How I Lost the Time War (aka Too Many Books, Too Little Time)
Ihr Lieben,
vor rund zwei Monaten habt ihr, sofern ihr (noch) auf Twitter seid, vielleicht die Aufregung rund um den Account "Bigolas Dickolas" und dessen viral gegangene Begeisterung für den queeren SciFi-Liebesroman This Is How You Lose The Time War von Amal El-Mohtar und Max Gladstone (dt. Verlorene der Zeiten, Ü: Simon Weinert), die das Buch vier Jahre nach dessen ursprünglichen Erscheinen u.a. in die New York Times-Bestsellerliste katapultierte, mitbekommen. Wer das ganze verpasst hat, kann eine ganz gute Zusammenfassung von Tobias Rüther in der FAZ nachlesen oder diese Folge des Podcasts Lakonisch elegant mit Christine Watty, Simon Sahner, Berit Glanz und Miriam Zeh anhören.
Natürlich konnte ich mich dem Hype selbst auch nicht entziehen und habe mir das Buch noch in der selben Woche besorgt und an einem Nachmittag verschlungen — und was soll ich sagen, es hat mich wirklich ziemlich begeistert. Zwei Wochen später hat mein Twitter-Buddy Titus Folgendes getweetet und damit natürlich sofort meinen Ehrgeiz geweckt:
Die Bücher, die er in diesem Tweet mit Time War vergleicht, sind:
Susanna Clarke, Piranesi
Salman Rushdie, Haroun and the Sea of Stories
Katherine Arden, The Bear and the Nightingale
Auch wenn ich die Bücher von Rushdie und Arden selbst gar nicht gelesen habe, wusste ich instinktiv sofort, was Titus meint und habe deshalb natürlich sofort angefangen, mir selbst Gedanken über Bücher mit ähnlichen Vibes wie This is How You Lose the Time War zu machen. Weil mein Hirn eine riesige Datenbank an Büchern und sich ständig erweiternden Assoziationsnetzen zwischen selbigen ist, möchte ich euch im Rest dieses Newsletter alle Bücher kurz vorstellen, die sich mir nach meiner Lektüre von Time War schneeballartig assoziativ und aus ganz unterschiedlichen Gründen ins Bewusstsein gedrängt haben. Einen Teil davon habe ich selbst gelesen, andere stehen seit Jahren oder auch erst seit ganz Kurzem auf meiner privaten Leseliste. Here we go:
Die Piranesi-Assoziation hatte ich tatsächlich unabhängig von Titus’ Tweet auch selbst schon gehabt, was aber gar nicht so viel mit tatsächlichen inhaltlichen Parallelen zu tun hatte, sondern vielmehr mit der Tatsache, dass ich diesen unglaublich großartigen Roman, ähnlich wie Bigolas Dickolas in seinem Tweet über Time War, schon mehrfach im beruflichen wie im privaten Kontext Leuten mit dem Hinweis empfohlen hatte, dass es bei diesem Buch am besten sei, vor der Lektüre so wenig wie möglich über den Inhalt zu wissen, damit es seine volle Wirkung entfalten kann (es hält einer Relektüre natürlich trotzdem sehr gut stand, aber dieses Gefühl, dass ich beim ersten, völlig unbefangenen Lesen selbst hatte, möchte ich wirklich auf keinen Fall missen). Deshalb hier nochmal der Aufruf an euch alle: lest ungedingt Susanna Clarkes Piranesi, aber guckt vorher nicht nach, worum es geht! Vertraut mir einfach!
Bei den folgenden Romanen kann ich den Zusammenhang mit Time War besser benennen, es handelt sich nämlich um lauter Romane, in denen Briefe eine tragende Rolle spielen.
Da wäre zum einen meine allerliebste akademische Liebesgeschichte, A. S. Byatts Possession (dt. Besessen, Ü: Melanie Walz), die ich übrigens auch allen Fans von "Dark Academia" im Allgemeinen wärmstens ans Herz legen möchte. Der Roman handelt von zwei jungen Literaturwissenschaftler*innen, Ronald Michell und Maud Bailey, die sich — völlig unabhängig voneinander und anfangs, ohne sich zu kennen— in ihrer Forschung jeweils mit dem viktorianischen Dichter Randolph Henry Ashe (Ronald) bzw. der Dichterin Christabel LaMotte (Maud) beschäftigen. Nachdem Ronald in Ashes Archiv auf einen der Forschung bisher unbekannten Liebesbrief von Ashe an eine unbekannte Adressatin stößt, begeben er und Maud sich auf eine spannende literaturwissenschaftliche Spurensuche, in deren Verlauf sich die beiden Akademiker*innen immer näher kommen… Besonders gelungen an Byatts Roman finde ich, dass sie sich für ihre beiden fitkiven viktorianischen Dichter*innen absolut plausibel klingende Textbeispiele aus deren umfangreichem lyrischen Werk ausgedacht hat, die immer wieder in den Roman eingeflochten werden.
