Von Eisvögeln, Bären, Wunderheilern, Müdigkeit und mehr
Irgendwie ist gerade alles gleichzeitig zu viel und zu wenig. Aber wenigstens gibt es Bücher. Und zwar mehr als genug.
Ihr Lieben,
eigentlich hatte ich in den letzten zwei Wochen ganz enthusiastisch lauter Themen für diese Ausgabe von "Magda liest etc." gesammelt, aber dann bin ich vorgestern zu den "Ergebnissen" der letzten Ministerpräsident*innenkonferenz aufgewacht und war einfach nur noch müde und frustriert. (Ich glaube, so geht es momentan den meisten von uns, oder?) Jedenfalls war es mit meiner ganzen schönen Newsletterenergie dann schnell dahin, so dass diese Ausgabe ein ganzes Stück weniger umfangreich ausfällt als geplant und einen Tag später als üblich erscheint. Sei’s drum. Ein paar Buchtipps und interessante Links habe ich dennoch für euch im Gepäck. Also los!
Wir fangen an mit ein wenig Kindheitsnostalgie, die mir den letzten Sonntag sehr versüßt hat:
Ich bin fünf bzw. zehn Jahre älter als meine beiden jüngeren Geschwister und habe v.a. vor und dann auch in den Jahren direkt nach der Geburt meines kleinen Bruders (hi, Jacob!) oft längere Aufenthalte allein bei meinen Großeltern verbracht. Meistens, wenn ich dort zu Besuch war, hat meine Oma mir dann aus Kinderbüchern vorgelesen, die noch aus der Zeit stammten, als mein Vater ein kleiner Junge war. Oft habe ich dann hinterher die Handlungen der Bücher mit meinen Kuscheltieren und Puppen nachgespielt und auch meine Großeltern dabei regelmäßig mit eingebunden. Besonders oft hat meine Oma mir dabei die Geschichte des Eisvogelpaares Kik und Or vorgelesen, deren (Über)Leben innerhalb eines Jahreszyklus der tschechische Schriftsteller Karel Nový in seinem 1968 auf Deutsch erschienenen Kinderbuch Eisvögel (Ü: Blanka Fantová) beschrieben hat. Meine Oma ist 2013 gestorben und das Buch damals in meinen Besitz übergewandert, seit ich es nach meinem Umzug nach Berlin 2016 ins Regal geräumt habe, hatte ich es aber nicht mehr bewusst in der Hand gehabt.
Ein Post meine*r Twitterfreund*in Jules hat in mir aber plötzlich die Erinnerung an das Buch und vor allem an die wunderschönen Aquarellzeichnungen des Illustrators Mirko Hanák wachgerufen, so dass ich das Buch gleich aus dem Regal ziehen und zum ersten Mal seit Jahren wieder lesen musste. Was ja bei solch für die eigene Biografie besonders wichtigen Texten immer ein gefährliches Unterfangen ist. Das Wiederlesen, meine ich. In diesem Fall bin ich aber zum Glück glimpflich davongekommen, denn Eisvögel hat sich zu meiner großen Erleichterung den Charme, der mich vor über 20 Jahren schon verzauberte, weitestgehend bewahrt. Ein Paradebeispiel für gelungenes Nature Writing für Kinder, wie ich finde, und ich wünschte, das Buch, das leider schon lange vergriffen ist (einige bezahlbare antiquarische Ausgaben geistern aber noch herum), würde irgendwann wieder neu aufgelegt werden. Die Themen, die darin behandelt werden, allen voran die Zerstörung natürlichen Lebensraums durch die Menschen, sind heute schließlich aktueller denn je. Bis sich ein Verlag findet, der die Wiederauflage übernimmt, tröste ich mich mit ein paar weiteren von Mirko Hanáks tollen Tierbildern hinweg. Ein von ihm illustriertes Märchenbuch aus den 70ern habe ich mir gerade antiquarisch bestellt.
(CN: Mord, sexualisierte Gewalt, Polizeigewalt)
Der Mord eines Polizisten an der 33jährigen Sarah Everard in London vor einigen Wochen und die brutalen Polizeitaktiken, die auf den in Reaktion darauf stattfindenden Protesten und Mahnwachen gegenüber Demonstrant*innen angewandt wurden, haben mich zutiefst erschüttert. Wie so häufig habe ich in meiner Hilflosigkeit als erstes zu einem Buch gegriffen, und zwar zu Feminist City: Claiming Space in a Man-made World von der feministischen Geographin Leslie Kern.
