audre Lorde, Zami. Eine neue Schreibweise meines Namens
Octavia Butler, Kindred
Octavia Buter, Wilde Saat
Octavia Butler, Die Parabel vom Sämann
Ann Petry, The Street
Ann Petry, Country Place
Ann Petry, The Narrows
Nella Larsen, Seitenwechsel
Wallace Thurman, The Blacker the Berry
Claude Mackay, Banana Bottom
Gloria Naylor, Die Frauen von Brewster Place
Gloria Naylor, Linden Hills
Gloria Naylor, Mama Day (erscheint im Frühjahr)
Dorothy West, Die Hochzeit
Richard Wright, Sohn dieses Landes
Ralph Ellison, Der unsichtbare Mann
Gayl Jones, Corregidora
Zora Neale Hurston, Vor ihren Augen sahen sie Gott
Kathleen Collins, Nur einmal
Fran Ross, Oreo
Alice Walker, Die Farbe Lila
William Melvin Kelley, Ein anderer Takt
William Melvin Kelley, Ein Tropfen Geduld
Ganz besonders freue ich mich außerdem, dass der Manesse Verlag im kommenden Frühjahrsprogramm die deutsche Erstübersetzung von Maud Martha (Ü: Andrea Ott), dem einzigen Roman der Dichterin Gwendolyn Brooks, herausbringen wird. Ich habe das Buch letztes Jahr im Original gelesen und war völlig hin und weg.
Zum Abschluss dieser Newsletterausgabe möchte ich nochmal an ein Projekt erinnern, das mir ganz besonders am Herzen liegt und das am 15. Januar offiziell losgeht: mein digitaler Lesekreis #HellemyrLesen zu Amalie Skrams Roman-Tetralogie Die Leute vom Hellemyr:
Ich würde mich sehr freuen, wenn der eine oder die andere von euch daran teilnimmt und sich gemeinsam mit mir auf eine literarische Reise ins Norwegen des 19. Jahrhunderts begibt!
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich irgendwann Anfang Januar verschicken und euch darin wie versprochen meine Lieblingsbücher des vergangenen Jahres präsentieren. Bis dahin findet ihr mich mit buchnahem Content auf Twitter (solange es noch funktioniert) und (sobald ich die Muße hatte, mich genauer damit auseinanderzusetzen) auf Mastodon.
Sollte diese Ausgabe nicht in eurem Postfach auftauchen, dann checkt euren Spam-Ordner und fügt ggf. diese Mailadresse eurem Adressbuch hinzu. Grundsätzlich könnt ihr alle alten Ausgaben des Newsletters auch jederzeit im Archiv auf der Substack-Seite nachlesen.
Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda
Es ist wohl linkisch von mir, es hier zu schreiben, aber ich kann nicht anders: Dieses Buch zu übersetzen war so ein Herzensprojekt, und ich fand es so schade, dass die Rezensionen ausblieben -- nun hat mir eine Freundin einen Link geschickt; so ein Geschenk zum Jahresende, danke!
Vielen Dank für den tollen und so umfangreichen Newsletter! Die Lektüre hat mein Jahr 2022 sehr bereichert!