Frauenbanden statt Männerbünde – Ein Festivalbericht
Gedanken zum diesjährigen #InsertFemaleArtist Festival
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Ihr Lieben,
heute gibt es eine Sonderausgabe meines Newsletters, in dem es um eine sehr inspirierende Veranstaltung gehen soll, die ich vergangenes Wochenende besucht habe. Vom 23.-26.9. hat nämlich in Köln die zweite Auflage des Insert Female Artist Festivals, einem Literaturfestival für feministische Stimmen, stattgefunden, und ich hatte das große Privileg, es live vor Ort miterleben zu dürfen. Ich war vor zwei Jahren bei der ersten Ausgabe des Festivals bereits als Besucherin anwesend, habe dort spannenden Diskussionen gelauscht, tolle Autor*innen und andere literarische Mitstreiter*innen kennengelernt und rundum ein großartiges Erlebnis gehabt.
Mit INSERT FEMALE ARTIST wurde »ein großartiges und inspirierendes Umfeld geschaffen, um darüber zu diskutieren, in welcher Weise Autorinnen und Künstlerinnen rezipiert und inszeniert werden, wie ihre Werke beurteilt werden, wie man an sie erinnert«.
(Anne Burgmer, Kölner Stadtanzeiger, über das Festival 2019)
Umso mehr habe ich mich gefreut, als die beiden Festival-Gründerinnen Sonja Lewandowski und Svenja Reiner mich fragten, ob ich dieses Jahr in professioneller Funktion am Festival teilnehmen wollte. In meiner Rolle als offizieller Twitter-Live-Berichterstatterin habe ich in den vergangenen Tagen schon viele Eindrücke vom Festival unter dem #InsertFemaleArtist auf Twitter geteilt, einige meiner persönlichen Highlights (und neuen Lektürepfade, die sich daraus für mich ergeben haben) möchte ich aber auch im Rahmen meines Newsletters noch einmal für euch rekapitulieren:
Gleich die erste Veranstaltung am Festivalfreitag war eine, auf die ich mich besonders freute, denn ich hatte die jüngsten Bücher der beiden Autorinnen sowie der Moderatorin mit großer Begeisterung gelesen.
In dem von Hanna Engelmeier (Trost. Vier Übungen, Matthes & Seitz 2021) moderierten Panel sprachen Dilek Güngör (Vater und ich, Verbrecher Verlag 2021) und Isabelle Lehn (Frühlingserwachen, Fischer 2019) über "das ICH in der Gegenwartsliteratur, über Vorteile und Fallen seines Authentizitätsanspruchs, identitätspolitische Bewegungen im Literaturbetrieb und die Popularität von Autofiktionen und Ich-erzählten Sachbüchern" und machten mir dabei sofort Lust, ihre beiden Romane noch ein zweites Mal zu lesen. Wer sie noch nicht kennt, dem seien sie hiermit sehr ans Herz gelegt, ebenso wie das Buch von Hanna Engelmeier!
Zweites Highlight des ersten Festivaltages war abends die von Akiko Ahrendt und Neo Hülcker inszenierte szenische Lesung mit Texten, die vorher von den Festivalautor*innen ausgewählt wurden, weil sie ihnen in ihrem eigenen Lesen und Schreiben viel bedeutet haben. Das besonders Ungewöhnliche an dieser Lesung war die Tatsache, dass Akiko Ahrendt nur per Videostream zugeschaltet war, weil sie sich als alleinerziehende Mutter um ihren Sohn Bruno kümmern musste. Als kleines Experiment machte sie das familiäre Ritual des abendlichen Vorlesens kurzerhand zum Teil ihrer offiziellen Performance und las ihren Teil der ausgewählten Texte nicht nur dem Publikum im Festivalsaal, sondern eben auch ihrem Sohn vor, der neben ihr im Bett saß, und erklärte ihm dabei in Echtzeit die Begriffe und Formulierungen, die er nicht verstand.
Dieses unkonventionelle Vorgehen hat die Doppelbelastung berufstätiger Mütter, insbesondere die schwierige Vereinbarkeit von Sorgearbeit und Künstler*innenschaft, sehr anschaulich (und unterhaltsam) auf den Punkt gebracht.
Am nächsten Morgen fand mit dem sog. "Bandenbrunch" ein Event statt, an dem ich bereits 2019 mit großem Gewinn teilgenommen und wertvolle Kontakte zu anderen Frauen aus der Kulturbranche geknüpft hatte.
