"Ich schwöre, ich hab versucht, mich kurz zu fassen!"
Ein viel zu umfangreicher Rückblick auf meine persönlichen Lektürehighlights 2023
Ihr Lieben,
ihr habt ihn sicher schon sehnsüchtig erwartet, deshalb halte ich mich gar nicht lange mit irgendwelchen emotionalen Floskeln auf, denn wir haben heute viel vor: Schon zum dritten Mal, seit ich vor bald 3 Jahren diesen Newsletter gestartet habe, möchte ich euch heute an meinem sehr umfangreichen, sehr subjektiven Rückblick auf mein persönliches Lektürejahr 2023 teilhaben lassen. Ich habe 2023 sowohl von der Anzahl der beendeten Bücher als auch der insgesamt gelesenen Seiten so viel gelesen wie noch nie zuvor in meinem Leben, was mehrere Gründe haben dürfte: sehr viele berufsbedingt notwendige Lektüren im Rahmen zahlreicher freiberuflicher Projekte (Veranstaltungsvorbereitungen, Nachwortrecherchen, Scouting für die Rowohltreihe etc.), der erste richtige Strandurlaub meines Lebens, reduzierte Wochenstunden in der Buchhandlung und, vermutlich besonders ausschlaggebend: meine seit dem Niedergang von Twitter wirklich drastisch heruntergefahrene Social-Media-Nutzung. Basically habe ich 2023 gefühlt jede freie Minute lesend verbracht und weil ich Bücher, die mich gar nicht packen, gnadenlos abbreche und grundsätzlich inzwischen meinen eigenen Geschmack und den Buchmarkt so gut kenne, dass ich eh nur vergleichsweise selten daneben greife, wären es über 50% meiner 2023-Lektüren wert, in diesem Jahresrückblick aufzutauchen. Damit ich und ihr aber nicht übermorgen immer noch vor dieser Newsletterausgabe sitzen, musste ich ein paar Kriterien festlegen, welche meiner Lektüren ich hier heute NICHT erwähnen werde, obwohl sie mich sehr berreichert haben. Alle Bücher, die ich 2023 schon zum zweiten Mal (oder noch öfter) in meinem Leben gelesen habe, sowie alle vergriffenen Backlisttitel, die ich explizit auf eine Eignung für die Reihe rororo Entdeckungen geprüft habe, lasse ich daher außen vor, auch wenn manche von ihnen zu den besten literarischen Texten zählen, die mir 2023 (oder jemals) untergekommen sind — über letztere werdet ihr ja noch früh genug etwas erfahren, sofern wir sie tatsächlich für die Reihe auswählen. Außerdem habe ich im Dezember schon einige deutschsprachige Romane, die erst im Frühjahr 2024 erscheinen werden, vorab gelesen — die haben allerdings alle noch eine Sperrfrist, deshalb werde ich mich über meine Lieblinge darunter erst demnächst äußern. Trotz dieser Ausschlusskriterien komme ich im Folgenden immer noch auf rund 80 Bücher, die mich 2023 nachhaltig berührt, begeistert und herausgefordert haben — sie machen ungefähr ein Drittel meiner Gesamtlektüren aus. Auf geht’s!
Wiederentdeckungen, Neuübersetzungen und ältere Backlisttitel (teils vergriffen)
Da ihr mich als treue Leser*innen inzwischen schon ein bisschen kennt, wird es euch kaum verwundern, dass ich auch 2023 wieder einen Großteil meiner privaten Lesezeit für Backlisttitel bzw. Neuauflagen älterer, zwischenzeitlich vergriffener und vergessener Bücher reserviert habe. Die folgenden Bücher sind mir dabei besonders im Gedächtnis hängengeblieben, präsentiert in der Reihenfolge, in der ich sie gelesen habe:
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Muriel Spark, The Driver’s Seat: Ich habe im Laufe meines Leselebens immer mal wieder einzelne von Muriel Sparks meist recht kurzen Romanen gelesen, die mich mal mehr, mal weniger überzeugt haben, außerdem verfolge ich seit einigen Jahren gespannt Till Raethers Langzeitprojekt, alle 22 Romane von Spark in chronologischer Reihenfolge zu lesen — bisher hatte mich aber noch keines ihrer Bücher so richtig nachhaltig umgehauen. Das änderte sich mit meiner allerersten Lektüre 2023, dem faszinierend-verwirrenden und ziemlich düsteren Roman The Driver’s Seat von 1970, in dem eine junge Frau nicht nur eine Reise ins Ausland, sondern anscheinend auch ihre eigene Ermordung dort penibel vorausplant. Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, was genau in dem Buch nun wirklich passiert ist, aber es lässt mich seit Monaten nicht mehr los und ich werde es bestimmt bald noch ein zweites Mal lesen, um Sparks Genialität auf die Schliche zu kommen.
Nathalie Sarraute, Die goldenen Früchte (Ü: Elmar Tophoven): Anfang Januar bin ich während eines Spaziergangs durch meinen Kiez spontan in ein Antiquariat gestolpert und habe mein letztes Bargeld aus den Manteltaschen zusammengekratzt, um mir eine alte und äußerst ansprechend gestaltete DDR-Ausgabe von Nathalie Sarrautes nouveau roman zu kaufen, ohne näheres über das (leider vergriffene) Buch zu wissen. Noch am selben Nachmittag habe ich mich total in Sarrautes beißender Literaturbetriebssatire, in der alle Figuren namen- und gesichtslos bleiben, sich aber auf für die Leserin höchst amüsante, obwohl oft überhebliche Art ununterbrochen über Literatur streiten. Ich möchte jetzt natürlich auch dringend bald mehr von Sarraute lesen.
Randall Kenan, Let the Dead Bury Their Dead: Randall Kenans einziger Roman Der Einfall der Geister (Ü: Eva Bonné/Aminata Cissé) war vorletztes Jahr ja eines meiner späten Jahreshighlights, weswegen ich mir damals gleich noch seine erste Kurzgeschichtensammlung besorgt habe, die ursprünglich 1992 erschien. Sie spielt in der fiktiven südstaatlichen Kleinstadt Tims Creek, North Carolina, wo Geister, Mythen und Volksglauben im Leben der verschiedenen Bewohner*innen eine mindestens genauso große Rolle spielen wie Fragen von Armut, Sexualität, Rassismus, Gewalt usw. Eine der besten amerikanischen Kurzgeschichtensammlungen, die ich kenne!
Roy DeCarava/Langston Hughes, The Sweet Flypaper of Life: Während ich für mein Nachwort zu Louise Meriwethers Eine Tochter Harlems recherchiert habe, stieß ich u.a. auf diese Kollaboration zwischen dem Fotografen Roy DeCavara und dem Dichter Langston Hughes, die ursprünglich in den 1950ern erschien und zum Glück auch heute noch bzw. wieder in einer neuen Ausgabe lieferbar ist. Das schmale Bändchen enthält zahlreiche Fotos, die DeCavara vom Alltag der Schwarzen Bevölkerung Harlems gemacht hat; Hughes verwebt diese eigentlich unabhängig voneinander entstandenen Bilder mit kurzen Texten aus der Perspektive einer alten Harlemer Großmutter zu einer fortlaufenden Erzählung über das beschwerliche und doch bereichernde Leben, Lieben und Lachen Schwarzer Familien in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Ein unglaublich berührendes Gesamtkunstwerk!
"Of course, when I wake up some morning and find my own self dead, then I'll come home. But right now, you understand me, Lord, I'm so tangled up in living, I ain't got time to die."
Károly Pap, Azarel (Ü: Friederika Schag): Diesen autobiografischen Roman des ungarisch-jüdischen Autors Károly Pap, der vermutlich 1945 im KZ Bergen-Belsen ermordet wurde, habe ich ganz zufällig in einer alten DDR-Ausgabe im öffentlichen Bücherschrank bei mir ums Eck gefunden. Er handelt von Gyuri, dem Sohn eines fortschrittlichen ungarischen Rabbiners, der bereits als sehr kleines Kind von seinen Eltern in die Obhut seines strenggläubigen Großvaters gegeben wird. Als er nach dessen Tod zurück in den Schoß seiner Familie kehrt, kann er sich in die "von Sparsamkeit, Vernunft, Bescheidenheit bestimmte prosaische Lebens- und Geisteswelt seiner Eltern und seiner beiden Geschwister" nur schwer einleben und die gesellschaftlich akzeptierten Grenzen zwischen Fiktion und Realität, zwischen Märchenwelt und Alltagsleben, kaum akzeptieren und beginnt deshalb, gegen seine Rabbiner-Familie zu rebellieren. Ein inhaltlich oft schmerzhaftes, fast trostloses Buch, das mich dennoch vor allem sprachlich sehr fasziniert hat und mich in eine Lebenswelt, nämlich die jüdische Gemeinschaft im Ungarn des frühen 20. Jahrhunderts, eingeführt hat, über die ich nun gerne mehr erfahren möchte.
Marie Luise Kaschnitz, Wohin denn ich: Auch dieses Buch war ein antiquarischer Impulskauf, Kaschnitz schreibt darin autobiografisch über ihre intensive Trauerphase nach dem Tod ihres Mannes und ihre Schwierigkeiten, nach dieser schweren Zeit wieder in der Welt der Literatur und der öffentlichen Aufmerksamkeit Fuß zu fassen. Eine kurze SPIEGEL-Notiz aus dem Erscheinungsjahr 1963 tut den Band wenig einfühlsam als "zweihundert Seiten Selbstgespräch und »Plappern«" ab, ich dagegen habe das gar nicht so empfunden, im Gegenteil hat mich das Buch sehr berührt und immer wieder an z.B. neuere Veröffentlichungen von Gabriele von Armin oder Helga Schubert denken lassen.
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Amalie Skram, Die Leute vom Hellemyr (Ü: Nora Profrock, Christel Hildebrandt und Gabriele Haefs): Mein größtes Lektüreprojekt gleich zu Anfang des Jahres war bekanntlich Amalie Skrams vierbändige norwegische Familiensaga aus dem 19. Jahrhundert, die ich im Rahmen des Online-Lesekreises #HellemyrLesen mit einigen von euch intensiv besprochen habe, deshalb halte ich mich hier kurz, das könnt ihr ja alles in den alten Lesekreisposts nachlesen. Auf jeden Fall ein großes persönliches Jahreshighlight, sowohl die Bücher als auch das Projekt Lesekreis.
Yuko Tsushima, Territory of Light (Ü: Geraldine Harcourt): Dieser sehr ruhige japanische Episodenroman über die Sorgen und Ängste einer jungen alleinerziehenden Mutter ist letztes Jahr auch in einer neuen deutschen Übersetzung (Räume des Lichts, Ü: Nora Bierich) erschienen, die leider ein bisschen untergegangen ist, die ich euch aber sehr ans Herz legen möchte. Weil ich zu dem Zeitpunkt aber die englische Ausgabe der Penguin Modern Classics schon besaß, habe ich diese Version (und die deutsche Ausgabe nur quer)gelesen. Der Roman, ursprünglich in zwölf Folgen für eine japanische Literaturzeitschrift verfasst, folgt dem Alltag einer jungen Frau, die nach der Trennung von ihrem Mann zusammen mit ihrer kleinen Tochter die lichtdurchflutete Wohnung in der obersten Etage eines in die Jahre gekommenen Bürogebäudes bezieht. Diese titelgebenden Räume des Lichts stehen dabei symbolisch auch für die kleinen Phasen des Glücks, die immer wieder aufblitzenden Momente der Hoffnung, Liebe und Solidarität, die die Protagonistin in ihrem ansonsten von Überforderung, Trauer, Einsamkeit – und immer wieder auch vom Tod – geprägten Leben erfährt. Ein leiser, poetischer, melancholischer und dabei dennoch hoffnungsvoller Roman!
Penelope Mortimer, Daddy’s Gone A-Hunting und andere: Auch Penelope Mortimer ist in meinem letzten Jahresrückblick schonmal aufgetaucht, damals mit ihrem Roman The Pumpkin Eater. Weil 2023 mit Bevor der letzte Zug fährt (orig. Daddy’s Gone A-Hunting, Ü: Kristine Kress) zum ersten Mal seit den 60ern wieder ein Roman von ihr ins Deutsche übersetzt wurde, hatte ich mir das zum Anlass genommen, mir endlich mal den Stapel weiterer Mortimers vorzunehmen, den ich schon seit vorletztem Jahr zuhause liegen hatte. Und dann bin ich in einen regelrechten Mortimer-Rausch verfallen und konnte gar nicht mehr damit aufhören, sie zu lesen. Daddy’s Gone A-Hunting erzählt von der Zahnarztgattin Ruth, die eigentlich glücklich sein müsste mit ihren drei wohlgeratenen Kindern, dem schönen Haus in einem idyllischen Londoner Vorort, dem erfolgreichen Ehemann, den endlosen Kaffekränzchen mit den anderen Vorstadtfrauen usw. In Wahrheit langweilt sie sich zu Tode, und als ihre 18jährige Tochter ihr anvertraut, ungewollt schwanger zu sein, setzt sie alles daran, dieser ein ähnliches Schiksal zu ersparen… In My Friend Says It‘s Bullet-Proof (leider vergriffen) folgen wir Muriel, Autorin für eine Frauenzeitschrift, die sich nach einer Brustkrebserkrankung und der darauf folgenden einseitigen Brustamputation von ihrem Partner trennt und sich als einzige Frau in einer Gruppe englischer Journalisten auf eine Pressereise nach Kanada begibt. Während dieser Reise muss sie sich, ihren Körper und ihr Selbstbild neu kennenlernen und herausfinden, was sie eigentlich vom Leben und von der Liebe wirklich will. The Home handelt Eleanor, der Mutter mehrerer inzwischen erwachsener Kinder, die nach langjähriger Ehe, während der sie ihrem Mann den Rücken freigehalten hat, von ihm für eine jüngere Frau verlassen wird. Nach der von ihm initiierten Scheidung steht sie vor der Aufgabe, ein neues Zuhause für sich und ihre Kinder, die sie eigentlich längst nicht mehr brauchen, zu schaffen und sich in ihrem ungewohnten Singleleben einzurichten, dabei immer unter der Beobachtung ihrer Mutter und Ex-Schwiegermutter stehend. Saturday Lunch With The Brownings ist eine Kurzgeschichtensammlung, deren Geschichten ganz ähnliche Themen aufgreifen und dabei subtil und doch wirkungsvoll immer wieder den Horror einfangen, der unter der Oberfläche der scheinbar perfekten Häuslichkeit brodelt. Penelope Mortimer erinnert mich in ihren Themen und ihrer Umsetzung immer wieder stark an Autorinnen wie Shirley Jackson oder Marlen Haushofer, weshalb es nicht weiter verwunderlich ist, dass ich ihren Romanen 2023 so verfallen bin. Ein paar ihrer Bücher habe ich zum Glück noch vor mir, bevor ich mir dann bald die nächste Göttin der "Dark Side of Domesticity" suchen muss!
