Fleischfressende Kröten, literarische Liebe auf den ersten Blick und ein Veranstaltungstipp
Außerdem: wie genderbewusste Sprache beim Lösen von Mordfällen helfen kann
Ihr Lieben,
erst mal ein herzliches Willkommen an alle, die in den letzten Tagen dank des frischgebackenen Newsletters meiner tollen Kollegin Maria hierher gefunden haben. (Und wer von den alten Hasen hier Maria und ihren Newsletter noch nicht kennt, sollte da schleunigst Abhilfe schaffen!)
Inzwischen hat dieses seltsame exzentrische kleine Projekt die tausend Abonnent*innen geknackt und eine schönere Rückkehr aus meiner kurzen Sommerpause hätte ich mir kaum wünschen können! Als Dankeschön (oder Strafe?) gibt es eine neue Runde Büchertipps und auch ein paar kritische Gedanken zu einer meiner Lektüren:
In meinem letzten Newsletter habe ich über Bücher geschrieben, "in denen übernatürliche bzw. rational nicht erklärbare Ereignisse in das (heteronormative) Leben von Frauen (insbesondere von Müttern) einbrechen und ihnen letztendlich dabei helfen, sich zumindest ein wenig aus den patriarchalen gesellschaftlichen Strukturen, in denen sie gefangen waren, zu befreien", und euch in diesem Rahmen u.a. auch Rachel Ingalls’ Novelle Mrs Caliban empfohlen. Die Ausgabe davon, die ich gelesen habe, ist ein eBook mit dem Titel Mrs Caliban and Other Stories, das neben der Titelgeschichte auch noch weitere Erzählungen aus zwei anderen in den 80ern erschienenen Bänden von Rachel Ingalls (Three of a Kind, 1985, und The End of Tragedy, 1987) enthält. Diese Erzählungen habe ich nun in den letzten Wochen immer mal wieder nebenher gelesen und wenn ich ganz ehrlich bin, haben sie mich sogar noch viel mehr umgehauen als Mrs Caliban, was ja Ingalls’ bekanntestes Werk ist.
Alle diese Erzählungen spiegeln ein großes Unbehagen mit den (heteronormativen, patriarchalen) gesellschaftlichen Konventionen wider, in denen sich vor allem junge Frauen häufig gefangen finden und die meistens von Gewalt (in verschiedenen Ausformungen) geprägt sind. Um aus diesen Strukturen zu entkommen, ist oftmals eine übernatürliche Intervention nötig, aber ein Happy End gibt es dabei nicht immer, vor allem dann nicht, wenn fleischfressende Kröten im Spiel sind:
Auch der junge Mönch namens Anselm, der nach einem Besuch von und wildem Sex mit dem Erzengel Gabriel plötzlich schwanger wird, findet unter seinen ressentimentgeladenen Klosterbrüdern keinen Frieden, ebensowenig die junge Ehefrau, die sich unter falschen Vorannahmen in den Bodyguard ihres reichen und wesentlich älteren Ehemannes verliebt. Und die andere junge Frau, die während ihres Skiurlaubs mit ihrem deutschen Verlobten versehentlich einer reichen Geheimgesellschaft auf die Spur kommt, wird für ihren Fehler zu lebenslangem Bridge-Spielen in alpiner Isolation verdammt.
Andererseits kommt es vielleicht auch einfach darauf an, wie genau man ein Happy End definiert, denn "in [Ingalls’] vision of intimacy and interdependence, you’re simply not safe until everybody else is dead".
Auf jeden Fall hat mich dieser Band jetzt extrem angefixt, ich halte Rachel Ingalls für eine absolute Meisterin des (mal mehr, mal weniger subtilen) Gothic Horror und möchte nun unbedingt alle weiteren ihrer Erzählbände lesen. In der deutschen Ausgabe von Mrs Caliban sind die hier erwähnten Erzählungen leider nicht mit enthalten, einige davon wurden aber früher mal in dem inzwischen vergriffenen Band In Flagranti (Ü: Werner Löcher und Gisela Stege) bei Hoffmann & Campe veröffentlicht. Dort erschien in den 90ern auch ein weiterer Erzählungsband (ebenfalls leider vergriffen) unter dem Titel Die schwarze Perle (Ü: Werner Löcher). Ich finde ja, es wäre auch in Deutschland höchste Zeit für ein Rachel-Ingalls-Revival!
Wir gehen direkt zur nächsten revivalwürdigen Autorin über, denn was soll ich sagen, ich hab mich mal wieder (literarisch) schockverliebt! Meine Twitterfreundin Julia Pühringer hat neulich Auszüge aus einem Lyrikband geteilt, die mich so neugierig gemacht haben, dass ich sofort zum Internetgebrauchthändler meines Vertrauens gestürzt bin, um mir den Band ebenfalls zu besorgen. Und sobald ich ihn wenige Tage später aus dem Briefkasten fischte und loslas, war es um mich geschehen (und die nächste Bestellung abgeschickt)!
Elfriede Haslehner, geboren 1933 als Elfriede Götz in Wien und aufgewachsen im Sudetenland, bevor sie nach Kriegsende mit ihrer Familie nach Wien fliehen musste, verarbeitet in ihren Gedichten die (gesellschafts-)politischen Themen, die sie in ihrem Alltag am meisten beschäftigen, darunter v.a. die Frauen- und die Ökobewegung sowie die Frage nach der unzulänglichen (österreichischen) Vergangenheitsbewältigung.
Ich war bei der Lektüre gleichzeitig beeindruckt und (angesichts der Themenschwerpunkte) traurig darüber, wie aktuell mir Haslehners Gedichte, die teilweise aus den 70er Jahre stammen, vorkamen:
Und weil ein dünnes Lyrikbändchen allein nicht satt macht (keine Sorge, Nachschub in Form eines weitere Lyrikbandes ist inzwischen hier eingetroffen!), habe ich mir dann auch noch eine Sammlung mit Prosatexten von Haslehner bestellt:
Der Band Krisen, Schatten und Zyklamen (Edition Roesner 2012, leider vergriffen) enthält "realistische, utopische und satirische Prosa", die in der Zeit zwischen 1970 und 2010 entstanden ist. Die Texte der ersten Kategorie reichen von Kindheitserinnerungen an das Kriegsende und die Flucht aus dem Sudetenland über Schilderungen vom Ärger mit esoterischen Fanatiker*innen in der Nachbarschaft bis hin zur Spurensuche nach den Kriegserfahrungen des Vaters und zu den Erinnerungen an das Sterben der Mutter.
Was ich an diesen "realistischen" Texten, die alle mehr oder weniger autobiografisch gefärbt zu sein scheinen, besonders spannend finde, ist, dass viele davon die immer gleichen Figurenkonstellationen verwenden, allerdings jeweils mit unterschiedlichen Namen. So geht es also in den meisten dieser Texte um eine geschiedene Frau mittleren Alters, die eine Wohnung in Wien und einen wesentlich jüngeren Freund hat, die an einem alternativen Siedlungsprojekt draußen auf dem Land teilnimmt, deren Vater verstorben und die Mutter alt und krank ist, die keine Festanstellung findet und ein schwieriges Verhältnis zu ihrem Bruder pflegt. Diese Beziehungen/Rahmenbedingungen bleiben eigentlich in allen Erzählungen gleich, nur heißt die Frau dann im einen Text Beate und ihr Freund Hans, im nächsten heißt sie Nora, im dritten gibt es eine Ich-Erzählerin und ihr Freund heißt Max. Trotz dieser wechselnden Namen ergibt sich insgesamt ein sehr stimmiges Bild vom Leben einer Frau, die wohl zumindest recht viele biografische Überschneidungen mit der Autorin hat, wenn sie ihr auch nicht vollkommen gleichzusetzen ist. Am faszinierendsten ist für mich, dass Haslehner dieses Konzept auch auf den ersten der in dem Band versammelten "utopischen" Prosatexte ausdehnt. In der Erzählung "Die Krise", die davon handelt, dass von einem Tag auf den anderen alle modernen zivilisatorischen Errungenschaften (Strom, fließendes Wasser, Verbrennungsmotoren, etc.) plötzlich nicht mehr funktionieren, sind es Lisa und Harald, die gemeinsam ums Überleben kämpfen, aber es könnten genausogut Beate und Hans, Nora und Max sein.
Bei den restlichen "utopischen" Texten handelt es sich dann um eher etwas schwerfällige Allegorien auf bspw. die gesellschaftliche Dominanz der Automobil-, Atom- und Waffenindustrie, die mich literarisch nicht ganz so überzeugen konnten. Die "satirischen" Texte dagegen haben mich dann wieder sehr abgeholt, sie enthalten einige interessante feministische Gedankenspiele und einen tollen Text über das altbekannte Problem der (kreativen) Gratis-Arbeit.
Leider sind Haslehners Veröffentlichungen über verschiedenste Klein- und Kleistverlage verstreut und inzwischen (fast?) alle vergriffen, vereinzelt sind sie aber noch antiquarisch zu ergattern. Die Autorin lebt aber noch und ich persönlich fänd es ziemlich schön, wenn sie ihr eigenes literarisches Revival noch miterleben könnte. Will nicht irgendjemand nochmal eine Ausgabe ihrer gesammelten Gedichte verlegen? Ich würde so gerne alles lesen, was Elfriede Haslehner geschrieben und publiziert hat, und mit einer neuen Gesamtausgabe könnte ich mir dabei die mühsame Jagd durch die Antiquariate ersparen!
Wer mir schon länger auf Twitter folgt, hat vielleicht schonmal mitbekommen, dass eines meiner Long-Term-Leseprojekte darin besteht, alle 66 Kriminalromane von Agatha Christie zu lesen. In meiner Jugend habe ich eine relativ willkürlich ausgesuchte Handvoll davon in den alten deutschen Übersetzungen aus dem Scherz Verlag gelesen, seit einigen Jahren sammle ich auf Flohmärkten und in Antiquariaten die mir noch fehlenden englischen Originalausgaben ein und gehe bei der Lektüre inzwischen einigermaßen chronologisch vor.
Über 40 der Krimis habe ich in den letzten Jahren schon "geschafft", ich lese etwa zwei bis vier davon pro Jahr und sie sind einfach der ultimative Comfort Read für mich, auch wenn ich grundsätzlich eigentlich überhaupt keine Krimileserin bin, nur etwa jeden zweiten Christie wirklich gut finde und selbst die besseren dieser Romane meistens noch viele Rassismen, Sexismen und andere problematische Stellen enthalten. Aus diesem Grund sind Agatha Christie-Krimis auch keine Bücher, für die ich ausdrückliche Leseempfehlungen aussprechen möchte, das hat die Dame als Guinness-Buch-verbürgte "best-selling fiction writer of all time" auch überhaupt nicht nötig. Trotzdem möchte ich heute über einen ihrer Krimis sprechen, den ich letzte Woche gelesen habe, weil ich bei der Lektüre eine interessante Beobachtung gemacht habe. (SPOILERWARNUNG für den Rest des Themenblocks, obviously!)
Ich habe Murder is Easy (1939) gelesen, einer von den Krimis, in denen weder Miss Marple noch Hercule Poirot ermitteln, sondern eine einmalig vorkommende Figur namens Luke Fitzwilliam, ein ehemaliger Polizeibeamter, der nach einem langen Einsatz in einer der britischen Kolonien in Südostasien – Kolonialismus ist ja Hintergrundrauschen in allen Christie-Krimis – für den Ruhestand nach England zurückkehrt und gleich auf seiner ersten Zugfahrt in ein Gespräch mit einer aufgeregten alten Dame verwickelt wird, die auf dem Weg nach London ist, um der Polizei eine vermeintliche Mordserie in ihrem Dorf Wychwood zu melden. Fitzwilliam nimmt die Geschichte der Frau erst nicht besonders ernst, als er aber kurze Zeit später aus der Zeitung erfährt, dass seine Zugbekanntschaft auf dem Weg zu Scotland Yard von einem Auto überfahren wurde, wird er misstrauisch und begibt sich nach Wychwood, um auf eigene Faust Ermittlungen aufzunehmen.
Es folgt ein ziemlich schwacher Plot mit einer seeehr cringy und unbefriedigenden Liebesgeschichte, viel Sexismus und Ableismus und ziemlich unschönen Aussagen zum Thema psychische Erkrankungen, und einer willkürlich eingeflochtenen Schwarzen Messe/Orgie als Garnierung (über die ich allerdings gerne mehr gelesen hätte, doch, alas, sie bleibt leider sehr am Rande des Geschehens!). Alles in allem, bis auf wenige Lichtblicke, kein besonders befriedigender Christie-Krimi. ABER, und jetzt spoilere ich gleich die Lösung des Falles…
… diesmal habe ich den*die Mörder*in schon viel früher im Text richtig erraten als sonst (ich lese Christie normalerweise nicht, um selbst die Lösung des Mordfalles auszutüfteln, sondern für ihre bei allen Sexismen/Rassismen/etc. doch ziemlich genauen Beschreibungen bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse und Schichten). Das mag zum einen daran liegen, dass ich eventuell irgendwann früher schon einmal eine Fernsehadaption von diesem Buch gesehen habe (eine der Miss Marple-TV-Serien hat bspw. manchmal die Plots von Nicht-Marple-Krimis umgeschrieben und zweitverwertet), andererseits bin ich mir aber sicher, dass speziell bei diesem Krimi moderne, in Fragen der gendergerechten Sprache geschulte Leser*innen einen klaren Vorteil gegenüber Christies zeitgenössischem Publikum haben. Luke Fitzwilliam ist nämlich bis zum vorletzten Kapitel auf der völlig falschen Fährte und verdächtigt reihum ausschließlich verschiedene Männer, obwohl die Mörderin natürlich eine Frau war. Warum ich das schon gleich zu Beginn des Buches richtig erraten habe (auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt die in Frage kommenden Verdächtigen noch gar nicht kennengelernt hatte)? Weil der entscheidende Hinweis in Luke Fitzwilliams Gespräch mit der alten Dame im Zug, das gleich im ersten Kapitel erfolgt, folgendermaßen formuliert ist:
"You know, I remember reading once – I think it was the Abercrombie case – of course he’d poisoned quite a lot of people before any suspicion was aroused – what was I saying? Oh yes, somebody said that there was a look – a special look that he gave any one – and then very shortly afterwards that person would be taken ill. I didn’t really believe that when I read about it – but it’s true!"
"What’s true?"
"The look on a person’s face …"
Als ich "a person" las, schrillten bei mir natürlich sofort alle Alarmglocken und mir war vollkommen klar, dass Lavinia Fullerton hier höchstwahrscheinlich über eine Frau spricht, Luke Fitzwilliam dagegen hört "Person" und denkt "Mann" und zieht von da an eine andere Möglichkeit nichtmal mehr in Erwägung. Und so tappt er bis zum Ende der Geschichte im Dunkeln und bringt dadurch sogar seine Verlobte in Lebensgefahr. Ebendiese Verlobte, Bridget, ist es auch, die den Fall schließlich quasi im Alleingang löst:
"And then I remembered that [according to Luke Fitzwilliam] Miss Pinkerton had definitely spoken of a man as the killer. That knocked out all my beautiful theory, because, unless Miss Pinkerton was right, she wouldn’t have been killed … So I got you to repeat exactly Miss Pinkerton’s words and I soon discovered that she actually hadn’t said 'Man' once. Then I felt that I was definitely on the right track!"
Die Moral von der Geschichte könnt ihr euch selber überlegen!
Zum Schluss möchte ich euch noch auf eine Veranstaltung hinweisen, die Ende des Monats in Köln (und digital!) stattfindet und die mir sehr am Herzen liegt.
Nach einjähriger Pause findet vom 23. bis 26. September zum zweiten Mal das großartige Insert Female Artist, ein Literaturfestival für feministische Stimmen, statt. Bei der ersten Runde im Herbst 2019 war ich als Zuschauerin dabei und absolut begeistert von den tollen Panels und Lesungen und den Netzwerken und Kooperationen, die sich im Rahmen des Festivals und auch danach ergeben haben und an denen ich teilweise auch beteiligt war und bin. Das diesjährige Programm könnt ihr hier angucken, es gibt ein begrenztes Ticketkontingent für die Teilnahme vor Ort, außerdem werden die meisten der Events online gestreamt und ihr könnt einen digitalen Festivalpass erwerben, wozu ich euch sehr rate!
(Disclaimer: ich kooperiere auch offiziell mit dem IFA, indem ich a) im Vorfeld zum Festival einen Twitter-Lesekreis zu Sheila Hetis autofiktionalem Roman How Should A Person Be? betreue und b) das Festival selbst live auf Twitter begleiten werde. Für diese Arbeit werde ich angemessen vergütet, am Festival hätte ich aber auch ohne diese Kooperation als Zuschauerin auf jeden Fall teilgenommen!)
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich wieder an einem Mittwoch verschicken, vermutlich in zwei Wochen, vielleicht auch schon in einer oder erst in drei. Bis dahin findet ihr mich wie immer mit buchnahem Content auf Twitter.
Sollte diese Ausgabe nicht in eurem Postfach auftauchen, dann checkt euren Spam-Ordner und fügt ggf. diese Mailadresse eurem Adressbuch hinzu. Grundsätzlich könnt ihr alle alten Ausgaben des Newsletters auch jederzeit im Archiv auf der Substack-Seite nachlesen.
Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda
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Liebe Magda, danke für die tollen Empfehlungen! Ich liebe Literatur von österreichische Autorinnen, aber Haslehner kannte ich noch nicht. Welche Gedichtband hast du von ihr gelesen?
Vielen Dank für die tollen Empfehlungen, jetzt muss ich mich wohl auch in den Antiquariaten auf Gedichtsuche machen…