Bei Kaffee, Tee und leckerem vegetarisch-veganem Buffet saßen wir (geimpft, getestet, genesen und mit offenen Fenstern) zusammen und haben uns über unsere verschiedenen Expertisen, kreativen Projekte etc. ausgetauscht. Am spannendsten fand ich dabei, mehr über die Arbeit von verschiedenen kollektiven Publikationsprojekten zu erfahren: Kaśka Bryla, Mitbegründerin der Zeitschrift PS: politisch schreiben — Anmerkungen zum Literaturbetrieb, erzählte von der Arbeit ihrer Redaktion. Vor allem die neueste Ausgabe zum Thema "Prosadebüts" hört sich sehr interessant an. Und Nel und Lea hatten Spannendes von ihrem Berliner Verlagskollektiv etece zu berichten, das sich derzeit noch in der Gründungsphase befindet, bald aber mit dem ersten Open Call durchstarten wird. Stay tuned!
Weil ich mich beim Bandenbrunch so angeregt unterhalten habe, habe ich leider die zeitgleich stattfindenden Flohmarkt-Lesungen mit Fatima Khan, Şehnaz Müldür, Rebecca Ramlow und Nora Schramm verpasst, die Audioaufzeichnungen der gelesenen Texte kann man aber zum Glück hier nachhören.
Kaśka Bryla, die ich beim Bandenbrucn kennenlernte, saß dann auch, gemeinsam mit der Autorin Deniz Ohde, die ich zwei Jahre vorher beim Bandenbrunch kennengelernt hatte, auf dem nächsten Panel des Festivals, das von den beiden Festivalgründerinnen Sonja und Svenja gemeinsam moderiert wurde:
Beide Autorinnen haben 2020 jeweils ihren Debütroman veröffentlicht, Deniz Ohdes Streulicht war eine meiner deutschsprachigen Lieblingslektüren des letzten Jahres, die ich an anderer Stelle bereits ausführlicher besprochen habe. Kaśka Brylas Roman Roter Affe kannte ich bisher noch nicht, möchte ihn nach der interessanten Diskussion auf dem Panel aber unbedingt lesen. Mein Interesse wurde v.a. von Svenja Reiners Analyse, wie der Roman die klassische Heldenreise umerzählt, geweckt, denn nach ihrer Beschreibung klingt der Roman so, als wäre er ein Paradebeispiel für die Heldinnenreise, einem Erzählkonzept, von dem ich erst kürzlich durch eine Folge des Podcasts Sexy & Bodenständig der Autor*innen Till Raether und Alena Schröder erfahren habe. Darin beziehen die beiden sich auf das Buch The Heroine’s Journey von Gail Carriger, das ich diesen Sommer auch mit großem Erkenntnisgewinn gelesen habe. (Ein weiteres Buch zum Thema, auf das ich sehr gespannt bin, ist übrigens Maria Tatars The Heroine with 1001 Faces, das nächsten Monat erscheinen soll.)
Eines meiner Lieblingsevents des ganzen Festivals war "Milk. Ink. Nursing time" – Schreiben & Sorgen" mit Sandra Gugić und Simone Hirth, das ganz großartig von Selim Özdoğan moderiert wurde:
Simone Hirths Roman Das Loch, der letztes Jahr in einem meiner liebsten unabhängigen Verlage, nämlich dem österreichischen Verlag Kremayr & Scheriau, erschienen ist, zählt zu meinen Lieblingsbüchern 2020. Darin schreibt die Ich-Erzählerin, eine Schriftstellerin und überforderte Mutter eines kleinen Sohnes, Briefe an die unterschiedlichsten Adressat*innen (Madonna, die Frauenministerin, Jesus, einen Frosch, das titelgebende Loch und viele weitere), in denen sie ihrer Überforderung und ihrer Frustration über die unglaubliche Doppelbelastung, der sie durch die alleinige Betreuungsverantwortung ihres Kindes ausgesetzt ist, Ausdruck zu verleihen sucht.
Obwohl ich Sandra Gugić schon lange schätze (und ihr auf Twitter folge), war ihr Roman Zorn und Stille letztes Jahr eines der Bücher, das meinem Zeitmangel und meiner Schockstarre angesichts meiner turmhohen Lesestapel zum Opfer fiel. Um so mehr freue ich mich darauf, ihn jetzt im Nachgang dieses Festivals so bald wie möglich zu lesen, denn die Textstelle, die Sandra im Rahmen des Panels am Wochenende vorgelesen hat, nahm mich sofort gefangen!
Und auch auf das Werk des Moderators Selim Özdoğan wurde ich sofort neugierig. Von seinen zahlreichen Romanen hatte ich bisher noch nichts gelesen, aber seinen Erzählungsband Die Musik auf den Dächern (gerade eben erst bei der Edition Nautilus erschienen) habe ich mir direkt auf dem Festival noch gekauft und auf der Heimreise im ICE gleich zu lesen begonnen. Bisher finde ich es grandios.
Auf das Panel zum Thema Schreiben und Sorgearbeit folgte ein sehr guter Vortrag von Prof. Dr. Mita Banerjee über das Leben und Werk der afrodeutschen Dichterin, Soziologin und Aktivistin May Ayim, der mich dazu inspirierte, mich an Ort und Stelle noch mit neuen/alten Büchern von Ayim einzudecken.
Den von Ayim und anderen Mitstreiterinnen in den 80er Jahren herausgegebenen Band Farbe bekennen: Afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte hatte ich mir schon letztes Jahr in der Neuausgabe des Orlanda Verlags gekauft. Nach dem Vortrag konnte ich dann auch Ayims gesammelte Aufsätze, Reden und Interviews in Grenzenlos und unverschämt und den Lyriksammelband blues in schwarzweiss & nachtgesang nicht auf dem Festival-Büchertisch zurücklassen. Beide sind kürzlich im Unrast Verlag erschienen, zu letzterem hat die Autorin Olumide Popoola ein Vorwort verfasst, deren (auf Englisch verfassten) Roman When We Speak of Nothing ich übrigens auch sehr empfehlen kann.
In letzter Zeit sind neben diesen Wiederauflagen von May Ayims eigenen Texten außerdem zwei Bücher über die Autorin erschienen, nämlich die von Natasha Kelly herausgegebene Anthologie Sisters and Souls 2 bei Orlanda und May Ayim. Radikale Dichterin, sanfte Rebellin, herausgegeben von Ika Hügel-Marshall, Nivedita Prasad, Dagmar Schultz, bei Unrast.
Insgesamt hatte ich drei wirklich wunderschöne, intensive, inspirierende Tage auf diesem großartigen Festival und bin unglaublich dankbar für all die tollen Begegnungen und spannenden Diskussionen, die ich dort, zum ersten Mal seit Langem richtig face to face, hatte.
Eigentlich gab es nur einen Aspekt, der mich an diesem Festival so richtig, richtig gestört hat, aber das war keiner, für den die Veranstalter*innen irgendetwas können:
Feminismus und sonstige Gleichberechtigung scheinen einfach immer noch als Nischenthema zu gelten, für dessen Umsetzung Frauen die alleinige Verantwortung tragen. Und das kotzt mich unglaublich an! Scheißt doch endlich auf eure affigen Männerbünde und schließt euch stattdessen lieber unseren Frauenbanden an!
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich wieder an einem Mittwoch verschicken, vermutlich in zwei Wochen, vielleicht auch schon in einer oder erst in drei. Bis dahin findet ihr mich wie immer mit buchnahem Content auf Twitter.
Sollte diese Ausgabe nicht in eurem Postfach auftauchen, dann checkt euren Spam-Ordner und fügt ggf. diese Mailadresse eurem Adressbuch hinzu. Grundsätzlich könnt ihr alle alten Ausgaben des Newsletters auch jederzeit im Archiv auf der Substack-Seite nachlesen.
Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda
Danke für die Empfehlungen! Habe direkt den Podcast abonniert und muss mir schnellstmöglich May Ayim Bücher besorgen… Roter Affe und die Politisch Schreiben zum Prosadebüt sind beide extrem gut, da kannst du dich drauf freuen :)
Moin liebe Magda,
Deine Wut zum Schluss kann ich absolut nachvollziehen. Sage und schreibe acht Bücher haben mich gepackt und sind auf die Wunschliste gehüpft. Ich freue mich, wenn ich bald wieder ein Paket von Ocelot bekomme :-)
Liebe Grüße, Anne-Marit