Lektüre allein ersetzt natürlich noch lange keinen politischen Aktivismus und um wirklich etwas an den ungleichen, ungerechten, in vielen Fällen lebensgefährlichen Verhältnissen zu ändern, müssen wir alle laut werden, auf die Straße (und Wählen) gehen, lokale Initiativen finanziell und anderweitig unterstützen, etc. Aber um überhaupt erst einmal zu verstehen, wie tief patriarchale Strukturen in unsere Städte einbetoniert sind, ist dieses Buch ein wahrer Augenöffner. Kern behandelt darin, orientiert an ihrer eigenen Biografie, Fragen nach Sicherheit und Angst, bezahlter und unbezahlter Arbeit, Rechten und Repräsentation, und zeigt auf, welche Barrieren der moderne (und historisch gewachsene) Städtebau Frauen, trans und nicht-binären Personen und anderen marginalisierten Gruppen in den Weg legt. Eine Lektüre, die mich wütend gemacht, aber auch sehr bereichert hat.
Feminist City ist kürzlich auch in deutscher Übersetzung von Emilia Gagalski im Unrast Verlag erschienen.
In meinem ersten Newsletter habe ich euch ja von einem eher ungewöhnlichen Krimi der schottischen Autorin Josephine Tey berichtet und damals schon angekündigt, dass ich in Zukunft noch mehr von ihr lesen möchte. Das habe ich auch getan, und passend zum Erscheinen der deutschen Neuauflage von The Franchise Affair (1948, Dt. Nur der Mond war Zeuge, Ü: Manfred Allié) möchte ich euch jetzt kurz von diesem ebenfalls eher unkonventionellen Krimi erzählen. Unkonventionell deshalb, weil es in The Franchise Affair keinen Mord aufzuklären gibt und nicht einmal klar ist, ob überhaupt ein Verbrechen verübt wurde.
Robert Blair, ein Anwalt aus der Kleinstadt Milford, der bisher hauptsächlich mit unspektakulären Aufträgen wie Testamenterstellungen etc. betraut wurde, erhält eines Tages überraschend einen Anruf von Marion Sharpe, einer alleinstehenden Frau, die seit einiger Zeit zusammen mit ihrer Mutter das abgelegene (und von einer hohen Mauer umgebene) und heruntergekommene Anwesen The Franchise bewohnt. Die Sharpes brauchen dringend und sofort juristischen Beistand, denn Scotland Yard steht bei ihnen vor der Tür, ein fünfzehnjähriges Mädchen namens Betty Kane im Schlepptau. Nach einem Urlaub bei Verwandten für mehrere Wochen vermisst, tauchte diese eines nachts grün und blau geprügelt und mit nichts bei sich außer den Kleidern, die sie am Leibe trug, wieder zuhause auf und hat nun eine abenteuerliche Geschichte zu erzählen: die beiden verarmten Sharpe-Frauen sollen sie an einer Bushaltestelle aufgelesen, zu sich nach Hause gelockt und dort betäubt und in eine Kammer auf dem Dachboden eingesperrt haben. Zu welchem Zweck? Sie wollten sie zwingen, bei ihnen als Dienstmädchen zu arbeiten und den Haushalt zu erledigen. Betty Kane kann das Haus, in dem sie angeblich festgehalten wurde, und seine Bewohnerinnen exakt beschreiben, es gibt nur ein Problem: Marion Sharpe und ihre Mutter behaupten steif und fest, sie hätten Betty noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen…
Ich fand Teys Roman, der übrigens von einer historischen Begebenheit aus dem 18. Jahrhundert inspiriert wurde, erstmal unglaublich mitreißend und war mir bis kurz vorm Ende nicht sicher, wie sich alles auflöst und ob da noch mehr unerwartete Twists und Überraschungen auf mich zukommen oder nicht, so dass ich das Buch allen Krimi-Fans (und auch Leuten wie mir, die keine geübten Krimileser*innen sind) durchaus sehr empfehlen würde. Es gab allerdings auch einige Aspekte, die mich sehr irritiert haben und die Sarah Waters in diesem Essay im Guardian (Achtung, Spoiler!) vor einigen Jahren sehr gut zusammengefasst hat.
Apropos Sarah Waters, sie spricht in ihrem Text auch darüber, wie The Franchise Affair sie (neben anderen Klassikern der Gothic Novels) zu ihrem eigenen Roman The Little Stranger (2009) inspiriert hat. Und das ist eine gute Gelegenheit, euch auch diesen großartigen Roman nochmal ans Herz zu legen, eine meiner liebsten Haunted-House-Geschichten überhaupt. Er ist vor ein paar Jahren bei Lübbe in deutscher Übersetzung von Ute Leibmann als Der Besucher erschienen, aber meiner Meinung nach völlig falsch vermarktet worden (dieses schrecklich hässliche Cover, aaaaaaah) und deshalb auch hierzulande ziemlich untergegangen und inzwischen nur noch als eBook lieferbar. Davon solltet ihr euch aber nicht abschrecken lassen, denn das Buch ist absolut grandios! Jahre nach der Lektüre denke ich immer noch ständig über das Ende nach und zerbreche mir den Kopf, wie genau ich es interpretieren soll. Das ist immer ein gutes Zeichen für fesselnde Literatur, oder nicht?
Eines der ersten Bücher, die ich in diesem Jahr gelesen habe, war gleich der absolute Knaller, aber weil es erst diese Woche erschienen ist und die deutsche Buchbranche in Sachen Sperrfristen sehr streng ist, konnte ich euch jetzt zweieinhalb Monate lang nicht davon erzählen und saß deshalb wie auf glühenden Kohlen:
Jetzt ist An das Wilde glauben von Nastassja Martin (Ü: Claudia Kalscheuer) aber endlich erschienen und ich finde, ihr solltet es dringend alle lesen.
Es geht darin um mein neues Lieblingsthema, Bären, aber vor allem geht es auch um Todesgefahr und Überleben, um Heilung und Genesung, um Identität und die verschwimmenden Grenzen zwischen Mensch und Tier:
Während einer Forschungsreise nach Kamchatka, wo sie die Bräuche und die Kosmologie des indigenen Volkes der Ewenen erforscht, wird die Anthropologin Nastassja Martin von einem arktischen Bären angefallen, der ihr das Gesicht zerbeißt. Es folgen lange Aufenthalte in verschiedenen russischen und französischen Krankenhäusern, mehrere aufwendige Operationen und Rückschläge, und ein schwieriger und schmerzhafter Genesungsprozess nimmt seinen Lauf. Vor diesem Hintergrund reflektiert die Wissenschaftlerin Martin, die ihren bisherigen Forschungsgegenstand des Animismus und Schamanismus plötzlich unmittelbar am eigenen Leib erfährt, in einer fesselnden Mischung aus philosophischem Essay und persönlichem Erfahrungsbericht das verschwimmen der Grenzen zwischen dem, was vorher ihre eigene Identität war, und der Identität des Bären. Ein unglaublich beeindruckender Text, der mich seit Wochen nicht mehr loslässt!
Abschließend möchte ich euch noch von meiner aktuellen Lektüre berichten, die ich seit ein paar Wochen immer mal wieder nebenher auf meinem Tolino lese. Die amerikanische Historikerin Monica Black hat kürzlich ein spannendes Buch über magisches Denken in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit veröffentlicht:
Ich habe erst etwa ein Drittel von A Demon-Haunted Land: Witches, Wonder Doctors, and the Ghosts of the Past in Post-WWII Germany gelesen, bin aber bisher sehr fasziniert von der darin ausführlich behandelten Geschichte des Wunderheilers Bruno Gröning, der ab seinem ersten öffentlichen Auftritt in Herford im Frühjahr 1949 riesige Menschenmassen anlockte, wohin er auch kam, und immer wieder in Konflikt mit dem Gesetz geriet. Ich hatte von Gröning und seinen Anhängern noch nie zuvor gehört und Blacks Buch stellt auch sonst das Bild, das ich bisher von der frühen Nachkriegszeit in Deutschland hatte, immer wieder auf den Kopf. Laut diesem interessanten Interview mit der Autorin soll das Buch im Herbst auch in deutscher Übersetzung erscheinen. Eine ausführliche (englische) Rezension des Buches findet ihr z.B. hier.
So, das war’s für heute von mir. Auf dass bald bessere Tage kommen mögen!
Über Feedback, Wünsche, Vorschläge etc. freue ich mich immer. Auch Fragen nach individuellen Buchempfehlungen könnt ihr mir gerne stellen, die werde ich dann jeweils (nach Lust und Energie) im nächsten Newsletter gesammelt (anonymisiert) beantworten, damit alle etwas davon haben.
Den nächsten Newsletter werde ich wieder an einem Mittwoch verschicken, vielleicht schon nächste Woche, vielleicht auch erst in drei. Planungssicherheit gibt es momentan einfach nicht. Bis dahin findet ihr mich vielleicht auf Twitter, vielleicht verbringe ich den Oster-"Nicht-Lockdown" aber auch einfach mal nur mit meinen Büchern und Puzzles und ignoriere endlich den ganzen zermürbenden Social Media Beef.
Sollte diese Ausgabe nicht in eurem Postfach auftauchen, dann checkt euren Spam-Ordner und fügt ggf. diese Mailadresse eurem Adressbuch hinzu. Grundsätzlich könnt ihr alle alten Ausgaben des Newsletters auch jederzeit im Archiv auf der Substack-Seite nachlesen.
Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda