Exklusiv-Ausgabe: Worauf ich mich 2022 (literarisch) freue
Ein subjektiver Blick in die Frühjahrsvorschauen
Edit vom 9.2.2022: Dieser Post war ursprünglich hinter einer Paywall verborgen und exklusiv meinen zahlenden Abonnent*innen vorbehalten. Weil gerade die Leipziger Buchmesse 2022 abgesagt wurde und das total aufmerksamkeitstechnisch total scheiße ist für alle Autor*innen, deren Bücher dieses Frühjahr erscheinen, habe ich mich entschieden, meine Frühjahrsvorschau nachträglich doch noch für alle Leser*innen freizuschalten.
Ihr Lieben,
ihr seid jetzt ganze 31 (Stand: 6.1.) unglaublich tolle Menschen, die meine Arbeit an diesem Newsletter inzwischen finanziell unterstützen und für diese Wertschätzung bin ich euch sehr dankbar. Wie versprochen erhaltet ihr als kleines Dankeschön nun meinen allerersten gepaywallten Exklusivcontent — nämlich eine sehr persönliche Liste von Titeln aus den Frühlingsprogrammen deutschsprachiger Verlage, die mir beim Sichten der Vorschauen ins Auge gesprungen sind oder auf die ich mich aus anderen Gründen sehr freue. (Ja, mir ist die Ironie eines "Dankes", der darin besteht, euch zu erzählen, wofür ihr euer Geld dieses Jahr außerdem noch ausgeben könntet, durchaus bewusst…). Ich konzentriere mich dabei (mit ein paar Ausnahmen) auf unabhängige Verlage und auf Titel, von denen ich vermute, dass sie ansonsten noch nicht so viel Vorab-Buzz bekommen. Von den Spitzentiteln der Großverlage werdet ihr eh anderweidig genug mitkriegen! Da ich die allermeisten dieser Bücher obviously selbst auch noch nicht gelesen habe, kopiere ich euch einfach nur den jeweiligen Vorschautext hier rein, sonst sitze ich übermorgen noch hier. Meine eigenen Kommentare zu den Büchern schreibe ich kursiv. Los geht’s!
Deutschsprachige Belletristik:
Berit Glanz, Automaton (Berlin Verlag, 24. Februar)
Es dürfte niemanden überraschen, dass mein am heißesten ersehnter deutschsprachiger Roman des Jahres der zweite Roman meiner Freundin Berit ist. Euch geht es ja vermutlich ganz genauso, oder?
Die junge Mutter Tiff schlägt sich mit schlecht bezahlten Online-Jobs für die Plattform Automa durch, da sie wegen einer Angststörung ihre Wohnung kaum verlassen kann. Ihre zermürbende Akkordarbeit wird als angebliche Überwachungsleistung einer KI teuer verkauft, weshalb sie zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Doch dann wird sie am Bildschirm Zeugin eines Verbrechens ... Ein visionärer Gegenwartsroman, der zwischen der Klaustrophobie der eigenen vier Wände und den Hanffeldern Kaliforniens spielt und von neuen Ausbeutungsverhältnissen und den Chancen virtueller Solidarität erzählt.
Mareike Fallwickl, Die Wut, die bleibt (Rowohlt, 22. März)
Als Mareike zum ersten Mal auf Instagram von diesem spontan in der Pandemie entstandenen feministischen Wut-Roman erzählt hat, war ich sofort Feuer und Flamme!
Helene, Mutter von drei Kindern, steht beim Abendessen auf, geht zum Balkon und stürzt sich ohne ein Wort in den Tod. Die Familie ist im Schockzustand. Plötzlich fehlt ihnen alles, was sie bisher zusammengehalten hat: Liebe, Fürsorge, Sicherheit.
Helenes beste Freundin Sarah, die Helene ihrer Familie wegen zugleich beneidet und bemitleidet hat, wird in den Strudel der Trauer und des Chaos gezogen. Lola, die älteste Tochter von Helene, sucht nach einer Möglichkeit, mit ihren Emotionen fertigzuwerden, und konzentriert sich auf das Gefühl, das am stärksten ist: Wut.
Drei Frauen: Die eine entzieht sich dem, was das Leben einer Mutter zumutet. Die anderen beiden müssen Wege finden, diese Lücke zu schließen. Ihre Schicksale verweben sich in Mareike Fallwickls aufwühlendem und hellsichtigem Roman darüber, was es heißt, in dieser Gesellschaft Frau zu sein.
Kristine Bilkau, Nebenan (Luchterhand, 8. März)
Bücher von Twitter-Mutuals stehen grundsätzlich immer weit oben auf meiner Leseliste — bisher hat mich noch keines enttäuscht. Ich bin zuversichtlich, dass dieser Streak auch von Kristine Bilkau nicht berochen werden wird.
