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wie letzte Woche schon angekündigt bekommt ihr heute noch einen kleinen Bonusnewsletter mit den Themen, die den Rahmen der letzten Ausgabe gesprengt hätten. Dafür mache ich dann nächste Woche eventuell eine Pause, vielleicht auch nicht, wir werden sehen.
Als ich letztes Jahr im Februar (?) kurz vor Pandemiebeginn mit einem lieben Twitterfreund in Berlin auf Antiquariatstour war, habe ich spontan für 1,50€ ein vergleichsweise unscheinbares Taschenbuch mitgenommen, das dann erstmal 1,5 Jahre ungelesen in meinem Regal stand (was, to be fair, ein vergleichsweise kurzer Zeitraum ist, wenn ich da an so manch anderes aus meinem Bestand denke). Vor zwei Wochen habe ich es spontan hervorgekramt und lese seither täglich mit großem Gewinn einen weiteren Beitrag aus der von Gisela Brinker-Gabler erstmals 1978 herausgegebenen Anthologie Deutsche Dichterinnen vom 16. Jahrhundert bis heute (inzwischen ist im Anaconda Verlag eine erweiterte Neuausgabe erschienen).
Was Brinker-Gabler vor über 40 Jahren in ihrer Einleitung über die (männlich geprägte) Literaturgeschichte schrieb, ist leider heutzutage — wie aufmerksame Leser*innen von bspw. dem großartigen Buch von Nicole Seifert längst wissen — kein bisschen weniger aktuell:
Eine männlich dominierte Gesellschaft hat keine geschlechtsneutrale Literaturgeschichte, -kritik und -wissenschaft. Sie sichert ihre Interessen auch mittels literarischer Wichtigkeits- und Rangvorstellungen. Ihrem Literaturkanon und den Kriterien, die den Zugang dazu ermöglichen, ist zunächst zu misstrauen. […] Es scheint jedenfalls kein Zufall zu sein, daß gerade weiblichen Autoren von männlichen Kritikern häufiger der Vorwurf 'formaler Schwäche' gemacht wurde. Sie meinen damit Unkenntnis oder mangelnde Beherrschung der 'männlichen' Literaturformen, möglicherweise aber auch ein sich formal ausdrückendes weibliches Selbstbewusstsein.
[…]
Um den Werken von Frauen in der Literaturgeschichte den ihnen gebührenden Platz zuzuweisen, ist mit der Quellenforschung ganz von vorn anzufangen. Ausgangspunkt kann dabei nicht der Wunsch sein, den 'weiblichen' Goethe zu finden – das hieße erneut die alten Netze auswerfen, sondern es wird nötig sein, bestehende Kriterien zu modifizieren und neue zu entwickeln. Auf dem langen Weg dorthin sind zunächst die Werke und ihre Autorinnen im historischen Augenblick ihres Erscheinens ernst zu nehmen.
Immerhin letzterer Aufruf Brinker-Gablers scheint inzwischen Früchte zu tragen:
So gibt beispielsweise der kleine, unabhägige Secession Verlag seit einiger Zeit in Zusammenarbeit mit der FONTE-Stiftung die Editionsreihe Femmes des Lettres über europäische Autorinnen des 17. und 18. Jahrhunderts heraus, die es sich zum Ziel setzt,
die bis heute mehr oder weniger nur in Fachkreisen bekannten Autorinnen europäischer Herkunft (Deutschland, Frankreich, Polen, Italien, England, Spanien, Russland usw.) wieder sichtbar werden zu lassen – unabhängig davon, ob ihr Werk, das zu ihren Lebzeiten große Beachtung fand oder sogar ‚Bestseller’ war, Eingang in die offizielle Literaturgeschichte gefunden hat oder es bald in Vergessenheit geriet. Ein zentrales Anliegen wäre, diese Prosa (Memoiren, Traktate, Autobiografien, Briefromane, Romane) oder auch Lyrik und Theaterstücke im deutschsprachigen Raum vorzustellen und sie im literatur- und kulturhistorischen Kontext, das heißt auch in ihrer literarhistorischen Bedeutung zu sehen. […] Mit dieser Präsentation soll der Kanon der europäischen Literatur (worunter sich anerkannte ‚Weltliteratur’ befindet), vervollständigt werden. Darüber hinaus werden Werke vorgestellt, die nicht nur von literarhistorischer und literarästhetischer Bedeutung sind, sondern die mit ihren Stoffen und Themen bis heute nicht an Aktualität verloren haben.
Näheres zur Reihe erfahrt ihr auch in diesem ausführlichen Beitrag im Deutschlandfunk. Ich selbst hatte das große Privileg, vor zwei Wochen an einer Abendveranstaltung des Secession Verlags im Rahmen der diesjährigen transphilologischen Jahrestagung "Femmes des Lettres" der FONTE-Stiftung teilzunehmen, auf der einige der Bände der Reihe vorgestellt wurden, und wäre ich nicht eh schon Fan dieser tollen Bücher gewesen, wäre ich es spätestens nach diesem unglaublich interessanten und bereichernden Abend geworden.
Gelesen habe ich selbst bisher zwei der inzwischen fünf Bände (Band sechs erscheint Ende des Jahres), und zwar mit sehr großer Begeisterung, die ich unter anderem auf Twitter sehr ausführlich geteilt habe. Deswegen hoffe ich, dass ich auch für die anderen Bände, die sich selbstverständlich alle bereits in meiner Sammlung befinden, bald Zeit habe. Besonders erstaunlich finde ich, wie wenig anstrengend zu lesen und vor allem wie (inhaltlich, aber zuweilen auch sprachlich) modern ich die meisten dieser mehrere hundert Jahre alten Texte finde. Als nächstes freue ich mich v.a. auf die Briefe einer Peruanerin, von denen Secession-Verleger Joachim von Zepelin mir ganz besonders überschwänglich vorgeschwärmt hat. Darin schreibt eine fiktive Inka-Prinzessin, die nach Frankreich entführt wurde, Briefe an ihren Geliebten zuhause, in denen sie dem Ancien Régime den Spiegel vorhält, Klerus, Kirche, die Kluft zwischen Arm und Reich und vor allem die in Frankreich vorherrschende Doppelmoral kritisiert und schließlich eine von gegenseitiger Anerkennung geprägte weibliche Lebensutopie entwickelt. Obwohl zwischen der Erstveröffentlichung 1747 und 1835 fast 40 Ausgaben und zahlreiche Übersetzungen erschienen, geriet das Werk später weitestgehend in Vergessenheit. Umso schöner, dass es jetzt in einer neuen Übersetzung auf Deutsch verfügbar ist und so den ihm gebührenden Platz in der europäischen Literaturgeschichte einnehmen kann.
Erschienen sind in der Reihe bisher:
Louise Labé: Torheit und Liebe – Werkausgabe (Aus dem Mittelfranzösischen übersetzt von Monika Fahrenbach-Wachendorff, mit einem Nachwort
von Elisabeth Schulze-Witzenrath)
Christiana Mariana von Ziegler: Moralische und vermischte Sendschreiben –
Ausgewählte Texte (Herausgegeben von Astrid Dröse unter Mitarbeit von Marisa Irawan)
Mme de Grafigny: Briefe einer Peruanerin (Aus dem Französischen übersetzt und
mit einem Nachwort von Renate Kroll)
Sidonia Hedwig Zäunemann: Feder in der Hand, Degen in der Faust (Herausgegeben von Corinna Dziudzia)
Sibylla Schwarz: Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden (Herausgegeben von Gudrun Weiland)
Und Ende des Jahres erscheint:
María de Zayas: Enttäuschte Liebe (Aus dem Spanischen übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort von Corinna Albert und Dirk Brunke)
Ich wohne zwar seit einigen Jahren hier und fühle mich im Grunde auch ganz wohl, aber mit (modernen) Berlin-Romanen kann man mich trotzdem eigentlich jagen. Umso überraschender, dass meine Lektüre in der letzten Zeit einen ziemlichen Berlin-Fokus hatte (und hat, denn bei einigen Titeln stecke ich gerade noch mittendrin):
Ich habe in den letzten Wochen zwei Romane gelesen, die Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre von männlichen Autoren (I know!) in anderen Sprachen als dem Deutschen verfasst wurden und jeweils im Berlin der 20er Jahre spielen und die ich zu meiner Überraschung beide recht unterhaltsam fand.
In Yvan Golls Sodom und Berlin (frz. Sodom et Berlin, Ü: Gerhard Meier) geht es um Dr. Odemar Müller, »naiver Student, mittelalterlicher Mystiker, überzeugter Krieger, wilder Revolutionär, Inflationsgewinnler, Romantiker auf der Suche nach der blauen Blume, Stammgast in Spielhöllen und Betrüger«, der im Berlin der Weimarer Republik sein Glück zu machen versucht und dabei wenig Skrupel an den Tag legt. Kurzweilig, satirisch überzeichnet, bisweilen sehr grotesk und insgesamt ein großer Lesespaß! Besonders, wie Goll sich über die zahlreichen unterschiedlichen esoterischen Strömungen der Zwischenkriegszeit lustig macht, fand ich extrem amüsant.
Vladimir Nabokovs The Eye (russ. Соглядатай, ins Englische übersetzt von Dmitri Nabokov, ins Deutsche übersetzt von Dieter E. Zimmer als Der Späher) könnte letztendlich auch in einer beliebigen anderen europäischen Großstadt spielen, in der in den 20er Jahren russische Exilant*innen gelebt haben; dass es nun Berlin wurde, ist wohl der Tatsache geschuldet, dass Nabokov den Roman schrieb, während er selbst gerade dort lebte, für die Handlung ist Berlin als Ort aber letztendlich nicht weiter relevant. Der kurze, auf Russisch verfasste Roman aus dem Frühwerk des Autors ist aus der Sicht eines jungen russischen Mannes erzählt, der sich nach einer Prügelei mit dem Ehemann seiner Affäre Matilda das Leben zu nehmen versucht. Als der Protagonist nach diesem (gescheiterten?) Suizidversuch "erwacht", hält er die Welt um sich herum für ein Konstrukt seiner Fantasie, eine Art imaginierte Zwischenwelt auf der Schwelle zum Jenseits. Fortan verbringt er seine Zeit als "Späher" mit der genauen Beobachtung einer Gruppe von russischen Exilant*innen, denen er in dem Mietshaus, in dem er lebt, begegnet. Besonderes Interesse zeigt er daran, den Charakter einer Person namens Smurow zu durchschauen, die sich am Rande dieser Personengruppe bewegt. Der sehr sehr kurze und amüsante Roman ist tragische Liebesgeschichte, psychologische Studie und Krimi in einem und eines von diesen Büchern, über das man vor dem Lesen am besten so wenig wie möglich wissen sollte, weshalb ich jetzt auch nicht mehr darüber sagen werde außer, dass dieser, mein allererster, Roman von Nabokov für mich ein guter Einstieg in das Werk diees Autors war.
Um den ungewöhnlich vielen Männern in diesem Newsletter (gleich kommt sogar noch einer!) etwas entgegenzusetzen, möchte ich hier noch auf einen weiteren Roman hinweisen, auch wenn ich ihn gerade erst zu lesen begonnen habe und deshalb inhaltlich noch nicht so richtig was dazu sagen kann. Es handelt sich um Anarchie Déco von J. C. (AKA Judith und Christian) Vogt, einen Krimi im Spannungsfeld zwischen Magie und Wissenschaft, der ebenfalls im bewegten Berlin der 20er spielt und der mein Interesse vor allem wegen dieses tollen Werkstattberichts der beiden Autor*innen geweckt hat. Und nach allem, was ich so aus meiner Twitter-Bubble höre, soll der Roman ziemlich großartig sein!
Vor ein paar Monaten habe ich Susanne Kerckhoffs letztes Jahr neu aufgelegten Nachkriegsroman Berliner Briefe (1948) gelesen und war fasziniert von seiner Aktualität. Auch ihr nun ebenfalls ganz frisch wiederaufgelegter Roman Die verlorenen Stürme (1947), den ich letzte Woche gelesen habe, hat mich jetzt wieder sehr beeindruckt. Der Roman spielt im Jahr 1932 kurz vor den Wahlen, die zu Hitlers Machtergreifung führen werden, und könnte heutzutage angesichts aktueller politischer Entwicklungen und Reaktionen auf prominente Formen des jugendlichen Aktivismus wie beispielsweise die Klimastreikbewegung relevanter kaum sein: er folgt einer Gruppe von idealistischen Berliner Jugendlichen, allen voran die in einem privilegierten intellektuellen Milieu aufwachsende Marete, die sich politisch und vor allem antifaschistisch engagieren wollen, dabei jedoch immer wieder an der Ignoranz und Teilnahmslosigkeit ihrer Elterngeneration scheitern.
Eine weitere in Berlin spielende "Wiederentdeckung", die ich mir genauer anschauen möchte, bei der ich aber noch nicht weit gekommen bin und mir deshalb kein abschließendes Urteil erlauben kann, ist der erstmals 1937 im Exil erschienene Roman Die Schwimmerin des Berliner Journalisten Theodor Wolff (1868-1943). Laut Verlag erzählt er "die Geschichte der Liebe eines älteren Mannes zu einer jungen Frau vor der Folie der politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen der Epoche," was mich — aus vermutlich naheliegenden Gründen — eigentlich etwas abschreckt, andererseits heißt es da auch, besagte junge Fraue sei "politisch aktiv, brennt für die linksrevolutionären Bewegungen und hält seine [also des älteren Mannes] Passivität nicht aus" und das spricht mich doch wieder irgendwie an. Mal sehen. Hat jemand von euch den Roman schon gelesen?
Als letztes möchte ich im Berlin-Kontext noch auf eine Neuerscheinung hinweisen, die so frisch ist, dass ich noch gar nicht richtig reingucken konnte, auch wenn Kirsty Bells Gezeiten der Stadt (Ü: Laura Su Bischoff und Michael Bischoff) mich von der Beschreibung her erstmal sehr anspricht:
Von ihrem Zimmer am Landwehrkanal aus hat die britisch-amerikanische Kunstkritikerin Kirsty Bell einen besonderen Blick auf die Stadt, in der sie seit 20 Jahren lebt. Ihr Augenmerk gilt nicht den Königen und den Monumenten. Es sind die Brachen, die drängenden Wasser und die besonderen Schicksale, die sie interessieren. Preußische Militarismus und männlicher Ingenieurssinn haben Berlin geprägt, die Gewalt des 20. Jahrhunderts hat es traumatisiert. Von Walter Benjamin zu Rosa Luxemburg, von Gabriele Tergit zu Hannah Arendt und hin zu den Bewohner:innen ihres eigenen Gründerzeithauses lässt Kirsty Bell die Menschen sprechen. Noch immer ist die Stadt aus dem Takt, so wie es Bells eigenes Leben war. Doch nur deshalb kann sie Berlin zum Besseren hin erzählen.
Gestern Abend fand im Ocelot die Buchpremiere zu dieser "Mischung aus Memoir, Kulturgeschichte und Stadtbild" statt, die ihr hier auf Instagram nachgucken könnt.
Das war’s also für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich wieder an einem Mittwoch verschicken, vermutlich in zwei Wochen, vielleicht auch schon in einer oder erst in drei. Bis dahin findet ihr mich wie immer mit buchnahem Content auf Twitter.
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Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda