Surprise!
Eigentlich wäre mein Newsletter erst nächste Woche wieder an der Reihe, aber ich habe vor ein paar Tagen eines der ungewöhnlichsten Bücher, die ich kenne, wiedergelesen, über das ich gerne etwas ausführlicher schreiben würde, das aber thematisch nicht in meine für die nächste Zeit geplanten Newsletter passt. Deshalb gibt es also heute eine kleine Sonderausgabe für Euch!
Vor über 10 Jahren hat der englische Verlag Bloomsbury unter dem Titel "The Bloomsbury Group" eine Buchreihe herausgegeben, die im 21. Jahrhundert längst in Vergessenheit geratene, aber zu ihrer Zeit sehr erfolgreiche (englischsprachige) Bücher aus dem frühen 20. Jahrhundert wieder verfügbar gemacht hat. Ich selbst bin auf der Frankfurter Buchmesse 2009 auf diese Reihe gestoßen und rückblickend betrachtet dürfte das der Auslöser für mein Interesse an der Wiederentdeckung "vergessener" Autorinnen gewesen sein. Das in meinen Augen beste und ungewöhnlichste Buch in dieser Reihe ist der absurdistische Roman The Brontës Went to Woolworths (1931) der hierzulande völlig unbekannten (und nie ins Deutsche übersetzten) englischen Autorin Rachel Ferguson (1892-1957).
Ferguson wurde als jüngste von drei Kindern in Hampton Wick geboren; sie wurde zunächst zuhause unterrichtet und besuchte später eine "Finishing School" in Florenz. Schon im Alter von 16 Jahren war sie eine überzeugte Feministin, die sich begeistert dem Kampf um das Frauenwahlrecht in England anschloss: "I was as militant as authority allowed me to be. I wanted to go to prison but was refused on the score of age." Später nahm sie ein Schauspielstudium an der Royal Academy of Dramatic Art auf, ihre Bühnenkarriere wurde jedoch vom Beginn des 1. Weltkriegs unterbrochen. Stattdessen trat sie der "Women's Volunteer Reserve" bei und fing außerdem mit dem Schreiben an, u.a. für Punch und als Theaterkritikerin für den Sunday Chronicle. Ihr erster Roman erschien 1923, aber erst mit ihrem zweiten Roman, eben The Brontës Went to Woolworths, erhielt sie größere Aufmerksamkeit. Ferguson veröffentlichte zehn weitere Romane, einige Memoirs und Biografien sowie satirische Texte, bevor sie 1957 in kensington im Alter von 65 Jahren starb. Ihre Werke wurden wie gesagt nie ins Deutsche übersetzt, aber auf Englisch sind immerhin neben den Brontës noch vier weitere ihrer Romane lieferbar.
Nun aber mehr zum Buch, um das es heute gehen soll:
How I loathe that kind of novel which is about a lot of sisters. It is usually called They Were Seven, or Three - Not Out, and one spends one’s entire time trying to sort them all, and muttering, ‘Was it isobel who drank, or Gertie? And which was it who ran away with the gigolo, Amy or Pauline? And which of their separated husbands was Lionel, Isobel’s or Amy’s?’
Katrine and I often grin over that sort of book, and choose which sister we’d be, and Katrine always tries to bag the drink one.
So beginnt dieser unglaublich lustige und skurrile, für heutige Leser*innen mitunter auch etwas zu komplexe Roman über die verwitwete Mrs Carne, die mit ihren drei Töchtern unter Middle-Class-Verhältnissen (die Familie beschäftigt mehrere Bedienstete) in London lebt. Die älteste Tochter, Katrine, arbeitet an ihrer Schauspielkarriere; Deirdre, die Ich-Erzählerin von großen Teilen des Buchs, ist Journalistin und sucht erfolglos einen Verlag für ihren ersten Roman und die kleine Sheil treibt mit ihren fantastischen Geschichten über ihre imaginären Freund*innen regelmäßig ihre Gouvernante an den Rand der Verzweiflung. Gemeinsam kultivieren die vier Carnes ein eher ungewöhnliches Hobby: regelmäßig entwickeln sie spontane Obsessionen mit in der Öffentlichkeit stehenden Persönlichkeiten wie dem Pierrot-Darsteller Dion Saffyn oder dem High-Court-Richter Sir Herbert Toddington, die sie zwar nicht persönlich kennen, denen sie aber in elaborierten, über Jahre hinweg aufrecht erhaltenen Rollenspielen persönliche freundschaftliche Beziehungen zu ihrer eigenen Familie andichten (also quasi Real-Person-Fanfiction als Live Action Role Playing). Als Deirdre eines Tages auf einem Wohlfahrts-Basar die echte Lady Toddington kennenlernt, droht das gemeinschaftlich entwickelte Fantasiegebilde einzustürzen. Nachdem die Carnes dann auch noch bei einer Seance versehentlich die Geister der berühmten Schwestern Brontë heraufbeschworen haben, ist das Chaos perfekt…
(Wer sich fragt, was es mit der geisterhaften vierten Figur in diesem Gemälde auf sich hat, kann entweder Branwell Brontë googeln oder aber lieber diesem witzigen Post auf meiner liebsten, sehr vermissten klugen, literarischen, weirden Humor-Seite The Toast nachlesen)
Ich muss zugeben, dass dieser Roman für heutige Leser*innen kein einfaches Buch ist, vor allem, wenn man sich mit dem Milieu und dem Zeitraum, in dem er spielt, nicht besonders gut auskennt. Selbst ich habe bei meiner ersten Lektüre vor mehreren Jahren ziemlich lange gebraucht, bis ich verstanden habe, was darin eigentlich passiert, und viele der Anspielungen und Slang-Ausrücke der damaligen Zeit sind bestimmt komplett an mir vorbeigegangen. Selbst damals fand ich aber das Buch insgesamt sehr unterhaltsam und faszinierend, und in der Zwischenzeit habe ich so viele andere englische Romane aus den 20ern und 30ern gelesen, dass ich bei meiner Relektüre letzte Woche den Kontext viel besser verstanden und dadurch viel, viel mehr aus dem Roman mitgenommen habe und deshalb jetzt zu behaupten wage, dass er eines der witzigsten Bücher ist, die ich kenne.
Was mich an diesem Buch am meisten fasziniert, ist, wie Ferguson darin das vor allem im Social-Media-Zeitalter sehr häufige, spannende Phänomen der Parasozialen Interaktion vorwegnimmt (der Begriff wurde übrigens erst 25 Jahre nach Erscheinen des Romans von Donald Horton und Richard Wohl geprägt). Im Unterschied zu den meist einseitigen Beziehungen, die wir heutzutage zu Instagram-Stars und Youtube-Influencer*innen aufbauen, gehen die Figuren in Fergusons Roman allerdings irgendwann den Schritt von der parasozialen in eine tatsächliche reziproke Beziehung und die Szene, in der die Toddingtons ihre Rolle in diesem fantastischen Spiel nicht nur erkennen, sondern schließlich auch enthusiastisch annehmen, gehört für mich zu den schönsten Passagen im ganzen Buch:
"My dear, we figure in a family saga. I mean, they’ve got a story about us," his face wrinkled with amusement, "and you’re well and truly in it."
"What do I do?" she asked eagerly.
"Just what I asked about myself. I don’t know, yet, the fulls cope of your activities (we must find that out gradually), but my own include a singularly helpless dependence on Mathewson, who chooses all my luncheons for me, plus ill-bred scenes with a defunct pierrot."
Lady Toddington gave a scream of laughter.
"I’ve got a better one than that! - though Sheil was careful to explain tht they didn’t really think it happened. It appears that once you refused to join the Judges’ Michaelmas Term procession, and dug a burrow and hid in it with only yor head out and a mushroom on your wig. And they call you Toddy. And me Lady Mildred."
He swept off his glasses. "But, let me understand you. About the mushroom. Why a mushroom?"
"So as not to be seen, you old silly! You were part of the landscape, with a mushroom on. Oh mercy! I saw that at once!"
"Hah. And was I not discovered?"
“Never!" she answered triumphantly. "Herbert, have you been ringing them up every evening, or is that part of the game, too?"
He looked at her slightly harried face, and shook.
"I really believe I must have. When did I first start telephoning?"
"I don’t know. It sounded like a long time ago."
"Then let’s not question it… Mildred, we’ve been missing a lot of good times, haven’t we?"
"By Jove, my dear, we have!"
Rachel Fergusons Roman ist für mich definitiv ein Buch, das bei jeder neuen Lektüre noch dazugewinnt, weil es darin so viele neue Details zu entdecken und verstehen gibt. Ich wünsche mir, dass sich irgendein*e mutige*r Lektor*in eines deutschsprachigen Verlages in näherer Zukunft mal an diesen Text wagt!
Das war’s mit meinem Bonus-Newsletter, vielen Dank für die Aufmerksamkeit und habt eine schöne Woche! Nächste Woche geht es wie gehabt mit der regulären Ausgabe weiter.
Eure Magda <3
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