Ein kleiner Ort am Nord-Ostsee-Kanal, zwischen Natur, Kreisstadt und Industrie, kurz nach dem Jahreswechsel. Mitten aus dem Alltag heraus verschwindet eine Familie spurlos. Das verlassene Haus wird zum gedanklichen Zentrum der Nachbarn: Julia, Ende dreißig, die sich vergeblich ein Kind wünscht, die mit ihrem Freund erst vor Kurzem aus der Großstadt hergezogen ist und einen kleinen Keramikladen mit Online-Shop betreibt. Astrid, Anfang sechzig, die seit Jahrzehnten eine Praxis in der nahen Kreisstadt führt und sich um die alt gewordene Tante sorgt. Und dann ist da das mysteriöse Kind, das im Garten der verschwundenen Familie auftaucht.
Nadire Biskin, Ein Spiegel für mein Gegenüber (dtv, 16. Februar)
Das mit den Twitter-Mutuals gilt auch für Nadire, auf ihren Roman freue ich mich seit der ersten Ankündigung vor vielen Monaten.
Kann aus zwei halben Heimaten eine ganze werden?
Wenn der Muezzin singt, vergräbt Huzur ihren Kopf unterm Kissen. Wenn ihre Kolleg*innen in der Schule im Wedding sie auf ihre türkische Herkunft reduzieren, kommt sie mit Kopftuch zum Unterricht – und wird suspendiert. Wenn ihr ein Fremder am Flughafen von Antalya ein Kind an die Hand gibt, nimmt sie es, ohne zu fragen, mit nach Berlin. Aber dann holt niemand die zehnjährige Zaynab dort ab und Huzur ist plötzlich die einzige Bezugsperson für das syrische Mädchen. Eine Verantwortung, die umso schwerer wiegt, weil Zaynab sie in ihrer Zerrissenheit und Sehnsucht so sehr an sich selbst erinnert. Und auch, weil Huzur selbst noch nicht weiß, wie das eigentlich geht: in Deutschland zu Hause sein.
Kaśka Bryla, Die Eistaucher (Residenz Verlag, 1. März)
Kaśka Bryla habe ich im September auf einer Veranstaltung kennengelernt und fand alles, was sie dort sowohl auf der Bühne als auch im persönlichen Gespräch erzählt hat, so sympathisch und interessant, dass ich ihrem zweiten Roman sehr entgegenfiebere.
Iga, die Skaterin, die schöne Jess und der pummelige Ras sind Außenseiter*innen in ihrer Schulklasse, doch gemeinsam bilden sie eine verschworene Gruppe, die unzertrennlichen „Eistaucher“. Als die Jugendlichen eines Nachts Zeugen eines brutalen polizeilichen Übergriffs werden und diese Schandtat folgenlos bleibt, beschließen sie, das Recht selbst in die Hand zu nehmen. Zwanzig Jahre später taucht ein geheimnisvoller Fremder auf, der von der damaligen Rache zu wissen scheint und das prekäre Gleichgewicht gefährdet… Gekonnt verwebt Kaśka Bryla eine packende Story über die Ursachen von Radikalisierung mit einem Plädoyer für Solidarität und Liebe. Dieser Roman ist nichts für schwache Nerven und alles für brennende Herzen!
Heike Geißler, Die Woche (Suhrkamp, 7. März)
Mit Heike Geißler habe ich neulich an einer kleinen Onlineveranstaltung teilgenommen, außerdem habe ich schon über ihren vorherigen Roman Saisonarbeit viel gutes gehört, deshalb bin ich sehr gespannt auf ihren ersten Roman bei Suhrkamp.
»Politik, Europa, Gegenwart, Alltag, das kann einem ja nun keiner erzählen, dass das keine Auswirkungen hat«, ruft die Erzählerin ihrer Freundin Constanze zu. Zusammen sind sie die proletarischen Prinzessinnen – »Prinzessinnen, wie sie nicht in jedem Buche stehen. Aber wartet nur, wir schreiben uns in die Bücher hinein«. Zusammen wollen sie Widerstand leisten. Eine Revolte anzetteln. Die alten Märchen überschreiben. Denn etwas ist aus den Fugen geraten: Plötzlich drängen sich immer mehr Montage in die Woche. Da sind Riesen, die wie aus dem Schauermärchen in die Wirklichkeit schnellen. Da ist der Tod, der, eben noch erschöpft, immer mehr zum Akteur wird. Da ist ein unsichtbares Kind, das dafür plädiert, geboren zu werden. Da ist der schönste Roman der Welt in weißen Jeans. Höchste Zeit also, jedwede Ohnmacht zu überwinden.
Yael Inokai, Ein simpler Eingriff (Hanser Berlin, 14. Februar)
Die Buchpremiere zu Yael Inokais neuem Roman wird bei uns im Ocelot stattfinden und allein deshalb bin ich interessiert an dem Buch. Und das Thema Frauen und Medizin bechäftigt mich ja eh schon länger. Es ist also völlig klar, dass ich das lesen muss!
Meret ist Krankenschwester. Die Klinik ist ihr Zuhause, ihre Uniform trägt sie mit Stolz, schließlich kennt die Menschen in ihrem Leiden niemand so gut wie sie. Bis eines Tages ein neuartiger Eingriff entwickelt wird, der vor allem Frauen von psychischen Leiden befreien soll. Die Nachwirkungen des Eingriffs können schmerzhaft sein, aber danach fängt die Heilung an. Daran hält Meret fest, auch wenn ihr langsam erste Zweifel kommen.
„Ein simpler Eingriff“ ist nicht nur die Geschichte einer jungen Frau, die in einer Welt starrer Hierarchien und entmenschlichter Patientinnen ihren Glauben an die Macht der Medizin verliert. Es ist auch die intensive Heraufbeschwörung einer Liebe mit ganz eigenen Gesetzen. Denn Meret verliebt sich in eine andere Krankenschwester. Und überschreitet damit eine unsichtbare Grenze.
Bettina Wilpert, Herumtreiberinnen (Verbrecher Verlag, 8. März)
Ich habe Wilperts vorherigen Roman leider immer noch nicht gelesen, obwohl er mich sehr interessiert, jetzt steige ich halt erstmal mit dem neuen ein.
Manja ist 17 Jahre alt und lebt im Leipzig der 1980er Jahre. Ihre beste Freundin Maxie und sie schwänzen die Schule, brechen in Schrebergärten ein und treffen sich im Freibad oder auf dem Rummel mit Jungs, bis Manja im Zimmer des Vertragsarbeiters Manuel von der Volkspolizei erwischt wird und auf die Venerologische Station für Frauen mit Geschlechtskrankheiten kommt. Eingewoben in den Roman sind auch Erlebnisse von Lilo, die in den 1940er Jahren an diesem Ort festgehalten wurde, da sie mit ihrem Vater für den kommunistischen Widerstand gearbeitet hat, und der Sozialarbeiterin Robin, die in den 2010er Jahren in diesem Haus – nun eine Unterkunft für Geflüchtete – tätig ist. Der Roman »Herumtreiberinnen« erzählt die Geschichten von drei jungen Frauen aus verschiedenen Zeiten und stellt die Frage, welchen Einfluss diese Zeit und die jeweilige Staatsform auf ihre Leben hatten. Ein Haus in der Leipziger Lerchenstraße ist das verbindende Element der drei Erzählstränge.
Slata Roschal, 153 Formen des Nichtseins (homunculus verlag, 24. Februar)
Ein Debütroman über Identität, Migration, Außenseitertum, Weiblichkeit und die Frage nach dem Sein.Ksenia ist Russin, sie ist Deutsche, sie ist Jüdin, sie ist unter Zeugen Jehovas aufgewachsen, sie ist eine junge Frau, Mutter, Schriftstellerin und Wissenschaftlerin - das alles ist sie und gleichzeitig ist sie nichts davon. Bei der Erforschung des eigenen Identitätspluralismus sammelt sie Ebay-Anzeigen, die das Wort »russisch« enthalten, notiert Gespräche von Arbeitskolleg:innen, korrigiert Stellenaushänge, beobachtet russische Mütter in der Stadt und israelische Verwandte auf Facebook, besucht arabische Läden, diskutiert mit einem Logopäden, dolmetscht in einer Psychotherapie für Flüchtlinge, erinnert sich immer wieder an einen traumatischen kindlichen Zustand von Orientierungslosigkeit und Fremdbestimmung, betastet misstrauisch ihren Körper und fragt sich nach einer Definition und dem Wert des eigenen Daseins.Ein schonungsloses Romandebüt in Form einer Prosacollage voll bissigem Humor und sezierenden Alltags- wie Selbstbeobachtungen.
Lola Randl, Angsttier (Matthes & Seitz, 17. Februar)
Sprechende Pferdeköpfe faszinieren mich seit Fallada, der du da hangest!