Thematisch verwandt mit Possession ist übrigens auch der von JJ Abrams erdachte und vom Autor Doug Dorst verfasste Roman S. (dt. S. — Das Schiff des Theseus, Ü: Tobias Schnettler und Bert Schröder, leider vergriffen), eine metafiktionale Abenteuergeschichte über den letzten Roman des (geheimnisvollen) fiktiven Autors V.M. Straka und zwei Student*innen, Eric und Jen, die gemeinsam versuchen, die wahre Identität dieses Schriftstellers aufzudecken. Erics und Jens Geschichte erschließt sich uns Leser*innen dabei hauptsächlich anhand der handschriftlichen Nachrichten, die sich die beiden immer wieder auf den Seitenrändern von Strakas Roman (den wir ebenfals komplett lesen können) hin- und herschreiben, außerdem sind dem Buch noch verschiedene Extras (Postkarten, bekritzelte Servietten, etc.) beigelegt, die gemeinsam die Geschichte ergeben.
Klingt alles recht kompliziert, ist es auch, macht dabei aber auch ungemein Spaß und man fühlt sich, als wäre man als Leser*in selbst Teil der litearischen Detektivgeschichte. Leider ist das Buch sowohl auf Deutsch als auch im englischen Original, soweit ich weiß, nur noch gebraucht erhältlich, aber wenn es euch mal irgendwo günstig unterkommt, schlagt unbedingt zu!
Einer meiner liebsten Liebesromane in Briefform ist aber Sorcery & Cecilia, or The Enchanted Chocolate Pot, Band 1 der unglaublich charmanten Regency-Magic-Reihe aus der Feder von Patricia Wrede und Caroline Stevermer, die leider bisher nie ins Deutsche übersetzt wurde. Darin schreiben sich die beiden Cousinen und besten Freundinnen Kate und Cecilia regelmäßig gegenseitig Briefe, um sich darüber hinwegzutrösten, dass sie den Sommer des Jahres 1817 getrennt voneinander verbringen müssen — Cecilia zuhause auf dem Landsitz ihrer Familie und Kate in London, wo sie ihrer offiziellen Einführung in die Gesellschaft entgegenblickt. Der alltägliche Klatsch über Bälle, Kleider und vielversprechende Heiratskandidaten in ihrer Korrespondenz weicht jedoch schnell wichtigeren Themen, denn auf einer Veranstaltung des Royal College of Wizards wird Kate überraschend in eine große magische Verschwörung verwickelt — und auch bei Cecilia auf dem Land ereignen sich zunehmend seltsamere Dinge. Wie die magischen Erlebnisse der beiden Cousinen zusammenhängen und welcher Heiratskandidat sich schließlich als der jeweils richtige erweist, wird von Wrede und stevermer so witzig und sympathisch geschildert, dass ich dieses Buch und seine beiden Fortsetzungen (The Grand Tour und The Mislaid Magician) schon zwei Mal gelesen habe — und gerade gehörig Lust auf eine dritte Runde bekomme!
