Hochstapelei, oder: Wie meine Leseprojekte entstehen
Außerdem beschreibe ich mein bestes Lektüreerlebnis 2021 UND 2022
Ihr Lieben,
es ist mir fast ein bisschen peinlich, aber ich habe doch tatsächlich mein eigenes einjähriges Newsletterjubiläum verpasst! Am 6. Februar 2021 habe ich meinen Newsletter zum ersten Mal öffentlich angekündigt und am 10. Februar 2021 habe ich die allererste Ausgabe verschickt, der bisher 26 weitere gefolgt sind (eine davon hinter der Bezahlschranke) — gerade lest Ihr Ausgabe Nr. 28. ich kann es kaum glauben, dass ich euch schon seit einem ganzen Jahr in einem ungefähr zweiwöchigen Rhythmus (ähem) von meinen Lektüreprojekten und Entdeckungen erzähle und dass so viele von Euch das auch tatsächlich gerne lesen wollen. Nach heutigem Stand hat dieser Newsletter stolze 1349 Abonnent*innen! Ihn zu schreiben macht mir nach wie vor (meistens) großen Spaß — ist aber auch ganz schön viel Arbeit neben meinem Hauptberuf und sonstigen Verpflichtungen. Umso mehr freue ich mich über alle 39 von Euch, die diese Arbeit bisher mit einem solidarischen Bezahlabo unterstützen. Wer sich diesen tollen Menschen anschließen möchte, kann hier sein*ihr Abo upgraden:
Aber genug der Vorrede, es soll hier heute natürlich auch wieder um einen großen Haufen Bücher gehe. Schön, dass Ihr da seid, los geht’s!
2021 habe ich soviel gelesen wie nie zuvor, sowohl, was die Anzahl der beendeten Bücher (210) als auch die Anzahl der gelesenen Seiten (~ 39.000) angeht. Gleichzeitig merke ich, dass in dieser beschissenen Pandemiezeit meine Konzentrationsfähigkeit ziemlich abgenommen hat, was sich u.a. daran bemerkbar machte, dass ganze 83% dieser 210 gelesenen Bücher weniger als 250 Seiten hatten, 64 % sogar weniger als 200 Seiten. Im zweiten Pandemiejahr fehlte mir eifnach die Energie für dicke Bücher. Bis ganz zum Ende des Jahres plötzlich ein Buch um die Ecke kam, dass sich nicht um meine neuen Lesegewohnheiten scherte und mich mit seinen über 800 Seiten komplett umgehauen hat.
Die einzigen beiden Sprachen, die ich gut genug beherrsche, um darin Bücher zu lesen, sind Deutsch und Englisch, was mich meistens nicht allzu sehr stört, weil es ja eh viel mehr fantastische, in diesen Sprachen verfasste oder zumindest in sie übersetzte Bücher gibt, als ich je in meinem Leben werde lesen können. Schwierig wird es erst dann, wenn mir jemand anderes, der*die weitere Sprachen außer Deutsch und Englisch beherrscht, von einem Buch erzählt, dass so genau meinem Beuteschema entspricht, dass ich es eigentlich unbedingt sofort lesen muss. So ging es mir bspw. im April 2020, als ich auf Twitter auf den Roman Nuestra parte de noche der argentinischen Schriftstellerin Mariana Enriquez aufmerksam gemacht wurde.
Eineinhalb Jahre habe ich sehnsüchtig darauf gewartet, dass endlich irgendwo eine englische oder deutsche Übersetzung dieses monumentalen Romans angekündigt wird, und fiel dann Anfang Dezember aus allen Wolken, als mich beim Umblättern der Tropen-Frühjahrsvorschau plötzlich das (wunderschöne!) Cover von Unser Teil der Nacht (Ü: Inka Marter und Silke Kleemann) ansprang. Ich begann gedanklich schon, mir im Februar ein paar freie Tage für eine konzentrierte Lektüre freizuschaufeln, als plötzlich der Tropen-Verleger Tom Müller höchstpersönlich ins Ocelot spazierte und ein Vorabexemplar des Romans im Gepäck hatte. So verdammt glücklich hat mich der überraschende Anblick eines Buches selten gemacht. Ich habe den Roman dann mit in die Weihnachtsfeiertage genommen und quasi in einem Rutsch, wie im Rausch, verschlungen und wage zu behaupten, dass das gleichzeitig mein bestes Lektüreerlebnis 2021 UND 2022 war! Wenn ihr Familiensagas mögt, euch für die Zeit und die Folgen der argentinischen Militärdiktatur interessiert, gerne Stranger Things guckt, auf okkulte Geheimbünde steht, Roadmovies mögt, oder einfach nur mal wieder so richtig in einem Roman versinken wollt (aber mit ziemlich graphischen Darstellungen von körperlicher und psychischer Gewalt einigermaßen klarkommt!), dann müsst ihr dieses Buch unbedingt lesen! Und danach werdet ihr eh keine Zeit verlieren, Enriquez’ Kurzgeschichten (auf Englisch als Things We Lost in the Fire und The Dangers of Smoking in Bed erschienen, auf Deutsch leider nicht lieferbar) auch noch zu verschlingen.
Ich habe Lesen ja in diesem Newsletter schon mehrfach als Pyramid Scheme bzw. Schneeballsystem bezeichnet und Mariana Enriquez’ Roman und seine Folgen sind mal wieder der perfekte Beleg dafür: beim Lesen habe ich festgestellt, dass ich mich weder mit der argentinischen Geschichte noch mit argentinischer Literaur auch nur ansatzweise auskenne und dass ich hier dringenden Nachholbedarf habe. Es wird euch kaum verwundern, dass es mir nicht reichte, nur die ungelesenen argentinischen Bücher zusammenzusuchen, die ich eh schon zuhause hatte (Samanta Schweblin, Silvina Ocampo, Gabriela Cabezón Cámara und 1x Angélica Gorodischer) — nein, ich habe natürlich auch sofort noch das englische Antiquariat meines Vertrauens geplündert und diverse zusätzliche Bestellungen aufgegeben. Tja, und jetzt sitze ich da mit einem weiteren von vielen, vielen thematisch (oder auch nicht) geordneten Bücherstapeln, und da hinten lacht mich schon wieder das nächste geographisch bedingte Leseprojekt an…
(Seit ich das obige Foto am Sonntag Nachmittag geschossen habe, ist übrigens noch mindestens ein weiteres Buch einer argentinischen Autorin dazugekommen!)
…denn nächste Woche erscheint die deutsche Neuauflage eines Buches, das mir unglaublich am Herzen liegt, nämlich Marian Engels kanadischer Kultroman Bear aus den 70er Jahren. Ich habe ihn vorletztes Jahr auf Empfehlung eines lieben kanadischen Twitterfreundes gelesen und war tief beeindruckt von dieser melancholischen und doch hoffnungsvollen Geschichte über eine einsame, mauerblumige Bibliothekarin und ihre Liebe zu einem Bären. Am Wochenende werde ich euch in der nächsten Ausgabe von meiner Instagram-Liveshow mit 54books ausführlicher von diesem faszinierenden und berüchtigten Buch berichten. Bear ist Marian Engels bekanntester, aber bei weitem nicht ihr einziger Roman, und vor kurzem ist es mir endlich gelungen, noch ein paar weitere ihrer inzwischen leider vergriffenen Werke antiquarisch zu ergattern. Bei der Gelegenheit habe ich gleich noch einige weitere kanadische Klassiker von Autorinnen wie Aritha van Herk, Ethel Wilson, Sheila Watson und Margaret Laurence (letztere erscheint momentan auch so nach und nach in deutschen Neuausgaben beim Eisele Verlag) mitbestellt, und naja, so sprießen meine Lesestapel eben wie Pilze aus dem Boden…
Die dänische Autorin Tove Ditlevsen hat mit ihrer autofiktionalen Trilogie Kindheit — Jugend — Abhängigkeit in den letzten Jahren sowohl im englisch- als auch im deutschsprachigen Raum ein ordentliches Revival erfahren und auch ich bin schon seit einiger Zeit Fan. Vor ein paar Tagen habe ich nun Ditlevsens Roman The Faces (Ü: Tiina Nunnally; auf Deutsch gerade als Gesichter in einer Neuübersetzung von Ursel Allenstein bei Aufbau erschienen) gelesen und fand ihn sogar noch beeindruckender als die Trilogie vorher. In dem Roman aus den 60er Jahren geht es um Lise Mundus, erfolgreiche Kinderbuchautorin und Mutter dreier Kinder, die mit Verschiebungen in ihrer Wahrnehmung zu kämpfen hat, anfängt Stimmen zu hören und Gesichter zu sehen, die gar nicht da sind, überzeugt davon ist, dass ihr Ehemann und ihre Haushälterin/Kindermädchen sich gemeinsam gegen sie verschworen haben, und schließlich nach einem fingierten Suizidversuch in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird. Beim nachdenken über dieses Buch ist mir aufgefallen, dass ich irgendwie ziemlich gerne Bücher von und über Frauen in psychiatrischen Kliniken lese — ich bin beispielsweise auch großer Fan vom Psychiatrie-Memoir Down Below (dt. Unten, enthalten in Das Haus der Angst) der surrealistischen Künstlerin Leonora Carringtons, Sylvia Plaths autobiographischem Roman The Bell Jar (dt. Die Glasglocke), der u.a. ihre Elektroschocktherapie zum Thema hat, und Christine Lavants autobiographischen Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus.
Meine Lektüre dieser drei genannten Bücher ist schon ein paar Jahre her, aber mir ist dann aufgefallen, dass ich noch eine ganze Handvoll weiterer zum Thema passender Bücher ungelesen im Regal stehen habe, bis auf Linda Boström Knausgård (deren autobiographischer Roman October Child über die Folgen ihrer Elektroschocktherapie ist von 2019 und gerade erst in englischer Übersetzung erschienen) handelt es sich bei allen Autorinnen um "Wiederentdeckungen", die schon vor mehreren Jahrzehnten entstanden sind und in den letzten Jahren neu aufgelegt wurden. Anna Kavans Asylum Piece, das im englischen Verlagstext als "one of the most extraordinary and terrifying evocations of human madness ever written" bezeichnet wird, besteht aus mehreren miteinander zusammenhängenden und meist autobiografischen Geschichten über den Abstieg der Erzählerin vom ersten Auftreten ihrer Neurosen bis zu ihrer Einweisung in eine Schweizer Klinik. Der Roman Professor Hieronimus der norwegischen Schriftstellerin Amalie Skram erschien erstmals 1894 und erzählt von der Malerin Else Kant, die sich nach einem Zusammenbruch in die psychiatrische Klinik von Professor Hieronimus begibt, um wieder zu Kräften zu kommen, dort jedoch schnell um ihre Selbstbestimmung und die Wahrung ihrer Würde kämpfen muss. Jacqueline Roys Roman The Fat Lady Sings stammt aus den frühen 90er Jahren und ist kürzlich auf Englisch in einer von Bernardine Evaristo kuratierten Reihe von wiederentdeckten Schwarzen britischen Autor*innen neu aufgelegt worden. Er handelt von zwei Schwarzen Frauen, die in einer Londoner psychiatrischen Klinik aufeinander treffen und beschließen, ihre jeweiligen Geschichten per Tagebuch und Tonbandaufzeichnungen festzuhalten. Bette Howlands Memoir W-3 stammt aus den 70ern und war komplett vergessen, bis es die Herausgeberin eines kleinen New Yorker Literaturmagazins zufällig in der 1$-Auslage eines Antiquariats entdeckte. Auf alle diese Bücher habe ich dank meiner Ditlevsen-Lektüre plötzlich nochmal viel größere Lust bekommen.
Durch meine liebe Kollegin Maria, die dafür ein Vorwort geschrieben hat, bin ich auf das Gefängnistagebuch Tage in Rebibbia der italienischen Schauspielerin und Schriftstellerin Goliarda Sapienza aufmerksam geworden, das im April in der Übersetzung von Verena von Koskull bei Aufbau erscheinen wird. Während ich dieses Buch auf meine Frühjahrsprogramm-Merkliste setzte, fiel mir auf, dass sich bei mir zuhause bereits mehrere andere Gefängnistexte von (wiederentdeckten) Schriftstellerinnen tummeln, die ich noch nicht gelesen habe.
Von Albertine Sarrazin kenne ich zwar schon ihren bekanntesten Roman Astragalus, der vor ein paar Jahren in einer Neuübersetzung von Claudia Steinitz neu aufgelegt wurde. Sarrazins andere Romane, die ebenfalls von ihrer eigenen Zeit im Gefängnis inspiriert sind, habe ich aber bisher noch nicht gelesen. Auch Emmy Hennings hat mit Gefängnis, Das graue Haus und Das Haus im Schatten drei Gefängnisromane geschrieben, von denen der erste seinerzeit großes Aufsehen erregte, während die anderen beiden zu Hennings’ Lebzeiten nie veröffentlicht wurden. Luise Rinsers 1946 erschienenes Gefängnistagebuch über ihre Verhaftung wegen angeblicher "Wehrkraftzersetzung" scheint nicht unproblematisch zu sein, Rinser hat wohl ihre eigene Rolle im Nationalsozialismus und vor allem die eigene angebliche Widerstandsleistung erheblich beschönigt. Ich habe es vor einiger Zeit in einem Bücherschrank gefunden und werde wohl trotzdem einmal reinlesen, um es mit den anderen Gefängnistexten von Frauen vergleichen zu können. Das Buch von Edeltraud Eckert schließlich war vor einem halben Jahr oder so mein Büchergilde-Quartalskauf, ich weiß bisher wenig über diese vergessene DDR-Autorin, bin aber sehr gespannt, bald mehr über ihr Leben und Werk zu erfahren. Jahr ohne Frühling ist Teil einer ganzen Reihe in der Büchergilde erschienener Bücher von vergessenen DDR-Autor*innen, die sog. Verschiegene Bibliothek, die von Ines Geipel und Joachim Walther herausgegeben wird. (Um sie kaufen zu können, muss man aber leider Büchergilde-Mitglied sein.) Natürlich besitze ich mehrere Bände aus dieser Reihe und überhaupt habe ich mir in letzter Zeit diverse Bücher von unbekannteren DDR-Autorinnen besorgt, das nächste Leseprojekt nimmt also auch schon grobe Formen an, aber das würde hier nun wirklich zu weit führen…
Das war’s deshalb für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer. Insbesondere, wenn ihr ergänzende Empfehlungen zu einem meiner oben beschriebenen Themenstapel habt, immer her damit!
Den nächsten Newsletter werde ich voraussichtlich wieder an einem Mittwoch verschicken, vermutlich in zwei Wochen, vielleicht auch schon nächste oder erst in drei. Bis dahin findet ihr mich wie immer mit buchnahem Content auf Twitter.
Sollte diese Ausgabe nicht in eurem Postfach auftauchen, dann checkt euren Spam-Ordner und fügt ggf. diese Mailadresse eurem Adressbuch hinzu. Grundsätzlich könnt ihr alle alten Ausgaben des Newsletters auch jederzeit im Archiv auf der Substack-Seite nachlesen.
Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda
Liebe Magda
Vielen Dank für deinen inspirierenden Newsletter, ich lese ihn sehr, sehr gerne.
Als Ergänzung ein Tipp: ich bin ein grosser Fan der argentinischen Autorin Claudia Piñeiro: tolle Gesichten/Feminismus/Sozialkritik, - den neusten Roman Catedrales gibts leider erst auf Spanisch.
Auch von ihr: die Netflix-Serie El Reino (Drehbuch). Alles Liebe und grand merci! Olivia