Celia Dale, A Dark Corner: Auch Celia Dale kam im letzten Jahresrückblick schonmal vor und vermutlich wird das auch in zukünftigen wieder der Fall sein, denn ihre Domestic Thrillers werden gerade im englischen Original nach und nach wieder aufgelegt, was mich sehr freut, weil ich auch A Dark Corner wieder ausgesprochen spannend fand. Es geht darin um ein älteres weißes englisches Ehepaar, die eines verregneten Abends widerwillig einem kranken Schwarzen jungen Mann bei sich Obhut geben, der sich in der Adresse geirrt hat. Als er nach einigen Tagen wieder gesund ist, bieten sie ihm, weil er so anständig, höflich und hilfsbereit ist, an, längerfristig bei ihnen wohnen zu bleiben. Zunächst scheint das Zusammenleben harmonisch, er entwickelt ein enges emotionales Verhältnis zu seiner Gastgeberin und auch ihr grummeliger Ehemann scheint ihm gegenüber langsam aufzutauen — etwas zu sehr allerdings, denn schon bald weiht dieser den jungen Mann in ein schreckliches Geheimnis ein, das ein weiteres friedliches Zusammenleben für alle Beteiligten unmöglich macht…
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Marianne Fritz, Die Schwerkraft der Verhältnisse: Ich habe lange darauf gewartet, dass Marianne Fritz’ Debütroman von 1978 endlich wiederaufgelegt wird, damit ich sie lesen kann, diese Geschichte über eine "kleinbürgerliche Medea", die nach dem Kriegstod ihres Verlobten erst dessen an seiner Stelle heimgekehrten Freund heiratet, später an der "Schwerkraft der Verhältnisse" der Nachkriegsgesellschaft zu zerbrechen droht und schließlich, nach dem Mord an ihren beiden Kindern, in einer psychiatrischen Anstalt endet, während ihr Mann mit ihrer ehemals besten Freundin eine neue Familie gründet. Kein leichtes Buch, aber eines, in dem viel drinsteckt, sprachlich und zwischen den Zeilen.
Sara Gallardo, January (Ü: Frances Riddle & Maureen Shaughnessy): Dieser argentinische Kurzroman aus den 60er Jahren über ein junges Mädchen, das sich nach einer Vergewaltigung vergeblich um eine Abtreibung bemüht, bevor sie schließlich in die Hochzeit mit ihrem Vergewaltiger einwilligt, ist inhaltlich alles andere als erbaulich, hat mich aber sprachlich und aufgrund der für seine Entstehungszeit radikalen Perspektive, in der die Folgen einer Vergewaltigung ungeschönt aus der Sicht des Opfers erzählt werden, sehr beeindruckt.
Margarita Liberaki, Three Summers (Ü: Karen van Dyck, dt. Drei Sommer, Ü: Michaela Prinzinger): Meinen Sommerurlaub habe ich 2023 auf einer griechischen Insel verbracht, da kam dieser griechische Coming-of-Age-Klassiker über drei Schwestern, die auf einem Landgut außerhalb Athens aufwachsen, natürlich gerade richtig. Es geht darin, wie in vielen Sommer-Coming-of-Age-Romanen, um die erste Liebe und den Verlust kindlicher Unschuld, es geht um die einengenden Rollenvorstellungen, denen Frauen sich unterordnen mussten (und viel zu oft immer noch müssen), es geht um Familiengeheimnisse und Identitätskonflikte, und dabei liegt immer diese gewisse gefährliche sommerliche Flimmern in der Luft, das wir aus Büchern wie Bonjour Tristesse kennen.
Margaret Kennedy, The Feast (dt. Das Fest, Ü:Mirjam Madlung): Ein weiterer "düsterer Sommerroman" ist Margaret Kennedys zynische Gesellschaftssatire über die Freundschaften, Romanzen, Fehden und Feindschaften zwischen den Bewohner*innen eines heruntergekommenen Hotels an der englischen Küste, von dem wir schon zu Beginn des Romans erfahren, dass es am Ende der Geschichte nach einem Gesteinsschlag einen großen Teil des Romanpersonals unter seinen Trümmern begraben wird. Wer sich zur Zeit des Unglücks außerhalb des Hauses und damit in Sicherheit aufhielt, und warum, das erfahren wir im Laufe dieser gleichermaßen spannenden wie bitterbösen Dramödie.
Fanny Lewald, Jenny: Fanny Lewald hat etwa zur gleichen Zeit geschrieben wie ihre englischen Kolleginnen Emily, Anne und Charlotte Brontë, ist aber weder hierzulande geschweige denn international auch nur ansatzweise so bekannt wie diese. Und auch wenn man ehrlicherweise zugeben muss, dass beispielsweise ihr autobiographisch inspirierter Roman Jenny nicht ganz an die Genialität von Jane Eyre oder Wuthering Heights herankommt, muss er sich doch auch nicht vor ihnen verstecken. Ich war positiv überrascht davon, wie modern und gut lesbar ich diese — leider unglücklich verlaufende — Liebesgeschichte über die Geschwister Jenny und Eduard Meier, Kinder einer jüdischen Bankiersfamilie, die sich beide jeweils in christliche Partner*innen verlieben, fand, in der Fanny Lewald ein eindrückliches Bild des im 19. Jahrhundert grassierenden Antisemitismus zeichnet und dabei auch deutliche Kritik an den beschränkten Möglichkeiten, die Frauen ihrer Zeit offen standen, übt, ohne dass dabei ihr feiner Humor auf der Strecke bleibt.
Chava Rosenfarb, Durch innere Kontinente. Ein Lesebuch (Ü: Sandra Israel-Niang): Was bin ich dankbar, dass ich durch dieses umsichtig zusammengestellte Lesebuch mit Gedichten, Essays, Erzählungen und Romanauszügen die jiddische Schriftstellerin Chava Rosenfarb entdecken durfte, deren zwar noch nicht ins Deutsche, aber zum Glück ins Englische übersetzte Romanzyklen über die verlorene Welt polnischer Shtetl bzw. über das Leben im Łódźer Ghetto sich schon für 2024 bei mir zuhause stapeln.
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Leigh Brackett, Das lange Morgen (Ü: Hannes Riffel): Über diesen postapokalyptischen Roman der in Deutschland kaum bekanten "Queen of Space Opera" Leigh Brackett habe ich vor ein paar Monaten im Newsletter bereits ausführlich berichtet, er bleibt aber eines meiner überraschendsten Jahreshighlights.
Christianna Brand, Green For Danger: Vorletztes Jahr habe ich, einige erinnern sich vielleicht, Christianna Brands Krimi Fog of Doubt zufällig im Antiquariat entdeckt und sehr gerne gelesen. Inzwischen sind mehrere von Brands Krimis wiederaufgelegt worden, darunter das sehr spannende Kammerspiel Green for Danger, das in einem englischen Militärkrankenhaus während des Blitzkriegs spielt. Erst stirbt ein älterer Patient unter mysteriösen Umständen auf dem OP-Tisch, dann kommt eine Krankenschwester aus dem engen Kreis der Verdächtigen gewaltsam zu Tode… Inspektor Cockrill hat es nicht leicht, zwischen medizinischen Notfällen und regelmäßigem Fliegeralarm Motiv und Täter*in ausfindig zu machen…
Kathleen Farrell, Mistletoe Malice: Als ich mir diese weihnachtliche Wiederentdeckung, die kürzlich zum ersten Mal seit Jahrzehnten neu aufgelegt worden ist, gekauft habe, dachte ich, es würde sich dabei um einen typischen Country-House-Weihnachtskrimi handeln, nur um dann nach Lektürebeginn überrascht festzustellen, dass darin gar kein Mordfall oder sonstiges Verbrechen vorkam. Stattdessen geht es um die verschiedenen Mitglieder einer extrem dysfunktionalen Familie, die zu den Weihnachtsfeiertagen im Hause der verwitweten, herrschsüchtigen Familienmatriarchin zusammenkommen und sich gegenseitig nicht nur im übertragenen Sinn fast die Köpfe einschlagen. Der fehlende Krimiplot hat meinem Lesevergnügen aber keinerlei Abbruch getan, ich habe mich auch so ganz köstlich amüsiert über all die romantischen, finanziellen und sonstigen Eifersüchteleien, die den ganzen Roman über immer wieder zwischen den Figuren hochkochen.
Marita Golden, Long Distance Life: Ein sehr wichtiger Mensch hat im Herbst während einer Kalifornienreise in Oakland die älteste "black-owned" Buchhandlung der USA besucht, dort der Buchhändlerin meinen Literaturgeschmack beschrieben und dann ihre Empfehlung als Mitbringsel für mich gekauft — inklusive einer superlieben handschriftlichen Widmung "von Buchhändlerin zu Buchhändlerin". Als wäre das alles nicht schon bedeutend genug, hat sich die Lektüre, eines meiner letzten 2023 beendeten Bücher, natürlich auch noch als absoluter Knaller erwiesen. Ich hatte von der Autorin Marita Golden noch nie etwas gehört, dieser Roman von ihr ist in den 80ern erschienen und es ist mir völlig schleierhaft, warum er nicht bekannter ist. Er erzählt die Geschichte mehrerer Generationen einer Schwarzen Familie, die es im Laufe des Romans von North Carolina nach Washington, D.C. verschlägt. Wir lesen von Naomi, die Familienmatriarchin, die als junge Frau ihre auf einer Farm lebende Herkunftsfamilie, ihren ungeliebten Ehemann und damit die an sie gestellten Rollenerwartungen zurück lässt, um im Norden ihr Glück zu suchen, was ihr u.a. dank des "Numbers Game" (das wir aus Louise Meriwethers Eine Tochter Harlems schon kennen) auch schnell gelingt. Wir lesen von Esther, ihrer Tochter aus zweiter, glücklicher Ehe, die in jungen Jahren ihr Studium abbricht und sich in eine Affäre mit einem älteren verheirateten Mann stürzt, mit dem sie einen Sohn bekommt, den sie bald bei Naomi zurücklässt, um sich als Bürgerrechtsaktivistin politisch zu engagieren. Wir lesen von Logan, der sich jahrelang nach seiner abwesenden Mutter verzehrt und all seine Wut und Trauer in eine Laufbahn als Arzt kanalisiert. Und wir lesen von Nathaniel, Esthers zweitem Sohn, der erst nach dem Tod seines Vaters auf die Welt kommt, den Esther mit all der Zuneigung und Aufmerksamkeit überschüttet, die sie ihrem ersten Sohn verwehrt hat, und der dennoch schon in jungen Jahren als Drogendealer auf die schiefe Bahn gerät. Doch die große Konstante zwischen all den persönlichen Schicksalsschlägen, den größeren gesellschaftlichen Umschwüngen, den vielen guten und schlechten Entscheidungen, die von den Figuren im Laufe der Jahre getroffen werden, ist die große, unerschütterliche Liebe, die alle Familienmitglieder füreinander empfinden, egal, wie die äußeren Umstände aussehen.
"At nineteen, Esther's vision of womanhood encompassed only the narrowest range of choices. At nineteen, Esther could not imagine painting a landscape for her life drenched in as many tones, riddled by as many contours as her life now possessed. Guilt-ridden, afraid, she had returned home to find love intact, worn at the edges, still possible. She had returned, brimming with a knowledge too exacting to share yet that inspired respect and wonder in the hearts of those who mattered most. And now she loved herself as she never had before. She loved herself and jealously guarded that love, savored the thought of it at times when she was alone, laughed aloud at the pleasure of it, hoarded it, felt it possess and define her.
For the first time, Esther was prepared to allow herself to be happy."
Lisa Tuttle, My Death: Im Vorwort zu dieser Neuauflage von Lisa Tuttles Kurzroman habe ich endlich eine passende Bezeichnung für eines meiner persönlichen Lieblingsgenres gelernt, nämlich "the romance of the archive", also Geschichten, in denen sich eine Figur auf eine archivische Spurensuche nach dem Leben und Werk einer anderen (fiktiven) historischen Person begibt. In My Death ist es eine nach dem Tod ihres Partners unter einer Schreibblockade leidende Schriftstellerin, die durch einen Zufall dazu inspiriert wird, sich an der Biographie einer vergessenen modernistischen Autorin und Künstlerin zu versuchen. Als sie herausfindet, dass die hochbetagte Künstlerin noch lebt, und einen Interviewtermin mit ihr verabredet, beginnen seltsame Ereignisse ihren Lauf zu nehemn und die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart immer mehr zu verschwimmen…
Aktuellere Übersetzungen
Ich habe leider mal wieder viel weniger zeitgenössische Literatur in Übersetzung gelesen, als ich mir immer vornehme, und über die meisten der hier genannten Bücher habe ich in der einen oder anderen Newsletterausgabe des letzten Jahres schon recht ausführlich geschrieben, deshalb halte ich mich an dieser Stelle ziemlich kurz. Diese vier Bücher waren meine liebsten Übersetzungen aus anderen Sprachen als dem Englischen:
Lina Meruane, Nervous System (Ü: Megan McDowell): Am Anfang habe ich ein wenig gebraucht, um in den unkonventionellen Erzählstil (kurze Vignetten, keine zeitliche Linearität, keine Namen, etc.) von Lina Meruane, die im Original auf Spanisch schreibt, hineinzufinden, aber bald hat diese Geschichte über Körper und Krankheiten, Verlust und Vertreibung, über komplexe politische, Familien- und Kommunikationssysteme und die Traumata, die in ihnen vererbt werden, dann doch einen Sog entwickelt, dem ich mich gar nicht mehr entziehen konnte. Die deutsche Übersetzung von Susanne Lange unter dem Titel Nervensystem habe ich nach meiner Lektüre der englischen Version auch noch quergelesen und finde sie ebenfalls sehr gelungen.
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Fernanda Trías, Rosa Schleim (Ü: Petra Strien): Um Krankheiten, Pflegearbeit und komplizierte Famlienbeziehungen geht es auch in dieser sehr poetischen, melancholischen Klimadystopie der uruguayischen Autorin Fernanda Trías. Die Geschichte über eine geheimnisvolle Pandemie (die aber schon vorm ersten Coronaausbruch geschrieben wurde) stellt wichtige Fragen über (un)bezahlte Care-Arbeit und die Freiwilligkeit von zwischenmenschlichen Beziehungen, hat mich aber vor allem auch sprachlich (in der sehr stimmigen Übersetzung von Petra Strien) sehr abgeholt.
Myriam Leroy, Rote Augen (Ü: Daniela Högerle): Erst war ich mir unsicher, ob das Konzept, die gesamte Geschichte nur indirekt anhand der Nachrichten eines Online-Stalkers zu erzählen, über einen ganzen Roman hinweg trägt. Aber Myriam Leroy hat hier wirklich ein extrem beeindruckendes und erschütterndes Bild von digitaler gewalt und Frauenhass, Täter-Opfer-Umkehr und Himpathy gezeichnet, mich seit der Lektüre nicht mehr loslässt und an das ich bei jedem unangenehmen Onlinekommentar eines Mannes sofort wieder denken muss.
Chi Hui, Das Erbe der Menschheit und andere Geschichten (Ü: Felix Meyer zu Venne, Lukas Dubro und Chong Shen): Meine Begeisterung über Chi Huis Science-Fiction-Geschichten habe ich ja in einer früheren Ausgabe schon laustark kundgetan, sie gehören definitiv zum kreativsten und ungewöhnlichsten, was ich letztes Jahr gelesen habe.
Deutschsprachige Belletristik-Neuerscheinungen
Auch über die meisten der folgenden deutschsprachigen Novitäten aus dem Jahr 2023 habe ich in vorherigen Ausgaben des Newsletter bereits geschrieben, möchte sie aber trotzdem hier noch einmal Revue passieren lassen, weil sie zu meinen Lieblingslektüren des Jahres zählen:
Elisabeth Klar, Es gibt uns: Ein so ein stranges, schleimiges, trauriges, kinky, kompliziertes, poetisches, rundherum völlig neues und eigenständiges Buch wie Elisabeth Klars "Schleimsexbuch" habe ich schon lange nicht mehr gelesen! Eine unglaublich faszinierende futuristisch-apokalyptische Geschichte rund um Oberon und Titania, Theater und Consent Culture, Quallen und Schleimtierchen, die sich nur schwer zusammenfassen lässt und die ihr daher am besten einfach selbst erleben müsst.
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Anne Rabe, Die Möglichkeit von Glück: Was soll ich sagen, ich wusste schon, als ich im Herbst 2022 das Manuskript zu sehen bekommen habe, dass Anne Rabes Debüt ganz sicher mein deutschsprachiges Buch des Jahres werden würde, und daran hat sich auch nichts geändert, als ich es dann in der fertigen Fassung nochmal gelesen habe. In meinem Blurb, den der Verlag hinten auf dem Buch abgedruckt hat, habe ich eigentlich alles dazu gesagt, was es zu sagen gibt!
Helga Schubert, Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe: Kaum ein autobiografischer Text hat mich nicht nur letzets Jahr, sondern jemals so sehr berührt wie Helga Schuberts kluge, klarsichtige, liebevolle Schilderung ihres Alltags mit ihrem dementen Ehemann, den sie seit vielen Jahren ganz alleine pflegt. Habe beim Lesen mehrmals geweint!
Till Raether, Die Architektin: Till hat es schon wieder geschafft, mich mit einem Roman über ein Thema, das mich normalerweise wirklich null interessiert, total zu begeistern — diesmal mit Architektur und Korruption in der Berliner Baubranche der 70er Jahre. Niemals hätte ich zu einem Buch mit diesem Setting gegriffen, wenn nicht Tills Name darauf gestanden hätte, und wow, wäre mir dann aber was entgangen! Seine Dialoge sind so witzig und glaubwürdig, seine Figuren trotz ihrer Charakterschwächen so sympathisch, und es gibt sogar ein kleines Bärensex-Easter-Egg! Ich werde auch in Zukunft jeden neuen Roman von Till sehnsüchtig erwarten und begeistert verschlingen, da bin ich mir ziemlich sicher.
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Sarah Raich, Hell und laut: Von Sarahs Roman über Hrotsvit von Gandersheim, die erste deutsche Dichterin, dem ich ein Nachwort beisteuern durfte, habe ich an verschiedener Stelle schon ausgiebig geschwärmt, er darf in meiner Bestenliste aber natürlich nicht fehlen.
Elfi Conrad, Schneeflocken wie Feuer: Über wenige Ereignisse des vergangenen Literaturjahres habe ich mich so gefreut wie über den Erfolg von Elfi Conrads Roman, der völlig zurecht nicht nur die Herzen des allgemeinen Lesepublikums, sondern auch der Kritiker*innen erobert. Wie darin die fast 80jährige Protagonistin auf ihre Jugend in der Nachkriegszeit, auf ihre Familiendynamiken und ihr damaliges sexuelles Verhältnis mit einem jungen Lehrer zurückblickt, habe ich, obwohl die Themen an sich nicht neu sind, in dieser spezifischen Erzählform noch nie gelesen.
Antonia Baum, Siegfried: Es war mein erster Roman von Antonia Baum, aber sie schreibt darin so gut und klug und authentisch über die Doppelbelastung von Autorinnen- und gleichzeitiger Mutterschaft, romantische (Hetero-)Beziehungsstrukturen innerhalb unserer patriarchalen Gesellschaft, das Aufdecken innerfamiliärer Konflikte und Gewaltstrukturen und den daraus resultierenden intergenerationellen Traumata, dass ich jetzt große Lust habe, auch ihr restliches Werk zu erkunden.
Susanne Amtsberg, Fossis: Während der Lektüre dieses sehr ungewöhnlichen Paläontologie-Krimis habe ich ständig nebenher Wikipedia offen gehabt, weil ich so viel nachsschlagen wollte. Nicht, weil der Roman sonst zu schwer zu verstehen war, sondern einfach, weil die vielen wissenschaftlichen Details und Andeutungen mich ungemein neugierig gemacht haben. Angeblich handelt es sich hier um Teil 1 einer Trilogie und ich hoffe sehr, dass Susanne Amtsberg den nächsten Band schon so gut wie fertig hat.
Alena Schröder, Bei euch ist es immer so unheimlich still: Ich mochte schon den Vorgänger Junge Frau, am Fenster stehend etc. unglaublich gern und empfehle ihn immer noch viel in der Buchhandlung, aber wenn ich ganz ehrlich bin, hat mich Alena Schröders neuer Roman sogar noch ein kleines bisschen mehr begeistert. Er spielt wieder im gleichen "Universum" wie Junge Frau, diesmal aber abwechselnd in der Nachkriegs- und in der Wendezeit und nicht mehr in Berlin, sondern in einer Kleinstadt in Schwaben. Es geht um das oft schwierige Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern, um coole Tanten und gruselige Untermieter, um Erwartungsdruck und beengende Geschlechterrollen, und das Ganze wieder unglaublich sympathisch, authentisch und mitreißend erzählt. Ich kann den nächsten Roman aus dieser Erzählwelt kaum erwarten!
Susan Kreller, Salzruh: Über diesen ostdeutschen Schauerroman über ein mysteriöses Hotel im Wald, das die Gäste wochenlang nicht verlassen dürfen, habe ich im Newsletter schonmal ausführlich geschrieben, ich finde es völlig unverständlich, warum dieser stilistisch und inhaltlich so eigensinnige und genau dadurch besonders faszinierende Text im letzten Jahr so wenig Aufmerksamkeit bekommen hat.
Jarka Kubsova, Marschlande: Jarka Kubsova begibt sich in diesem auf zwei Zeitebenen erzählten Roman auf die Spuren einer Bäuerin, die im 16. Jahrhundert in den Hamburger Marschlanden als Hexe verbrannt wurde, und zeigt dabei auf, wie die Folgen von historischem Frauenhass und Hexenverfolgungen bis in heutige Gesellschaftsstrukturen hineinreichen. Mich hat’s von der ersten Seite an gepackt.
Englische Belletristik (< 10 Jahre alt):
Ich habe natürlich auch wieder sehr viele sehr gute englische Bücher neueren Datums gelesen, die meisten davon sind in den letzten ein oder zwei Jahren erschienen, einige sind schon etwas älter, aber nicht alt genug, um in eine andere Kategorie zu passen. Es sind übrigens auffällig viele Romane von irischen Autor*innen unter meinen Jahresfavoriten:
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Audrey Magee, The Colony: Das erste einer Reihe ganz fantastischer zeitgenössischer irischer Bücher, das ich 2023 gelesen habe, war Audrey Magees Roman über einen aus der Mode gekommenen englischen Maler, der sich 1979 in einer Hütte auf einer kleinen, abgelegenen irischen Insel, deren Bewohner*innen hauptsächlich vom Fischfang leben, einmietet, um die dortigen Klippen zu malen. Gleichzeitig mit ihm kommt auch ein französischer Linguist auf der Insel an, der seit Jahren den besonderen, da kaum vom Englisch der britischen Kolonialmacht verunreinigten irischen Dialekt erforscht, den nur noch wenige Mitglieder der alteingesessenen, in fast vollständiger Isolation lebenden Inselbevölkerung sprechen. Nicht nur aufgrund des linguistischen Störfaktors ist der englische Maler dem Sprachwissenschaftler ein Dorn im Auge. Denn beide Männer fühlen sich sehr zu Mairéad hingezogen, der jungen und schönen Witwe, die auf der Insel ihre Gastgeberin ist. Deren 15jähriger, künstlerisch begabter Sohn hadert derweil mit seiner Zukunft als Fischer und sucht die Nähe des Engländers. Während auf der Insel die Konflikte und Sehnsüchte schwelen, bricht auf dem Festland eine Welle der Gewalt aus, denn der Nordirlandkonflikt ist in vollem Gange… Der Roman erscheint dieses Frühjahr unter dem Titel Das Habitat auch auf Deutsch — übersetzt von keiner geringeren als Nicole Seifert. Unbedingt vormerken!
Rónán Hession, Leonard and Hungry Paul (dt. Leonard und Paul, Ü: Andrea O’Brien): Immer, wenn mich letztes Jahr ein*e Kund*in nach einem leichten, aber nicht seichten Buch gefragt hat, habe ich diesen leisen, unglaublich liebenswürdigen Roman empfohlen, in dem zwei Freunde in ihren 30ern ihren Platz im Leben suchen und schießlich finden. Die beiden Figuren Leonard und Paul sind in ihrer Liebenswürdigkeit nah verwandt mit Andrew Sean Greers tollpatschig-sympathischem Helden Arthur Less und der Roman hat mich auch ungefähr genauso oft zum Lachen gebracht.
Claire Keegan, Foster: Claire Keegan ist spätestens seit vorletztem Jahr zumindest im englischsprachigen Raum in aller Munde, ihre Novelle Small Things Like These konnte mich aber damals irgendwie nicht so recht überzeugen — vielleicht hat sie mich zum falschen Zeitpunkt erwischt. Ganz anders ging es mir mit Foster, der Geschichte eines jungen irischen Mädchens aus einer sehr kinderreichen Familie, die zur Entlastung ihrer Mutter über die Sommerferien zu einem älteren, kinderlosen Ehepaar draußen auf dem Land geschickt wird. Von diesen Fremden erfährt sie endlich die Liebe und Zuneigung, die in ihrem Familienalltag bisher immer zu kurz kam, und beginnt langsam aufzutauen, bis sie schließlich das traurige geheimnis ihrer Pflegeeltern erfährt. Selten habe ich einen literarischen Text erlebt, der auf so wenigen Seiten so eine große emotionale Wucht entfaltet!
Eimear Ryan, Holding Her Breath: Nachdem mir im Jahr davor Louise Nealons Snowflake so gut gefallen hatte, war dieses Jahr Eimear Ryans Debütroman meine irische College-Coming-of-Age-Geschichte of choice. Protagonistin Beth, Enkeltochter eines berühmten, tragisch zu Tode gekommenen irischen Dichters, war bis zu ihrem emotionalen Zusammenbruch Leistungsschwimmerin, nun geht sie auf die Universität und muss sich ganz neu erfinden. Durch ihren neuen, literaturinteressierten Freundeskreis angestachelt, beginnt Beth, sich für ihre Familiengeschichte zu interessieren und dem Schicksal ihres Großvaters auf den Grund zu gehen. Je tiefer sie gräbt, desto deutlicher erkennt sie, dass hinter der Ehe ihrer Großeltern weitaus mehr steckte, als von der Literaturgeschichte bislang angenommen worden war… Ein starkes Debüt, ich freue mich auf mehr aus Eimear Ryans Feder.
Ariel Gore, We Were Witches: Ariel Gores "Roman" ist eigentlich eine genresprengende Mischung auf Memoir und magischem Realismus über eine alleinerziehende lesbische Teenagermutter, die in den 90ern neben ihrem Collegestudium auch noch mit Sorgerechtsstreitereien, Homofeindlichkeit und Geldsorgen zu kämpfen hat und trotzdem ihren unkonventionellen Lebensstil mit viel Durchhaltevermögen, Humor und ein klein wenig Magie gegen alle äußeren Widrigkeiten verteidigt. Unkonventionell erzählt, aber Ariel Gores Erzählstimme hat mich sofort für sich eingenommen.
Amal El-Mohtar & Max Gladstone, This Is How You Lose the Time War: Eine der letzten schönen Sachen, die auf Twitter passiert ist, bevor dort alles endgültig den Bach runterging, war letztes Jahr der virale Tweet eines Users namens Bigolas Dickolas, der den zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Jahre alten Science-Fiction-Liebes-Briefroman This Is How You Lose The Time War quasi über Nacht zurück in die Bestsellerlisten katapultierte. Auch ich konnte mich dem Hype nicht entziehen und war völlig hin und weg von der Liebesgeschichte zwischen Red und Blue, zwei zeit- und dimensionenreisenden Agent*innen verfeindeter Fraktionen, die über Universen und Millenia hinweg ihre Gefühle in geheimen Botschaften miteinander teilen. Ganz großes Kino!
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Louise Kennedy, Trespasses: Kaum ein Buch habe ich letztes Jahr in der Buchhandlung so oft empfohlen wie diesen Roman (dt. Übertretung, Ü: Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser) von Louise Kennedy, der vordergründig von einer Affäre zwischen einer jungen katholischen Lehrerin und einem älteren, verheirateten protestantischen Anwalt in Belfast handelt, eigentlich aber den Nordirlandkonflikt der 70er Jahre in den Blick nimmt. Müsste ich mich auf ein einziges Lieblingsbuch aus 2023 festlegen, wäre es vermutlich dieses hier, aber das sage ich nur ganz ganz leise, damit all die anderen großartigen Bücher aus diesem Rückblick nicht eifersüchtig werden. Später im Jahr habe ich dann auch noch Kennedys Kurzgeschichtensammlung The End of the World Is A Cul de Sac gelesen, die noch vor dem Roman erschienen ist, auch sie hat mir gut gefallen — wenn auch nicht ganz so überragend gut wie Trespasses — und ich kann es kaume rwarten, dass Louise Kennedy wieder etwas neues veröffentlicht.
Ling Ma, Severance: Ich war sehr late to the party bei Ling Mas postapokalyptischer Satire auf die moderne Arbeitswelt, obwohl ich seit Jahren viel gutes darüber gehört hatte. Während meines Strandurlaubs in Griechenland letzten Sommer habe ich dann zusammen mit meiner Urlaubsbegleitung einen 2-Personen-Lesekreis zu diesem Roman veranstaltet — sprich: wir haben das Buch parallel gelesen und uns hinterher ein bisschen darüber unterhalten — und hatten beide viel Freude dabei. Auch Ling Ma hat übrigens, ähnlich wie Fernanda Trías, ihren Roman über eine geheimnisvolle Krankheit namens Shen Fever, die zuerst in China ausbricht und sich bald pandemisch über die ganze Welt verbreitet, schon weit vor dem ersten Coronaausbruch geschrieben.
Chuck Tingle, Camp Damascus: Meine große Chuck-Tingle-Verehrung ist ja kein Geheimnis, und auch über Chucks ersten bei einem großen Verlag erschienenen Horrorroman habe ich hier schonmal ausführlich berichtet. Diese Geschichte über ein christliches Camp für Konversionstherapie, in dem es nicht mit rechten Dingen zuzugehen scheint, ist stellenweise wirklich brutal und gory, aber auch unglaublich sweet und empowernd, mit einer sehr sympathischen queeren und neurodivergenten Protagonistin. Ich freue mich schon ultra auf Chucks nächsten Roman Bury Your Gays, der im Sommer 2024 erscheinen soll.
Sheena Wilkinson, Mrs Hart’s Marriage Bureau: Auch über meinen gelungenen Ausflug ins Romance-Genre mit diesem sehr liebenswürdigen Roman über ein englisches Heiratsvermittlungsbüro in den 30ern habe ich schon sehr ausführlich berichtet, für 2024 liegt schon einer von Wilkinsons historischen Jugendromanen auf meinem Lesestapel.
Anne Enright, The Wren, The Wren: Ich hatte schon viel Gutes über Anne Enright gehört, aber mich noch nie dazu durchgerungen, etwas von ihr zu lesen. Ausschlaggebend dafür, dass ich es mit ihrem neuesten Roman dann endlich gewagt habe, war die Tatsache, dass es darin, wie auch in Eimear Ryans Roman, um die Enkeltochter eines berühmten (fiktiven) irischen Dichters geht. Ich war neugierig, wie unterschiedlich die beiden Autorinnen diesen identischen Aufhänger in ihren Romanen verarbeiten, und war dann ganz schön überrascht, wie wenig sich die beiden Bücher dann letztendlich vor allem formal ähneln. Im Gegensatz zu Ryans Roman ist Enrights überhaupt nicht linear erzählt, Perspektiven und Zeitebenen wechseln sich immer wieder ab, ohne dass man als Leserin immer die Orientierung behält, außerdem sind immer wieder Gedichte des Großvaters Phil McDaragh in den Text eingeflochten, die sich am Ende als wichtiger Baustein der Geschichte entpuppen. Vor allem stilistisch ist Enrights Roman irgendwie beeindruckender, da ungewöhnlicher, der Plot dagegen ist bei Ryan wesentlich koheränter, insgesamt haben aber beide nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen und ich werde sie sicher irgendwann ein zweites Mal lesen.
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Im letzten Viertel des Jahres habe ich mit Catherine Chidgeys Pet und Felicity McLeans The Van Apfel Girls Are Gone noch zwei wirklich sehr sehr gute atmosphärische Thriller gelesen, die in Neuseeland bzw. Australien spielen, beide eine moderne mit einer älteren Zeitebene (80er Jahre bei Pet, 90er Jahre bei den Van Apfel Girls) verknüpfen und beide vor dem Hintergrund mysteriöser Todes- bzw. Vermisstenfälle die Coming-of-Age-Geschichte der jeweiligen Ich-Erzählerin schildern.
Sachbücher
Seit jeher machen Sachbücher nur einen kleinen Bruchteil meiner jährlichen Lektüren aus und das wird sich auch in absehbarer Zukunft nicht ändern, aber ein paar habe ich letzte Jahr doch mit Gewinn gelesen:
Kristine Bilkau, Wasserzeiten. Über das Schwimmen: Kristine Bilkau hat es mit ihrem Essay übers Schwimmen geschafft, dass selbst ich, die ich wirklich alles andere als eine Wasserratte bin, fast Lust aufs Eisschwimmen bekommen hätte.
Simon Sahner, Beim Lösen der Knoten: Simons äußerst gelungene Mischung aus persönlichem Krankheitsmemoir und kulturwissenschaftlicher Analyse von Krebsdarstellungen in Literatur und Film/Fernsehen hat mich so in ihren Bann gezogen, dass ich beLesen zwischendrin immer wieder vergessen habe, dass ich den Autor persönlich ziemlich gut kenne.
Ursula Le Guin, Space Crone: Mir war schon lange bewusst, dass ich um Ursula Le Guins Werk eigentlich nicht herumkomme, aber irgendwie musste erst diese Sammlung mit einigen ihrer wichtigsten Kurzgeschichten, Essays und Vorträge kommen, die so einen starken Einruck bei mir hinterlassen hat, dass ich beschlossen habe, dieses Jahr (also 2024) endlich auch selbst systematisch in ihr literarisches Werk einzutauchen. Was mich an den in Sprace Crone versammelten Texten so beeindruckt hat, ist Le Guins ungewöhnlich große Bereitschaft, ihre eigenen Annahmen, Haltungen und auch literarischen Entscheidungen immer wieder neu und vor allem öffentlich zu hinterfragen und gegebenenfalls zu revidieren, wenn sie in der Zwischenzeit zu neuen Erkenntnissen gelangt ist. Ich habe jetzt unglaubliche Lust darauf, mich in ihre Romane zu stürzen — wie gut also, dass ich ab Mitte Janaur schon einen entsprechenden Lesekreis geplant habe…
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Lauren Elkin, Art Monsters: Es ist gar nicht so einfach, Lauren Elkins Buch mal eben kurz zusammenzufassen, zu viele Informationen stecken darin, zu viele Fäden und Verknüpfungen in alle Richtungen, zu viele Puzzlestücke, aus denen sich am Ende ein faszinierendes Wimmelbild über Körper und Künstlerinnenschaft zusammensetzt. Ich habe es trotzde mit großer Faszination gelesen und es hat mich auf viele neue Spuren geführt, die ich dieses Jahr weiterverfolgen möchte.
Judith Coffey & Viviel Laumann, Gojnormativität: Dass ich dieses Buch gelesen habe, hatte einen ziemlich traurigen Hintergrund, denn ich habe danach gegriffen, um besser zu verstehen, was in Folge des Hamas-Terrorangriffs vom 7.10.2023 auf Israel insbesondere in der deutschen linken (Kultur-)Szene alles passiert ist. Einige Dinge sind mir jetzt klarer, aber es wird sich nicht das letzte Buch zu diesem Themenkomplex sein, das ich lesen werde.
Asha Hedayati, Die stille Gewalt. Wie der Staat Frauen alleinlässt: Dieses Buch würde ich am liebsten allen Menschen in die Hand drücken, die in deutschen Jugendämtern, Familiengerichten, bei der Polizei usw. arbeiten.
Elaine Castillo, How to read now: Letztes Jahr habe ich weniger Essaysammlungen gelesen als die Jahre zuvor, aber gegen Jahresende war dann doch eine dabei, die so gut war, dass sie alle anderen sowieso in den Schatten gestellt hätte. Elaine Castillo, eine filipino-amerikanische Schriftstellerin, stellt darin Fragen nach der Politik und Ethik des Lesens, geht ihrer eigenen Lesebiographie auf den Grund und analysiert Werke von Autor*innen wie Peter Handke oder Joan Didion, aber auch Fernsehserien wie The Watchmen oder die Filme des Honkonger Regisseurs Wong Kar-wai mit kritischem Blick. Castillos Essays haben sich natürlich mal wieder als totales Schneeballsystem erwiesen, was weitere Lektürehinweise angeht, so dass die Nachwirkungen sicher auch in meinem Lesejahr 2024 zu spüren sein werden.
Till Raether, Hab ich noch Hoffnung, oder muss ich mir welche machen?: Vorletztes Jahr habe ich, als Angehörige von an Depression erkrankten Menschen, Till Raethers Essay Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben? mit Gewinn gelesen, und auch aus seinem neuen Essay zum Thema Hoffnung habe ich wieder viele gute Denkimpulse und, ja, eben Hoffnung, gezogen.
Eine Buchgattung, die ich normalerweise nicht so oft lese, hat sich dieses Mal gleich drei mal in meine Bestenliste geschlichen: ich habe drei wirklich sehr gute Inrerviewbände mit amerikanischen Autorinnen gelesen, die mir nicht nur Einblicke in das Denken und die Schreibprozesse dieser Frauen gegeben, sondern natürlich, sofern ich sie nicht vorher schon kannte, auch große Lust auf die Bücher dieser Schriftstellerinnen gemacht haben. Die von Claudia Tate herausgegebene Anthologie Black Women Writers at Work ist ursprünglich Mitte der 80er Jahre erschienen und 2022 wiederaufgelegt worden und versammelt Interviews mit 14 wichtigen afroamerikanischen Schriftstellerinnen, darunter Maya Angelou, Toni Cade Bambara, Gwendolyn Brooks, Nikki Giovanni, Gayl Jones, Audre Lorde, Toni Morrison und Alice Walker, die über ihr Werk sprechen, darüber, wie ihre Erfahrungen als Schwarze Frauen in einer rassistischen und sexistischen Gesellschaft ihr Schreiben prägen, über Mutterschaft und Geschlechterkampf, über Themen und Techniken, über die gesellschaftliche Verantwortung von künstlerischem Schaffen uvm. Die Reihe The Last Interview and other conversations wiederum versammelt jeweils die wichtigsten und/oder aufschlussreichsten Interviews aus der Karriere wichtiger Autor*innen und anderer (pop)kultureller Akteur*innen, ich habe die beiden Bände mit den Interviews von Ursula Le Guin und Octavia Butler gelesen. Bei Le Guin war ich ja, wie oben bereits erwähnt, durch einen Essayband sowieso schon angefixt, aber auch die Bücher von Octavia Butler habe ich nach der Lektüre ihrer Interviews endlich mal weiter nach oben auf meinen Lesestapel wandern lassen.
Lyrik
Bei meiner Lieblingslyrik 2023 halte ich mich kurz, weil es mir immer eher schwer fällt, aussagekräftig zu formulieren, was genau mich an bestimmten Gedichten genau begeistert hat, aber diese Bände haben alle im letzten Jahr irgendetwas in mir bewegt:
John Montagues The Dead Kingdom habe ich spontan im Antiquariat mitgenommen, weil das Cover so interessant aussah und ich gerade literarisch eh so auf dem Irland-Trip war. Doireann Ní Ghríofas Prosadebüt A Ghost in the Throat gehört inzwischen zu einem meiner All-Time-Lieblingsbücher und dass ich eine Lesung mit ihr zu diesem Buch moderieren durfte, gehört zu meinen tollsten Erlebnissen 2023. Auch ihre Lyrik hat mich sehr berührt, mit To Star the Dark, Clasp und Lies habe ich letztes Jahr gleich drei ihrer Sammlungen gelesen. Dass ich großer Fan der indischen Autorin, Übersetzerin und Aktivistin Meena Kandasamy bin, habe ich glaube ich schon mehrfach erwähnt, ich lese alles von ihr, was ich in die Finger kriegen kann und auch ihr neuester Lyrikband Tomorrow Someone Will Arrest You hat mich in dieser Haltung wieder voll bestätigt.
Davon, wie ich vor ein paar Monaten zufällig auf die österreichische Dichterin Dora Dunkl gestoßen bin, habe ich ja hier im Newsletter schonmal erzählt. Ihre in dem unglaublich schwer erhältlichen Band Ein Haus aus Stein (ich musste eine Fernleihe bei der Bibliothek beantragen und dann rund 380 Seiten von Hand einscannen, bevor die Rückgabefrist endete) versammelten Werke sind so großartig, dass sie dringend wiederentdeckt und neu aufgelegt gehören! Falls hier ein österreichischer Verlag mitliest: Lasst euch das nicht entgehen!
Die von Raoul Eisele und Lea Menges herausgegebene Lyrikanthologie Habe bewurzelte Stecklinge: Geografie meiner inneren Sprache habe ich letztes Jahr von einer Freundin geschenkt bekommen, die darin mit einigen ihrer Texte vertreten ist, und sie war dann ganz überraschend eine der bereicherndsten Lektüren 2023 für mich, weil ich darin auf so viele mir neue Autor*innen (Frauen und nichtbinäre Personen) gestoßen bin, von denen ich unbedingt mehr lesen will. Von zwei von ihnen habe ich mir dann gleich jeweils einen einzelnen Lyrikband gekauft, nämlich mother_s von Hannah K. Bründl und krötentage von Katharina J. Ferner, und beide hielten, was die in der Stecklinge-Anthologie enthaltenen Gedichte mir versprochen hatten. In Mátyás Dunajcsiks Verlorenen Gedichten habe ich mich mal während der Arbeit in der Buchhandlung festgelesen, als ich eine neue Lieferung des Verlags Parasitenpresse bearbeitet habe, und weil aber entgegen landläufiger Meinung Buchhändler*innen während der Arbeitszeit eigentlich selten Zeit zum Lesen haben, weil es immer etwas auszupacken, umzuräumen, abzustauben etc. gibt, habe ich den Band einfach selbst gekauft und nach der Schicht zuhause im Lesesessel verschlungen. Da haben sie ihre Wirkung eh nochmal viel besser entfalten können!
Comics und Graphic Novels
Letztes Jahr habe ich wesentlich weniger Comics und Graphic Novels gelesen als 2022, ich hoffe, dass ich das 2024 wieder etwas ankurbeln kann. Diese drei haben es mir aber dann doch ziemlich angetan:
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Bettina Schary, Die zweite Entdeckung der Welt: Die Comiczeichnerin Bettina Schary hat sich mit der Forschungsreise von Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland nach Südamerika auseinandergesetzt und sich überlegt, wie Humboldt diese Expedition wohl der Weltöffentlichkeit nahegebracht hätte, wenn ihm damals schon moderne Technologien wie Smartphone, Ringlicht, Social Media und Co. zur verfügung gestanden hätten. Herausgekommen ist ein kurzweiliger, witziger, meme-gespickter Comic, bei dem man trotzdem noch viel Interessantes über Humboldts Naturforschung lernen kann.
Emily Carroll, A Guest in the House: Emily Carroll ist eine meiner liebsten Comic-Künstlerinnen/-autorinnen, die mich auch mit den wunderschönen Zeichnungen ihrer neuesten queeren Geistergeschichte mit deutlichen Anklängen an Daphne Du Mauriers Rebecca wieder voll in ihren Bann gezogen hat.
Ashley Robin Franklin, The Hills of Estrella Roja: Im Gegensatz zu Emily Carrolls Graphic Novel ist The Hills of Estrella Roja eine Gruselgeschichte mit Happy End, mit sympathischen Charakteren und einem cuten Zeichenstil, also ein rundum gelungenes Gesamtpaket, das sich trotz klarem Gruselfaktor insgesamt irgendwie total "wholesome" angefühlt hat.
Und damit sind wir am Ende meines Jahresrückblicks angekommen, danke für’s Durchhalten! Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
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Ich wünsche euch einen guten Start ins neue Lesejahr, auf bald!
Eure Magda
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Wow. Dankeschön, liebe Magda, für so viel Inspiration. Es war und bleibt ein Genuss, dein Lesejahr mitzuverfolgen!