Ich weiß nicht mehr, wie ich vor mittlerweile ziemlich vielen Jahren auf das kostenlose eBook von Ella Cheever Thayers Roman Wired Love, A Romance of Dots and Dashes (1879) gestoßen bin, aber diese Morsecode-Liebesgeschichte, die nach ihrem ursprünglichen Erscheinen mehrere Jahre lang ein ziemlicher Bestseller gewesen sein soll, ist schon ziemlich süß und witzig und ich finde, mehr Leute sollte sie kennen. Ella Cheever Thayer hat selbst einige Jahre in einem Telegraphenamt als Telegraphistin (sagt man das so?) gearbeitet, was man dem Roman anmerkt. Er handelt von einer jungen Frau und einem jungen Mann, die in zwei unterschiedlichen Telegraphenämtern arbeiten und in ihren Pausen per Morsecode miteinander kommunizieren und sich dabei verlieben, ohne einander je physisch begegnet zu sein oder auch nur die echten Namen der*des jeweils anderen zu kennen. Als Clem und Nattie einander im echten Leben begegnen, wobei nur Clem bewusst ist, wer sich da gegenübersteht, wird erstmal alles ziemlich chaotisch, bevor die beiden Liebenden auch "offline" zueinander finden. So weit, so "E-mail für Dich". In Zeiten von Bumble, Twitter Romances und Catfishing fühlt sich diese fast 150 Jahre alte romantische Komödie wirklich unglaublich modern an und ich warte eigentlich nur darauf, dass Netflix den Cast für die Verfilmung bekannt gibt (aber erst, wenn der Autor*innen- und Schauspieler*innenstreik in Hollywood endlich zu zufriedenstellenden Ergebnissen geführt hat!).
Ein etwas ungewöhnlicherer Briefroman ist Mark Dunns Ella Minnow Pea (dt. Nollops Vermächtnis, Ü: Henning Ahrens, leider vergriffen), dessen Besonderheit darin liegt, dass es sich dabei um einen "zunehmend lipogrammatischen" Roman handelt. Ein Lipogramm ist ein Text, in dem auf die Verwendung eines oder mehrerer Buchstaben verzichtet wird — das wohl berühmteste literarische Beispiel ist George Perecs Roman Anton Voyls Fortgang (Ü: Eugen Helmlé, frz. La Disparition), der auf rund 300 Seiten vollständig ohne den Buchstaben "e" auskommt. Mark Dunns Roman unterscheidet sich insofern von Perecs und anderen Lipogrammen, dass darin nach und nach immer mehr Buchstaben verschwinden, bis am Ende nur noch 5 Buchstaben übrigbleiben. Dafür gibt es innerhalb der Romanhandlung eine mehr oder weniger logische Erklärung: die Geschichte spielt auf einer fiktiven Insel namens Nollop, Heimat von Nevin Nollop, Erfinder bzw. Entdecker des berühmten Pangramms "The quick brown fox jumps over the lazy dog." (Ein Pangramm ist ein Satz, der alle Buchstaben des Alphabets enthält.) So stolz ist man auf den berühmten Inselbewohner, dass ihm zu Ehren eine Gedenkstatue mit dem Pangramm als Inschrift errichtet wird. Eines Tages jedoch beginnen sich einzelne der Buchstabenkacheln von dem Denkmal zu lösen und zu Boden zu fallen, was von der immer autoritärer agierenden Regierung des Inselstaates als "göttliches" Zeichen gewertet wird — mit der Konsequenz, dass die Verwendung der heruntergefallenen Buchstaben fortan allen Inselbewohner*innen in Sprache und Schrift unter Strafe verboten wird. Wer mehrfach gegen die neuen, täglich erweiterten Sprachregeln verstößt, wird von der Insel verbannt. Einziges Zugeständnis der Regierung: wer ein Pangramm findet, das kürzer ist als die 35 Buchstaben von Nollops "quick brown fox…", könnte so das vollständige Alphabet wieder legalisieren. Der Roman selbst besteht aus den Briefwechseln verschiedener Figuren, allen voran die Hauptfigur Ella Minnow Pea (L, M, N, O, P), die gemeinsam versuchen, ein neues Pangramm zu finden und so die autokratische Regierung zu besiegen. Wenn ich mich recht erinnere, ist die deutsche Übersetzung von Henning Ahrens, die eine große Herausforderung gewesen sein muss, ziemlich gut gelungen, allerdings ist meine Lektüre der deutschen Ausgabe rund 16 Jahre her (in der Zwischenzeit habe ich auch das englische Original gelesen), ganz genau kann ich es daher nicht mehr beurteilen. Beide Fassungen haben mir jedenfalls seinerzeit großen Lesespaß bereitet.
Mir ist gerade während des Schreibens erst aufgefallen, dass alle bisher genannten Briefromances im Gegensatz zu This Is How You Lose The Time War leider ziemlich straight waren, was ganz sicher mehr mit meinem persönlichen unbewussten Bias als mit der Qualität (und Quantität) queerer Briefromane zu tun hat. Ein Roman, den ich auf jeden Fall dringend noch lesen möchte, ist Nettleblack von Nat Reeve, "a neo-Victorian queer farce that follows a runaway heir/ess and an organisation of crime-fighting misfits as they struggle with the misdeeds besieging a rural English town. […] Told through journal entries and letters, Nettleblack is a subversive and playful ride through the perils and joys of finding your place in the world, challenging myths about queerness – particularly transness – as a modern phenomenon, while exploring the practicalities of articulating queer perspectives when you’re struggling for words." Klingt unglaublich vielversprechend, finde ich!
Eine weitere queere Lovestory, die zwar keine Briefe enthält, aber für mich trotzdem irgendwie ähnliche Vibes wie Time War hat, ist Kirsty Logans A Portable Shelter, eine Sammlung von durch eine Rahmenhandlung miteinander verbundenen Kurzgeschichten, die auf schottischen Volksmärchen beruhen:
"In their tiny, sea-beaten cottage on the north coast of Scotland, Liska and Ruth await the birth of their first child. Each passes the time by telling the baby stories, trying to pass on the lessons they’ve learned: tales of circuses and stargazing, selkie fishermen and domestic werewolves, child-eating witches and broken-toothed dragons. But they must keep their storytelling a secret, as they’ve agreed to only ever tell the plain truth. Ruth tells her stories when Liska is at work, to a background of shrieking seabirds; Liska tells hers when Ruth is asleep, with the lighthouse sweeping its steady beam through the window. As their tales build and grow along with their child, Liska and Ruth realise that the truth lives in their stories, and they cannot hide from one another."
Bevor ich euch in den buchtippfreien Arbeitstag/Feierabend entlasse, möchte ich noch zwei Bücher nennen, die ich selbst noch gar nicht gelesen habe und bei denen ich daher überhaupt nicht begründen kann, warum ich denke, dass sie Time War- bzw. Piranesi-Vibes haben — es ist nur so ein diffuses Gefühl, das sich bei einer (geplant) baldigen Lektüre (beide liegen weit oben auf meinem metaphorischen Lesestapel — ich "besitze" sie allerdings nur als eBooks) hoffentlich bestätigen wird:
Rupetta von N. A. Sulway:
Four hundred years ago, in a small town in rural France, a young woman creates the future in the shape of Rupetta. Part mechanical, part human, Rupetta’s consciousness is tied to the women who wind her. In the years that follow she is bought and sold, borrowed, forgotten and revered. By the twentieth century, the Rupettan four-fold law rules everyone’s lives, but Rupetta—the immortal being on whose existence and history those laws are based—is the keeper of a secret that will tear apart the world her followers have built in her name.
A Stranger in Olondria von Sofia Samatar:
Jevick, the pepper merchant’s son, has been raised on stories of Olondria, a distant land where books are as common as they are rare in his home—but which his mother calls the Ghost Country. When his father dies and Jevick takes his place on the yearly selling trip to Olondria, Jevick’s life is as close to perfect as he can imagine. Just as he revels in Olondria’s Rabelaisian Feast of Birds, he is pulled drastically off course and becomes haunted by the ghost of an illiterate young girl.
In desperation, Jevick seeks the aid of Olondrian priests and quickly becomes a pawn in the struggle between the empire’s two most powerful cults. Even as the country simmers on the cusp of war, he must face his ghost and learn her story before he has any chance of freeing himself by setting her free: an ordeal that challenges his understanding of art and life, home and exile, and the limits of that most seductive of necromancies, reading.
Vielleicht kennt ja jemand von euch einen der beiden Romane und kann meine Vermutung bestätigen — oder entkräften. Oder vielleicht fallen euch noch ganz andere Romane ein, die für euch aus welchen Gründen auch immer in die selbe Kategorie gehören wie der Lieblingsroman von Bigolas Dickolas etc. Lasst es mich gerne in den Kommentaren oder per Mail wissen!
Eigentlich wollte ich hier auch noch auf das Lieblingsbuch von Red und Blue aus This Is How You Lose The Time War eingehen, das ich ebenfalls gelesen habe und das eine weitere literarische Assoziationskette bei mir angestoßen hat (Stichwort: Dragons!), aber dieser Newsletter ist schon wieder sehr lang und der Abend spät geworden, während ich dies hier tippe, deshalb muss dieses Thema bis zur nächsten Ausgabe warten.
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich voraussichtlich irgendwann im August verschicken. Bis dahin findet ihr mich mit buchnahem Content auf Twitter (solange es noch funktioniert).
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Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda
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