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ich schreibe euch diese kurze Sonderausgabe meines Newsletters morgens um 6 vor der Arbeit, weil er unbedingt genau heute erscheinen muss, denn heute wäre eine großartige Autorin hundert Jahre alt geworden, deren Werk ich gerade begeistert für mich entdecke. Zunächst aber ein herzliches Willkommen an all die vielen neuen Abonnent*innen, die in den letzten Tagen aus Marias Newsletter hier herübergeschwappt sind! Schön, dass ihr auch meinem eigenen Newsletter eine Chance geben wollt.
Und nun Vorhang auf für das Geburtstagskind:
Am 1. Juni 1922 wurde die Schriftstellerin Ruth Rehmann geboren, Mitglied der Gruppe 47 und Verfasserin zahlreicher Romane, Erzählungen und Hörspiele. Wer mehr über Rehmanns Leben und Wirken erfahren möchte, sollte dringend diesen tollen Artikel von Nicole Seifert lesen, der am Montag bei 54books erschienen ist.
Rehmanns Debütroman Illusionen erschien erstmals 1959 und obwohl es sich dabei um ein absolut faszinierendes, beeindruckend modernes Stück Literatur handelt, war das Buch seit der letzten Auflage von 1989 vergriffen, bis es der AvivA-Verlag kürzlich anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Autorin endlich neu auflegte. Der Roman, bei dem ich gerade mitten in der begeisterten Lektüre stecke, spielt an einem einzigen Wochenende im September, an dem wir dem Arbeitsalltag (in den 50er Jahren war auch in Bürojobs der Samstag üblicherweise noch ein halber Arbeitstag) und den Freizeitvergnügungen und -enttäuschungen von vier Büroangestellten — die übereifrige, sich voll mit ihrer Arbeit identifizierende Frau Schramm, die einsame Carmen Viol, die immermüde Therese (auch "Babydoll" genannt) und der unzufriedene Paul Westermann — folgen. Beobachtet werden die vier dabei teilweise vom Fensterputzer des vollverglasten Büroturms, dessen 13. Stock unsere Protagonist*innen am frühen Samstagnachmittag mit großen Plänen entfliehen und in den sie doch am Montagmorgen wieder zurückkehren müssen.
Da ich den Roman bisher nur zur Hälfte gelesen habe, kann ich noch nicht so viel über den Inhalt sagen, ich bin aber sehr fasziniert von Rehmanns Stil, den Nicole in ihrem Artikel völlig zu Recht mit Autorinnen der Neuen Sachlichkeit wie Gabriele Tergit und Irmgard Keun vergleicht. Wenn ich ihn fertig gelesen habe, werde ich an anderer Stelle bestimmt noch einmal über das Buch sprechen. In der Zwischenzeit möchte ich euch aber dringend noch ein Bild zeigen, das ich vergangenes Wochenende im Museum der bildenden Künste in Leipzig fotografiert habe, weil es mich sofort an Frau Schramm ("die ihr Privatleben auf dem Altar der Firma geopfert hat" und der nun im Laufe des Romans zu ihrem eigenen Entsetzen von ihrem Chef die baldige Pensionierung nahegelegt wird) erinnert hat:
Ich würde mir sehr wünschen, dass der Neuauflage von Illusionen weitere Wiederveröffentlichungen von Ruth Rehmanns Werk folgen. Vor allem ihr seit 1983 nicht mehr aufgelegter Erzählungsband Paare (erstmals erschienen 1978) hat es mir nämlich sehr angetan. Es geht darin, wie der Titel vermuten lässt, um "Liebespaare – Ehepaare. Paarbeziehungen. Männer und Frauen verschiedener Lebensalter suchen, berühren, verfehlen einander. Hinter Mißverständnissen und Verfehlungen, hinter eingefrorenen Konstellationen und aufgezwungenen Mustern lebt die Sehnsucht nach mehr Wärme, mehr Nähe, mehr Liebe..."
In den zehn Texten (einer davon ist eine nur leicht überarbeite Passage aus Illusionen, die mich schon innerhalb des Romankontextes sehr beeindruckt hat, die aber auch sehr gut als für sich stehende Erzählung funktioniert) geht es ausschließlich um heterosexuelle Paare, die an eigenen Missverständnissen und Fehlkommunikationen, starren Beziehungskonstellationen und gesellschaftlichen Konventionen (allen voran dem guten alten Patriarchat!) immer wieder zu scheitern drohen. Besonders beeindruckt hat mich dabei die Geschichte "Suche nach Jessika", in der eine junge unglückliche Ehefrau eines Abends, statt ihrem von der Arbeit heimgekehrten Ehemann das Abendessen zuzubereiten, einfach wortlos und ohne Geld in der Tasche die gemeinsame Wohnung verlässt. (Die Jessika aus dem Titel ist übrigens eine Katze, weshalb mich der Text auch ein bisschen an Sarah Raichs Kurzgeschichte "Dorothy Parker" aus ihrem Buch Dieses makellose Blau erinnert hat.) Ich möchte euch hier gerne eine längere Passage aus dem Text zeigen, damit ihr euch selbst einen Eindruck von Rehmanns Prosa verschaffen könnt:
Hatte es nicht schon geschellt? Er kam immer so pünktlich aus dem Büro, für sie kam er immer zu früh, sein Schritt auf der Treppe genügte und schon verbreitete sich Langeweile in der Wohnung wie ein Gas, aber er merkte nichts davon. Er nannte das Gemütlichkeit. Und nun hatte Jessika sie allein gelassen.
Sie umklammerte mit der Hand den Rand des Spiegels und dachte: Wenn er es wieder sagt, dann gehe ich einfach fort von hier wie Jessika! Aber als sie in den Strohpantoffeln zur Wohnungstür schlich, um zu öffnen, wünschte sie doch, er würde es diesmal nicht sagen. Er sagte es natürlich doch und küßte sie, ganz improvisiert, ganz der zärtliche Liebhaber, aufs linke Ohr (aber immer küßte er sie aufs linke Ohr, das Ohrläppchen kam ihr schon ganz abge wetzt vor, ganz kalt und gefühllos. Der Liebhaberkuß gehörte ebenso zu seiner Methode wie das allabendliche »Süß siehst du aus, Kleines« ohne sie dabei anzusehen, zu einer Methode des ehelichen Glücks, die er abends am Stammtisch auseinandersetzte, sie war nie dabeigewesen, aber sie hörte deutlich seine verständige, Vertrauen er weckende Stimme sagen: »Ein kleines Kompliment jeden Abend, eine kleine Zärtlichkeit, davon leben sie doch. Sie sind ja so bescheiden!«).
»Süß siehst du aus, Kleines«, sagte er, setzte seine Akten mappe nieder und hängte den Mantel auf, »nimm dir ruhig Zeit mit dem Abendessen.« Er war rücksichtsvoll. Er wußte natürlich, daß sie nichts vorbereitet hatte, daß sie erst hinunterlaufen mußte, um einzukaufen. Auch heute würde sie hinunterlaufen, aber nicht um einzukaufen. Sie sah ihn ins Wohnzimmer gehen, den Rücken beladen mit Langeweile, Licht anmachen, die Zeitung nehmen, in einen Sessel sinken, die Füße auf das türkische Lederkissen legen, die Brille abwischen, aufsetzen, eine Zigarette an zünden und immer dasselbe und immer dasselbe und immer dasselbe, während sie schon wieder vor dem Spiegel im Schlafzimmer saß, sich in die Handknöchel biß und dramatische Augen machte, wie eine Filmschauspielerin, die vor einem verzweifelten Entschluß steht, ohne dabei zu vergessen, schön, rührend und dramatisch auszusehen und das Gesicht im vorteilhaftesten Aspekt der Kamera darzubieten. »Es muß sein!« hauchte sie in jenem heiseren Bühnengeflüster, das ihr im Kino immer die Tränen der Aufregung in die Augen trieb, »ich muß endlich mein eigenes Leben leben«, aber von diesem eigenen Leben hatte sie nur eine nebelhafte Vorstellung, es war jedenfalls anders, nicht anders als, sondern einfach anders, es fing damit an, daß sie »auf die Straße« ging, wie Männer in die Fremdenlegion.
Die junge Ehefrau verlässt nun also nur in ihren alten Pelzmantel gekleidet das Haus und trifft am Fahrkartenautomaten einen jungen Mann, dessen Interesse an ihr sie sich kurzerhand ergibt: "Er sah sie nur aus dem Winkel seiner Augen, aber sie wußte doch genau was er sah. Fremd. Schön. Dame. Geliebte in spe. Flink glitt sie unter die Haut seiner Vorstellung und dehnte sich, bis sie vollkommen paßte – mühelos." Doch die junge Frau stellt schnell fest, dass die Ansprüche, die ihr neuer, unbekannter Verehrer und seine Freunde an sie stellen, vielleicht anders sein mögen als die ihres langweiligen Ehemannes, aber keineswegs angenehmer:
Jemand hob sie auf und setzte sie wie eine Puppe auf einen der hohen Schemel an der Bar, fremder Atem an ihrem Ohr, Glas an den Lippen und sie selbst hundertmal in hundert Spiegelscherben, die in die Rückwand der Bar eingelassen waren, weiß und starr, nur die Ohrringe zitterten, die roten Haare hatten sich über der Stirn aufgerichtet wie im Schrecken und die Augen waren leer und trocken und trotzdem hatte sie noch nie etwas Schöneres gesehen. Einer legte die Hand auf ihren Arm und als er sie wegnahm, war sie erstaunt, daß nichts zurückblieb, kein Mal, kein Schatten eines Fleckens, seht nur, so rein und kühl war diese Haut, nichts haftete an ihr, nichts hinterließ Spuren auf dieser Haut und trotzdem schauderte sie, als derselbe oder ein anderer seine Lippen auf ihre Schulter heftete, als wollte er sie abstempeln und sie wollte doch nicht abgestempelt und gezeichnet sein, von nichts und von niemandem. Er bemerkte ihren Ekel sofort und als er sich aufrichtete, flimmerten seine Augen vor Bosheit. Erschreckt wandte sie sich ab, aber der Kranz von solchen Augen hatte sich dicht um sie geschlossen, das hatte sie ja gewollt, alle sollten sie sehen, sie bewundern, aber nun auf einmal nahmen sie ihr diese Bewunderung übel, die sie ihr doch freiwillig gegeben hatten und erwarteten eine Art Entschädigung für den Aufwand, eine Chance, ihre Vollkommenheit anzukratzen, zu beschädigen.
Wie es in dieser und den neun anderen sehr eindrucksvollen Beziehungsgeschichten von Ruth Rehmann weitergeht, könnt und solltet ihr unbedingt selbst nachlesen — allerdings leider nur, wenn ihr ein antiquarisches oder ein Bibliotheksexemplar von Paare ergattert. Hoffentlich ringt sich bald ein Verlag zu einer Neuausgabe durch!
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich voraussichtlich wieder an einem Mittwoch verschicken, irgendwann im Juni. Bis dahin findet ihr mich mit buchnahem Content auf Twitter.
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eure Magda