Von Irrtümern über Krimis, Mundartlyrik, Kindheitserinnerungen und dem Buch der Stunde
und einer Romanfigur, die meinen Namen ausgeliehen hat.
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Ihr Lieben,
dass ich eigentlich nicht so gerne Krimis lese, habe ich ja schon das ein oder andere Mal erwähnt. Das hat auf keinen Fall etwas mit einer grundsätzlichen Abneigung meinerseits gegenüber Genre-Literatur zu tun, sondern eher mit einem Mangel an Zeit und Energie, um mich in dieses bestimmte Genre, an dessen gängigsten (modernen) Konventionen mich vieles sehr stört, genauer einzufuchsen. Mir ist durchaus bewusst, dass es hier, wie in jedem Genre, natürlich durchaus auch zahlreiche Autor*innen gibt, die sich mit eben diesen problematischen Konventionen kritisch auseinandersetzen (und ja, ich weiß, ich muss wirklich drignend endlich mal was von der tollen Simone Buchholz lesen!), aber die Aufklärung von Verbrechen als Thema interessiert mich einfach zu wenig, als dass ich bereit wäre, von meiner eh schon viel zu knappen Lesezeit etwas abzuzwacken, um mich wirklich eingehender mit Krimis zu beschäftigen.
ABER — ich denke ihr ahntet, dass das kommt — manchmal mache ich Ausnahmen. Letztes Wochenende habe ich z.B. den neuen Krimi aus der Danowski-Reihe von meinem Freund Till Raether (Disclaimer: ja, es folgt jetzt schamloses Plugging eines Buches, mit dessen Autor ich persönlich befreundet bin, aber das ist hier mein persönlicher, privater Newsletter und kein Feuilleton — wo sowas übrigens auch immer wieder vorkommt, nur halt ohne entsprechenden Disclaimer — und überhaupt, was kann ich dafür, wenn meine Freund*innen so talentierte Autor*innen sind???) gelesen. Und zwar zunächst mal aus einem komplett egozentrischen Grund:
Ja, ihr habt richtig gelesen. In Danowski: Hausbruch kommt eine Therapeutin vor, die so heißt wie ich, und dass sich ausgerechnet eine Figur in so einem tollen Buch meinen Namen geborgt hat, ist so ungefähr das schönste literarische Geschenk, das ich dieses Jahr bekommen habe! Und dass ich das Buch toll fand, lag nicht nur an Frau Birkmann, sondern hauptsächlich daran, dass man ihm anmerkt, dass sich da ein Autor sehr viele Gedanken darüber gemacht hat, wie er sich von den oben erwähnten problematischen Genrekonventionen freischreiben kann. Was genau ihm dabei durch den Kopf ging und welchen Irrtümern über Krimis(chreiben) er früher aufgesessen ist, hat Till übrigens vorgestern auch in einem spannenden Text für 54books genauer ausgeführt.
Irrtum 1: Das Genre Kriminalroman enthebt mich als Autor von der Verantwortung, mich mit der Realität des von mir benutzten Materials auseinanderzusetzen, weil Genre sich aus Fiktionalitäts-Markern zusammensetzt.
Irrtum 2: Polizei ist cool.
Diese Irrtümer nicht nur als solche zu erkennen, sondern auch zu korrigieren, ist ein langwieriger, bestimmt nicht imer einfacher Prozess, auf dem ich Till und seinen Kommissar Adam Danowski in Zukunft gerne weiter als Leserin begleiten möchte.
Nicht nur in der letzten Ausgabe dieses Newsletters, sondern auch auf Twitter und in diversen DM-Chats habe ich kürzlich von meiner Entdeckung der österreichischen Lyrikerin Elfriede Haslehner geschwärmt, die — darum ging es im letzten NL noch gar nicht — u.a. auch für ihre Dialekt- bzw. Mundartlyrik bekannt ist. Ich bin ja, was Lyrik angeht, eh nicht besonders belesen, und mit Dialektlyrik hatte ich mich bisher erst recht noch nicht befasst. Aber wie das in der literaturaffinen Twitterbubble halt immer so läuft, hat mich mein Twitterfreund Daniel dann, nachdem ich einige Haslehnertexte geteilt hatte, sehr schnell auch auf die Dialektgedichte von der von mir bisher hauptsächlich wegen ihrer Kinderbücher sehr verehrten Christine Nöstlinger hingewiesen:
Es dürfte für niemanden hier eine große Überraschung sein, dass ich sofort zum antiquarischen Großhändler meines Vertrauens stürzte, um mir ein Exemplar von Iba de gaunz oaman Fraun (1982, leider vergriffen) zu sichern. Nöstlinger erzählt darin im Wiener Dialekt "vom Leben der Frauen jenseits von Wiener Gemütlichkeit und lustvoll-humoriger Sozialpornografie von Schicksalen, die nachdenklich stimmen", und dabei geht es wütend, laut, feministisch und auch sehr witzig zu. Noch am selben Abend, an dem ich es aus dem Briefkasten fischte, habe ich es begeistert verschlungen und mich auch direkt in einem der enthaltenen Gedichte wiedererkannt:
Jedenfalls bin ich froh, Nöstlinger jetzt auch jenseits meines geliebten Gretchen Sackmeiers kennengelernt zu haben und finde, ihr solltet das auch tun, wenn sich die Gelegenheit ergibt!
Als ich im August im (verregneten Lese-)Urlaub in der Uckermark war, habe ich den vor ein paar Jahren erschienenen Roman Verschüttete Milch der österreichischen Schriftstellerin Barbara Frischmuth gelesen. Darin blickt die (autobiographisch inspirierte) erwachsene Erzählerin Juliane beim Betrachten alter Fotos auf ihre in Altaussee in der Steiermark verbrachte Kindheit während und nach dem 2. Weltkrieg zurück, vom Kleinkind- bis ins Teenageralter.
Der Ort im Gebirge, der hauptsächlich vom Salzabbau und Sommerfrischlern lebt (Juliane wächst im von ihren Eltern betriebenen Hotel auf), scheint abgelegen und idyllisch zu sein, doch auch vor ihm macht das Weltgeschehen, auf das die kleine Juliane sich einen Reim zu machen versucht, nicht Halt. Mir haben besonders die charmante Art, wie Barbara Frischmuth Dialektformen in ihren Roman einbaut, und die Art und Weise, wie sie die kindlich-naive Perspektive der Kleinen mit dem nachträglich verstehenden bzw. verstehen wollenden Blick der erwachsenen Juliane verknüpft, gefallen. Beim Lesen musste ich außerdem immer wieder an die Kindheitserzählungen anderer Autorinnen denken, die ich in den letzten Jahren begeistert und fasziniert gelesen habe (zwei davon ebenfalls Österreicherinnen):
Marlen Haushofer, eine meiner absoluten Lieblingsautorinnen, hat sich dem Thema Kindheit gleich zweimal gewidmet, nämlich sowohl in ihrer Novelle Das fünfte Jahr als auch in einem späteren Roman. Erstere folgt einem Jahr im Leben der vierjährigen Marili, die bei ihren Großeltern in den Bergen aufwächst und in deren idyllisches Landleben sich immer wieder furchteinflößende Dinge einschleichen. Auch der Roman Himmel, der nirgendwo endet, der stark autobiographisch gefärbt ist, beschreibt die Welt aus der von magischem Denken geprägten Sicht eines kleinen Kindes, nämlich der kleinen Meta, die in diesem Fall in einem Forsthaus aufwächst. Beide Protagonistinnen versuchen, die komplizierten Regeln und Gesetze der Erwachsenenwelt zu verstehen und "Ordnung in das Durcheinander der Eindrücke und Ereignisse zu bringen".
Vorletztes Jahr habe ich die österreichische Schriftstellerin Brigitte Schwaiger für mich entdeckt, nachdem mich ein Twitterfreund bei einem gemeinsamen Antiquariatsbesuch dazu drängte, ihren Debütroman Wie kommt das Salz ins Meer? zu kaufen. Ich las ihn, war absolut hin und weg und weil inzwischen leider fast alles von ihr vergriffen ist (mir völlig unverständlich, sie hat dringend Neuauflagen verdient!), habe ich dann irgendwann eine antiquarische Großbestellung aufgegeben und mir quasi ihr (ziemlich umfangreiches) Gesamtwerk besorgt und jetzt lese mich jetzt nach und nach mit großer Begeisterung durch diesen Stapel. Besonders fasziniert hat mich dabei zuletzt Der Himmel ist süß. Eine Beichte (1984, leider vergriffen), das aus kindlicher Perspektive Schwaigers Aufwachsen in einem frommen, katholischen Milieu des Nachkriegsösterreichs mit all seinen Widersprüchen und (leider) auch Traumata schildert.
In dem kürzlich im Aviva Verlag erschienenen Band mit gesammelten Prosatexten der 1876 geborenen Autorin Margarete Beutler, Ich träumte ich hätte einen Wetterhahn geheiratet, sind auch zwei Handvoll kurzer, miteinander verknüpfter Erzählungen enthalten, die, ganz ähnlich wie bei Haushofer und Co., das Aufwachsen bei den Großeltern aus der Sicht eines fantasiebegabten, unangepassten, von den Erwachsenen oft unverstandenen Kindes schildern. Im Juli habe ich im Instgram-Livestream von 54books mit Simon Sahner ausführlicher über das Buch gesprochen.
Keine Kindheit auf dem Lande oder im Gebirge, sondern ein Aufwachsen im Exil, ständig unterwegs, ohne Heimat und ohne das Gefühl von Angekommensein, beschreibt Irmgard Keun aus der Sicht der zehnjährigen Kully in ihrem Roman Kind aller Länder. Aber auch wenn die äußeren Umstände sich von denen in den Werken Frischmuths, Haushofers, etc. deutlich unterscheiden, ist der kindlich-naive und doch unglaublich aufmerksame und komische Blick der jungen Ich-Erzählerin doch ein ähnlicher.
Zuletzt möchte ich einen englischsprachigen Klassiker nicht unerwähnt lassen, nämlich Flora Thompsons autobiographische Romantrilogie Lark Rise to Candleford, die das Aufwachsen unter ärmlichen Bedingungen der jungen Laura Timmins in einem Dorf in Oxfordshire gegen Ende des 19. Jahrhunderts schildert.
Fallen euch noch weitere ähnliche Kindheitserzählungen ein, die ich hier vergessen habe?
Wer sich wie ich intensiv mit dem Wiederentdecken und Neubewerten von in Vergessenheit geratenen oder vernachlässigten Autorinnen beschäftigt, kommt seit einigen Jahren am Blog von Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Nicole Seifert nicht vorbei. Als wäre es nicht genug, auf diesem Gebiet mit ihren Blogbeiträgen zur absoluten Pflichtlektüre zu zählen, hat Nicole jetzt aber noch eins draufgesetzt und ein absolut wegweisendes Buch zum Thema geschrieben, das letzte Woche erschienen ist. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich FRAUEN LITERATUR: Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft eindeutig für das wichtigste Buch des Jahres halte. Jede*r, der*die sich beruflich oder privat mit Literatur befasst, sollte es dringend lesen!
Schon als Nicole mir zum ersten Mal von ihrem groben Plan zu diesem Buch erzählt hat (Januar 2020), haben wir darüber gesprochen, dass die Buchpremiere dann unbedingt im Ocelot stattfinden soll, und nun, über 1,5 Jahre später, ist es endlich so weit: morgen Abend um 20 Uhr feiern wir zusammen das Erscheinen von diesem großartigen Buch, und auch wenn die Veranstaltung vor Ort — wenig überraschend — bereits komplett ausverkauft ist, könnt Ihr alle trotzdem per Instagram-Livestream auf dem Ocelot-Kanal live dabei sein. Wir freuen uns auf euch!
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich wieder an einem Mittwoch verschicken, vermutlich in zwei Wochen, vielleicht auch schon in einer oder erst in drei. Bis dahin findet ihr mich wie immer mit buchnahem Content auf Twitter.
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Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda