Von Berglöwen, Farbspektren und der Dust Bowl von Oklahoma
Außerdem: meine wachsende Liebe zur irischen Literaturszene und ein paar Updates in Sachen Buchpreisjury
Ihr Lieben,
meine Arbeit als Jurorin beim diesjährigen Deutschen Buchpreis hat nun offiziell begonnen, letzten Montag fand die erste Jursitzung statt, bei der ich meine neuen Kolleg*innen zum ersten Mal persönlich kennengelernt habe, wir verschiedene Formalitäten geklärt haben und vor allem aber, und das ist der aufregendste Teil, erfahren haben, welche Bücher überhaupt von den deutschsprachigen Verlagen zur Berücksichtigung eingereicht wurden. Ich habe jetzt eine laaange Liste mit Romanen, einen Tolino voller digitaler Prüfexemplare, und am Donnerstag kam auch schon das erste Paket mit Printexemplaren von Prüftiteln bei mir zuhause an. Ab jetzt steht mir also ein wirklich straffes Lesepensum bevor! Da die Einreichungslisten von uns streng vertraulich behandelt werden müssen, kann ich euch die Stapel bei mir zuhause leider nicht zeigen. Ich habe außerdem beschlossen, mich von jetzt an bis zur Preisverleihung (hoffentlich halte ich so lange durch) nicht mehr öffentlich, sprich hier im Newsletter oder auf Instagram, über aktuelle deutschsprachige Romane, die den formalen Kriterien nach für den Preis in Frage kämen, zu äußern. Das wird eine Herausforderung für die Gestaltung dieses Newsletters, weil ich in den nächsten Monaten kaum Zeit finden werde, "unverfängliche" weil schon ältere, englische oder aus anderen Sprachen übersetzte Bücher zu lesen — aber ich kenne inzwischen einfach zu viele Autor*innen, Lektor*innen, Verleger*innen persönlich und ich möchte nicht, dass ihr aufgrund meiner Lektüreupdates dann die ganze Zeit spekulieren, euch Hoffnungen machen oder Enttäuschungen einstecken müsst, noch bevor die Longlist/Shortlist/der Gewinnertitel überhaupt verkündet ist. Außerdem haben wir uns als Jury allgemein darauf geeinigt, dass wir versuchen werden, Rezensionen von für den Buchpreis eingereichten Romanen weitestgehend zu vermeiden. Ausnahmen mache ich ggf. nur für Romane, die ich in einem anderen beruflichen Kontext lese, weil ich zum Beispiel dafür bezahlt werde, eine Lesung mit dem*der Autor*in zu moderieren o.ä. Das werde ich dann aber in solchen Fällen immer transparent machen. Wenn ihr Fragen zum ganzen Buchpreis-Prozedere habt, dürft ihr sie mir gerne in den Kommentaren stellen und ich werde versuchen, sie so gut ich kann oder darf zu beantworten — in einigen Fällen unterliegen sie aber ggf. der Verschwiegenheitsverpflichtung, die ich mit dem Juryvertrag eingegangen bin.
Das war jetzt aber genug der Vorrede, steigen wir endlich in den eigentlichen, gehaltvollen Inhalt dieser Newsletterausgabe ein!
Eines der ersten Bücher, die ich Anfang dieses Jahres mit großer Faszination gelesen habe, war Ida Fjeldbraatens Vielfrass (aus dem Norwegischen übersetzt von Matthias Friedrich), ein atmosphärisch-düsterer und dabei sehr bewegender Kurzroman über ein Mädchen, das eines Tages ganz allein in der Einrichtung aufwacht, in der sie seit dem Tod ihrer Mutter untergebracht war. Alle anderen Bewohner*innen und Betreuer*innen sind verschwunden, ohne Erklärung, die Ich-Erzählerin geht trotzdem erstmal zur Arbeit in den nahegelegenen Tierpark, wo sie als Putzkraft beschäftigt ist. Auch der Tierpark wirkt menschenleer, irgendwas ist passiert, zusammen mit der Erzählerin stückeln wir uns aber nur langsam ein vages Bild der Situation zusammen. Zwischendrin erleben wir die Geschichte auch immer wieder aus der Perspektive von einem der Zootiere, einem kleinen verletzten Vielfraß (aus der Familie der Marder), der inmitten der immer bedrohlicher werdenen Situation um sein Leben kämpft. Und irgendwann treffen Mädchen und Vielfraß aufeinander... Mich haben an dem Roman vor allem die aus der Tierperspektive erzählten Passagen fasziniert, die einen interessanten Blickwinkel auf die Romanhandlung eröffnen, ohne dabei allzu anthropomorphisiert daherzukommen. Direkt im Anschluss daran habe ich dann einen anderen aus der Sicht eines Tieres erzählten Roman gelesen, in dem besagtes Tier in der ersten Person zu uns Leser*innen spricht, uns an seinen Gedanken teilhaben lässt und dabei ein (Selbst)Bewusstsein an den Tag legt, das durchaus menschenähnliche Züge annimmt.
"Ich habe so viel Sprache in meinem Gehirn
Und weiß nicht wohin damit"
Bei dem mitteilungsbedürftigen Erzähler von Henry Hokes Ganz wie ein Mensch (orig. Open Throat, Ü: Stephan Kleiner) handelt es sich um einen einsamen, queeren Puma (im englischen Sprachraum auch Mountain Lion, also Berglöwe, genannt), der sich in den Hollywood Hills von Los Angeles herumtreibt und die durch sein Revier wandernen Menschen belauscht. Als in einem nahegelegenen Obdachlosencamp ein verheerendes Feuer ausbricht, verschlägt es unseren Puma nach "Ellej", einen Ort, von dem in den von ihm belauschten Menschengesprächen oft die Rede war… Auch wenn dieser kurze, in knapper und doch irgendwie poetischer Sprache verfasste Roman mich hin und wieder zum Lachen gebracht hat und einige der philosophischen Gedanken des Berglöwen mich sehr berührt haben, konnte die allzu menschenähnliche Erzählstimme des wilden Tieres mich am Ende doch nicht so recht überzeugen.
Henry Hokes Erzählfigur war aber nicht der einzige literarische Puma, der mir in diesem Januar begegnet ist, denn auch in Daniel Masons vielschichtigem Roman North Woods (dt. Oben in den Wäldern, Ü: Cornelius Hartz) über die 300jährige Geschichte eines Hauses in den Wäldern von Massachussetts und seinen unterschiedlichen Bewohner*innen, den ich euch schon in meiner großen Frühjahrsvorschau ans Herz gelegt hatte, spielen Berglöwen (die darin "catamounts" genannt werden) immer wieder eine wichtige Rolle. Nach der Lektüre von North Woods ist mir dann aufgefallen, dass Pumas in der anglophonen Literatur ein wirklich beliebtes Motiv zu sein scheinen, denn ich habe noch ganze drei weitere Romane seit längerer Zeit (leider bisher ungelesen) in meinem Regal stehen, in denen sie zentrales Handlungselement sind — ein neues Leseprojekt bahnt sich also an:
Im Debütroman The Hunter and the Old Woman der Kanadierin Pamela Korgemagi wird abwechselnd aus der Perspektive eines wilden Pumaweibchens und des Jägers Joseph, der seit seiner Kindheit besessen davon ist, sie zu erjagen, erzählt — der liegt immerhin erst etwa ein Jahr ungelesen bei mir zuhause.
In Jean Staffords amerikanischem Coming-of-Age-Klassiker steckt die Berglöwin (orig. The Mountain Lion, Ü: Adelheid und Jürgen Dormagen), die im Adoleszenzprozess der Geschwister Molly und Ralph eine wichtige Rolle spielt, schon im Romantitel und die Lektüre nehme ich mir vor, seit Nicole auf ihrem Blog vor 2 Jahren mal sehr von der deutschen Neuübersetzung geschwärmt hat — es wird also wirklich allerhöchste Zeit.
Und im Stream-of-Consciousness-Roman Ducks, Newburyport der Britin Lucy Ellman, der 2019 für den Booker Prize nominiert war (und sich seitdem — ungelesen — in meinem Besitz befindet), wird der angeblich nur aus einem einzigen langen Satz bestehende 1000-seitige Gedankenfluss der Protagonistin, einer amerikanischen Mutter mittleren Alters, immer wieder durch kürzere Episoden unterbrochen, in denen ein auktorialer Erzähler von einem Pumaweibchen in den Appalachen erzählt, das auf der Suche nach seinem von Menschen gestohlenen Nachwuchs durch West Virginia, Pennsylvania und Ohio streift.
Fallen euch noch weitere literarische Texte über Pumas ein? Oder über andere wilde Klein- und Großkatzen?
Was ist der längste Zeitraum, den ihr je auf die Fortsetzung einer geliebten Buchreihe warten musstet? Wartet ihr vielleicht noch immer? Oder habt gar die Hoffnung längst aufgegeben, dass die Reihe jemals fortgesetzt oder zum Abschluss gebracht wird? (Looking at you, George R. R. Martin!)
Jasper-Fforde-Fan bin ich ca. seit 2008, als ich den ersten Band seiner Thursday-Next-Reihe zufällig in der Nürnberger Stadtbibliothek entdeckt und mich dann innerhalb weniger Wochen durch alle damals verfügbaren Bände der Reihe gelesen habe — er ist bis heute einer der lustigsten und kreativsten Autoren, die ich kenne! Im März 2012 war ich im Thalia in Erlangen bei einer Lesung aus seinem kurz zuvor in deutscher Übersetzung erschienen Roman Shades of Grey (keine Verwandtschaft!, dt. Grau, Ü: Thomas Stegers), der damals als Auftakt einer neuen Trilogie angekündigt wurde. Auf der Lesung habe ich mir das Buch gekauft, es zuhause begeistert gelesen, und dann gewartet. Und gewartet. Und gewartet. Über ein Jahrzehnt lang. Denn bis die lange angekündigte Fortsetzung, Red Side Story, (dt. Rot, Ü: André Mumot) tatsächlich erschien, sollte es bis Februar 2024 dauern — also ganze 14 Jahre seit dem ursprünglichen Erscheinen des ersten Bandes im Jahr 2010 (englisches Original). 14 Jahre sind so eine lange Zeit, dass ich mich außer an das allergröbste Setting — eine autoritär regierte Gesellschaft, in der die Menschen je nachdem, wie hoch der Anteil des Farbspektrums ist, den sie sehen können, in unterschiedliche Kasten eingegliedert werden — an quasi nichts mehr vom Inhalt von Shades of Grey erinnern konnte, sondern nur noch an das vage Gefühl, die Lektüre damals als unglaublich spannend und lustig empfunden zu haben. Deshalb habe ich den Roman kürzlich nochmal gelesen, bevor ich im Februar mit meiner brandneuen Ausgabe von Red Side Story im Schlepptau zur Berliner Lesung von Jasper Fforde gepilgert bin. Ein bisschen Angst hatte ich schon, dass nach fast eineinhalb Jahrzehnten der Zauber für mich verflogen sein könnte und ich dem Buch bei der Relektüre längst nicht mehr so viel würde abgewinnen können. Aber dann bin ich doch wieder nach wenigen Seiten kopfüber in diese absurde, farbendominierte Welt gekippt und habe mich wieder ganz neu in Ffordes unglaublichen Einfallsreichtum verliebt. Habe mitgefiebert mit Eddie Russett, der nicht nur überdurchschnittlich viel Rot sieht und dessen Chancen, in eine auf der Farbskala höhergestellte Familie einzuheiraten, deshalb ziemlich gut stehen, sondern auch eine ziemlich rebellische Ader hat und deshalb zusammen mit seinem Vater in ein Dorf in den Outer Fringes zwangsumgesiedelt wird. Dort trifft er auf Jane, eine aufmüpfige Graue, die ihn nicht nur mit ihrer außergewöhnlichen Stupsnase verzaubert, sondern ihn auch mit unbequemen Wahrheiten über die Welt, in der sie seit 500 Jahren nach den willkürlichen Vorschriften von Munsells Regelbuch leben müssen, konfrontiert. Bald ist in Eddies Leben nichts mehr so, wie es mal war — und sein neues Wissen und die Liebe zu Jane bringen ihn schnell in Lebensgefahr…
Der zweite Teil der geplanten Trilogie knüpft direkt an das Ende des ersten Buches an, auch er hat mich wieder total mitgerissen, mich abwechselnd zum Lachen, Seufzen und vor Überraschung oder Schreck die Luft Anhalten gebracht, und ich hoffe inständig, dass Jasper Fforde sein hochheiliges Versprechen, dass wir auf Band drei nicht wieder 14 Jahre werden warten müssen, einhält. Um die Zeit bis zu seinem Erscheinen zu überbrücken, fange ich vielleicht einfach nochmal die Thursday-Next-Bücher von vorne an, davon gibt es inzwischen immerhin auch schon sieben Stück. Und dann sind da noch die vier Bände der Last-Dragonslayer-Reihe. Und die Nursery-Crimes-Duologie. Und ein paar Einzelromane. Ich bekomme direkt Lust auf ein Jasper-Fforde-Lesejahr!
Wer Anfang Januar meinen Jahresrückblick auf mein Lektürejahr 2023 gelesen hat, wird mitgekriegt haben, dass ich in der letzten Zeit eine große Affinität für die irische Literaturlandschaft entwickelt habe. Eines meiner absoluten Lektürehighlights im letzten Jahr war Audrey Magees Roman The Colony, auf den mich ursprünglich mal meine liebe Freundin und Kollegin Nicole Seifert aufmerksam gemacht hatte. Weil Nicole selbst auch so begeistert von dem Roman, der Fragen von Kolonialismus, Gewalt, Sprache und Identität vor dem Hintergrund einer winzigen irischen Fischerinsel und ihren Bewohner*innen im Jahr 1979 verhandelt, ist, war es natürlich eine völlig logische Konsequenz, dass der Verlag Nagel & Kimche sie dann auch gleich mit der deutschen Übersetzung davon beauftragt hat, die im Mai unter dem Titel Das Habitat erscheinen wird. Anlässlich dieser Übersetzung hat Literature Ireland (eine vom irischen Staat geförderte Non-Profit-Organisation, die sich für internationale Übersetzungen irischer Literatur einsetzt) Audrey Magee und zwei weitere irische Autor*innen, von deren Büchern in diesem Frühjahr deutsche Übersetzungen erschienen sind, für mehrere Literaturveranstaltungen rund um die Leipziger Buchmesse nach Deutschland eingeladen — und durch die Kontaktvermittlung von Nicole hat das Team von Literature Ireland schließlich mich als Moderatorin für zwei dieser Events angefragt. Weil mir letztes Jahr schon die Veranstaltung mit Doireann Nhí Ghríofa, die ich in Frankfurt moderieren durfte, so großen Spaß gemacht hat, habe ich ohne zu zögern zugesagt, und so durfte ich vorletzte Woche im Colosseum in Berlin durch einen ganz wunderbaren Abend mit Naoise Dolan, Ferdia Lennon und Audrey Magee führen — und zwei Tage später in Leipzig nochmal durch eine Einzellesung von Naoise. Ich war vorher furchtbar aufgeregt, weil ich diesmal gleich drei von mir so bewunderte Autor*innen auf einmal neben mir auf der Bühne sitzen hatte, aber ich brauchte mir gar keine Sorgen zu machen, denn nicht nur waren die drei absolut offenherzig, charmant und entgegenkommend, sondern vor allem bieten ihre großartigen Romane so viel guten Gesprächsstoff, dass man locker drei Abendveranstaltungen damit füllen könnte.
Ich habe schon lange eine Obsession mit der griechischen Antike, ich habe ein altsprachliches Gymnasium besucht, hatte Altgriechisch im Leistungskurs, habe meine Facharbeit damals über Frauenfiguren bei Euripides geschrieben und mein allerliebster Lieblingsroman aller Zeiten ist Christa Wolfs Kassandra. In Anbetracht meiner wachsenden Obsession mit irischer Literatur könnt ihr euch also vorstellen, wie begeistert ich war, als ich erfahren habe, dass Ferdia Lennons gerade frisch erschienener Debütroman Glorious Exploits (dt. Glorreiche Taten, Ü: Thomas Überhoff) diese beiden Obsessionen von mir auf grandiose Art miteinander verbindet. Der Roman spielt nämlich im antiken Syrakus (Sizilien) des Jahres 412 v. Chr., ein paar Jahre, nachdem die athenische Armee dort bei ihrem Versuch, Sizilien einzunehmen, vernichtend geschlagen wurde. Tausende athenische Soldaten werden seither in den Steinbrüchen von Syrakus gefangengehalten, wo immer mehr von ihnen einem langsamen Hungertod entgegensehen. Die Freunde Lampo und Gelon, zwei arbeitslose Töpfer aus Syrakus und große Fans des athenischen Tragödiendichters Euripides, treibt es immer öfter in das Gefangenenlager in der Hoffnung, von den Athenern Ausschnitte aus dessen neuestem Theaterstück, welches noch nicht bis nach Syrakus vorgedrungen ist, zu hören zu bekommen. Schließlich beschließen die beiden einen aberwitzigen Plan: sie wollen mit den Gefangenen im Steinbruch die beiden Tragödien Medea und Die Troerinnen inszenieren – als richtiges Theaterstück, mit Kostümen, Kulissen und allem drum und dran. In ihrem Enthusiasmus für die Macht der Kunst bringen sie nicht nur ihre Schauspieler, sondern auch sich selbst in Gefahr, denn das Syrakuser Publikum hält wenig davon, ausgerechnet den Kriegern zuzujubeln, denen während der vorangegangenen Seeschlacht zahlreiche ihrer Verwandten und Freund*innen zum Opfer gefallen sind... So weit der Plot, aber was diesen Roman neben der spannenden und bewegenden Handlung (die übrigens zum Teil auf zwei echten Anekdoten, die von Thukydides und Plutarch erwähnt werden, basiert) so besonders macht, ist die Tatsache, dass er ganz im Sound zeitgenössischer irischer Prosa erzählt ist – der Ich-Erzähler Lampo spricht so, als käme er uns direkt aus einem Dubliner Pub des 21. Jahrhunderts vor die Füße gestolpert. Als ich zum ersten Mal von diesem Roman gehört habe, konnte ich mir gar nicht richtig vorstellen, wie irischer Slang und klassische Antike zusammenpassen sollen, aber nach nur wenigen Seiten war ich völlig begeistert davon, wie gut diese Kombination tatsächlich funktioniert. Ich liebe den Rhythmus und den Humor dieses irischen Sounds und schon jetzt ist dieser Roman eines meiner Highlights in diesem Jahr, denn sprachlich interessanter kann es in meinen Augen kaum mehr werden. Normalerweise bin ich persönlich ja kein großer Fan von Hörbüchern, weil ich mich darauf nur sehr schlecht konzentrieren kann, aber jetzt, wo ich Ferdia auf der Veranstaltung in Berlin, die ich moderieren durfte, aus seinem Roman habe lesen hören, ziehe ich doch in Erwägung, mir Glorious Exploits nochmal in der Audioversion anzuhören — die hat Ferdia nämlich selbst eingelesen, und der Kontrast zwischen antikem Setting und irischem Sound entfaltet in Ferdias Interpretation tatsächlich nochmal eine ganz andere Wirkmacht als auf dem Papier.
Die dritte im Bunde bei der irischen Veranstaltung in Berlin war Naoise Dolan, deren zweiter Roman The Happy Couple ebenfalls gerade auf Deutsch als Das glückliche Paar (Ü: Anke Caroline Burger) erschienen ist. Darin erzählt sie mit unglaublich viel Sprachwitz die Geschichte eines Millenial-Paares aus Dublin innerhalb des einen Jahres, das zwischen ihrer Verlobungsfeier und dem anberaumten Hochzeitstermin liegt, und zwar aus fünf verschiedenen Perspektiven:
Celine, die Braut, eine erfolgreiche Konzertpianistin, die ihr Leben ganz der Musik verschrieben hat
Phoebe, ihre jüngere Schwester und Brautjungfer, die den Bräutigam nicht leiden kann
Archie, der Trauzeuge und Exfreund des Bräutigams aus Collegezeiten, der über seine Jugendliebe noch längst nicht hinweg ist
Luke, der Bräutigam, ein notorischer Fremdgeher
Vivian, Hochzeitsgästin und gute Freundin (und ebenfalls Exfreundin) von Luke, die als einzige emotionale Distanz zum Geschehen aufzubauen vermag
Während wir den unterschiedlichen Blickwinkeln auf die und Interpretationen von der Beziehung zwischen Luke und Celine dieser fünf Figuren (die übrigens allesamt queer sind) folgen, drängt sich immer mehr die Frage auf, wie glücklich das titelgebende Paar eigentlich ist — und ob eine Heirat für beide wirklich die beste Entscheidung wäre…
Naoise Dolan, die einen Masterabschluss in Viktorianischer Literatur hat, erzählt hier den klassischen Eheplot, der sich durch Jahrhunderte der englischsprachigen Literaturgeschichte zieht, in den letzten Jahrzehnten aber immer wieder totgesagt wurde, auf frische, kluge und witzige Art, die mir beim Lesen so viel Spaß bereitet hat, dass ich direkt im Anschluss auch noch Naoises 2020 erschienenen Debütroman Exciting Times (dt. Aufregende Zeiten, Ü: Anne-Kristin Mittag) verschlungen habe und nun sehr gespannt auf ihr nächstes Romanprojekt bin, dass laut ihren Andeutungen zumindest teilweise in Berlin spielen soll (wo sie selbst seit 1,5 Jahren lebt).
Alle drei Autor*innen, aber auch alle Teammitglieder von Literature Ireland und alle Mitarbeitenden der Irischen Botschaft in Berlin waren unglaublich sympathisch, freundlich und vor allem spürbar ehrlich enthusiastisch im Bezug auf zeitgenössische Literatur, was mich in meiner eigenen Begeisterung für die irische Literaturszene nochmal aufs Neue bestätigt hat.
Auf der Rückfahrt aus Leipzig habe ich dann gleich noch einen weiteren ganz frisch erschienenen irischen Roman gelesen, der mich sowohl sprachlich als auch in seiner sehr liebevollen und glaubhaften Figurenzeichnung restlos begeistert hat, nämlich Colin Barretts Wild Houses — und jetzt hege ich große Hoffnungen, dass Literature Irland erfolgreich eine deutsche Übersetzung vermittelt, den Autor nächstes Jahr nach Deutschland einlädt und mich dann vielleicht wieder für eine Moderation anfragt. Drückt mir die Daumen!
Tag und Nacht schuften sie auf ihren Feldern, leben von der Hand in den Mund, zum Sattwerden reicht es dabei oft kaum. Stur klammern sie sich dennoch weiter an die Hoffnung, dass im nächsten Jahr alles besser werden, die Ernte endlich wieder einmal ertragreich sein wird. Doch die Dürre wird von Jahr zu Jahr schlimmer, die heftigen Sandstürme, die Felder und Ernten unter einer dicken Decke aus Staub begraben, dauern manchmal wochenlang an, und schließlich bleibt dem Farmerehepaar Julia und Milt Dunne nichts anderes übrig, als ihre beiden kleinen Töchter und all ihre Habseligkeiten im von ihrem letzten Geld erworbenen klapprigen Auto zu verstauen und die „Dust Bowl“ Oklahomas auf der Suche nach einer neuen Heimat hinter sich zu lassen. Nach tausenden von Kilometern landen die Dunnes – wie zahlreiche andere Farmerfamilien, die in den 1930er Jahren der größtenteils menschengemachten Naturkatastrophe in den „High Plains“ zu entfliehen versuchten – schließlich in Kalifornien, wo sie als saisonale Erntehelfer über die Runden zu kommen versuchen. Ob von der Regierung drangsaliert, in schlecht ausgestatteten Zeltstädten zusammengepfercht oder von den Besitzern der Großfarmen ausgebeutet und gegeneinander ausgespielt – die hunderttausenden Klimaflüchtlinge werden alles andere als mit offenen Armen empfangen. Doch wenn eines die „Okies“ auszeichnet, ist es ihre Resilienz, ihre Würde und ihr unerschütterlicher Gemeinschaftssinn und so geben die Dunnes und ihre Mitstreiter*innen weder einander noch die Hoffnung auf ein besseres Leben auf… Sanora Babb kannte das Schicksal ihrer Romanfiguren, das sie so einfühlsam und mit einem so genauen wie liebevollen Blick auf das große Ganze ebenso wie auf die alltäglichen Kleinigkeiten zu schildern verstand, aus eigener Erfahrung. Sie war selbst in Oklahoma aufgewachsen, später verschlug es sie als Journalistin nach Kalifornien, wo sie sich ab 1938 ehrenamtlich für die aus ihrer Heimat vertriebenen Farmerfamilien, die in den Migrantencamps der „Farm Security Administration“ unter erbärmlichsten Zuständen lebten, einsetzte. Ihre Beobachtungen aus dieser Zeit verarbeitete sie in ihrem Roman Whose Names Are Unknown, in dem Babb nicht nur das kollektive Schicksal der Dust-Bowl-Farmer eindrücklich schildert, sondern auch mit den vorherrschenden Landwirtschaftsmethoden, dem kapitalistischen Wirtschaftssystem und der Ausbeutung von Mensch und Natur hart ins Gericht geht. Der Verlagslektor, dem Babb ihr Manuskript 1939 zeigte, war begeistert von diesem „außergewöhnlich guten“ Roman, zog sein Veröffentlichungsangebot jedoch kurze Zeit später wieder zurück, weil gerade ein anderer Roman über eine aus der „Dust Bowl“ nach Kalifornien auswandernde Familie große Wellen schlug – John Steinbecks Früchte des Zorns. Der Verlag sah keinen ausreichenden Markt für zwei thematisch so nah verwandte Romane und so schlummerte Sanora Babbs Manuskript jahrzehntelang in der Schublade, ehe es über 60 Jahre nach seiner Entstehung schließlich doch noch veröffentlicht wurde. Nochmal zwei Jahrzehnte später ist der Roman nun in der Klassikerinnen-Reihe des Reclam Verlags erstmals auch in deutscher Übersetzung erschienen (Namen unbekannt, Ü: Sabine Reinhardus), mit einem klugen und informativen Nachwort von keiner geringeren als Mareike Fallwickl.
Zur Feier dieser bedeutenden Wiederentdeckung werden Mareike und ich am Donnerstag den 4. April um 19:30 Uhr ein gemeinsames Instagram-Live-Gespräch auf dem Kanal des Reclam Verlags führen, auf das ich mich schon ungemein freue!
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich wegen Umzug und Co. voraussichtlich erst im Mai verschicken, oder wann immer ich ihn fertig habe. Bis dahin findet ihr mich mit buchnahem Content auf Instagram und neuerdings auch auf BlueSky.
Sollte diese Ausgabe nicht in eurem Postfach auftauchen, dann checkt euren Spam-Ordner und fügt ggf. diese Mailadresse eurem Adressbuch hinzu. Grundsätzlich könnt ihr alle alten Ausgaben des Newsletters auch jederzeit im Archiv auf der Substack-Seite nachlesen.
Auf bald!
Eure Magda
Dieser Newsletter landet inzwischen bei über 2700 von euch regelmäßig im E-Mail-Postfach. Wer ihn gerne liest und mich auch 2024 ein bisschen finanziell bei meiner Arbeit unterstützen möchte, kann sich hier den 64 lieben Menschen anschließen, die das bisher schon per kleinem solidarischen Bezahlabo tun:
Die normalen Beiträge (ca. einmal im Monat) bleiben ganz normal für alle Abonnent*innen zugänglich, egal ob mit oder ohne Bezahlabo.