Das kleine Häuschen auf dem Land war ein echter Glücksfall, Friedel ist schwanger und Jakob hat endlich die nötige Ruhe, um an seinem zweiten Roman zu schreiben. Alles ist perfekt. Also fast. Natürlich muss erst noch renoviert und ein Wickeltisch gebaut werden und vielleicht ein Bett, denn gekaufte Betten würden gar nicht in diese Idylle passen. Dann kann es endlich so sein, wie Jakob es sich schon als Kind immer gewünscht hat. Die Nachbarn sind zwar hilfsbereit, haben aber ihre eigenen Vorstellungen vom Leben auf dem Land. Dass Ramona, die übergewichtige Mutter von Denny, der wohl schon lange vor ihnen auf das Haus scharf war, Jakob so den Kopf verdreht, ist doch nicht normal. Zum Glück gibt es noch die Wälder und die Natur. Nachdem Jakob eines Nachts von einem Tier angefallen und gebissen wird, tritt jedoch immer häufiger seine eigene Natur zutage. Die Arbeit an seinem Buch verwirft er, sie harmoniert ohnehin nicht mit seinen einnehmenden Tagträumen und harschen Eskapaden. Viel interessanter scheinen ihm jetzt die Sagen aus der Umgebung. Was hat es etwa mit der Geschichte von den behaarten Dorfbewohnern und dem sprechenden Pferdekopf auf sich? Waren hier vielleicht schon immer alle verrückt?!
Eva Raisig, Seltene Erde (Matthes & Seitz, 3. März)
Berit Glanz hat gesagt, diesen Roman sollte ich auf dem Schirm haben, und ich evrtraue ihr da einfach mal!
Als die Voyager 1 viele Jahre nach ihrem Start aus dem interstellaren Raum zurück auf die Erde blickt, ist die Welt längst eine andere geworden. Alles, was der Raumsonde bleibt, ist ihre sorgsam ausgewählte Fracht aus Bildern, Musik und Grüßen in 55 Sprachen, um möglichen Außerirdischen vom Leben auf der Erde erzählen zu können. Aber das absolut Fremde lässt sich womöglich nicht nur in fernen Galaxien finden. Auch in einem südamerikanischen Dorf sollen Ufos so häufig sein wie die dort streunenden Hunde. Hierhin folgt Therese nach dem Tod ihrer Großmutter kurzerhand der von der Wissenschaft enttäuschten Astrophysikerin Lenka, die Antworten auf die Frage sucht, was ein Kontakt mit fremden Zivilisationen bedeuten würde. Doch während Therese Lenkas Sehnsucht nach einer anderen Welt beobachtet, spürt sie die Fremdheit zunehmend in den Leerstellen ihrer eigenen Familiengeschichte: Was bleibt vom Hungerwinter 1946/47? Was von der Schwester der Großmutter, die sich nachts in den halb zugefrorenen Main stürzte? Und wie sollte sich in einer Welt, in der innerhalb von zwei Generationen die Geschichten unwiederbringlich verloren gehen können, überhaupt ein ehrliches Bild unseres Planeten zeichnen lassen?
Frauke Tuttlies, Der geworfene Apfel (transit, 21. Februar)
Geschichten über das Aufwachsen in strenggläubigen Gemeinschaften haben mich schon immer fasziniert.
Manchmal beginnt mit einer tiefen Erschütterung eine Verwandlung und ein nie geahntes Aufbegehren. Die Ich-Erzählerin, ein junges Mädchen, wächst in einer streng christlichen Familie auf, die sich als Teil einer Gemeinschaft der Gläubigen sieht. In dieser religiösen Verbindung wird das Leben durch Beten, Singen, Bibelstunden, Gehorsam, Kampf gegen sündhafte Gedanken oder Taten, Beichten und klare Hierarchien bestimmt. Der Großvater ist das Familienoberhaupt, ein alter Patriarch. Seine Kinder und Enkelkinder, egal ob Mädchen oder Jungen, haben seinen Anweisungen und Vorstellungen zu folgen. Nachdem seine ihm ergebene Frau, also die Großmutter des Mädchens gestorben ist, sieht es im Apfelgarten, den die Großmutter angelegt hatte, wie der Großvater, der unablässige Streiter gegen alle Sittenlosigkeit, Tante Maria küsst. Für die Erzählerin bricht eine Welt zusammen, gleichzeitig wird ihre Neugier geweckt, was sich sonst noch hinter der Fassade der Wohlanständigkeit und Gläubigkeit verbirgt. Sie begehrt auf, stellt Fragen, besucht Verwandte – ihren Onkel, der als Missionar in Ceylon arbeitet und einen weiteren Onkel, der sich entschieden hat, in einem Kloster zu leben. Bei diesen Besuchen erfährt sie nicht nur, wie verworren, kontrovers und manchmal auch wie verrückt ihre Familie in Wirklichkeit ist, sondern auch, was ihre eigenen Bedürfnisse sind.
Tete Loeper, Barfuß in Deutschland (Orlanda, 7. März)
Mutoni, eine junge, gebildete Frau aus Ruanda, beschließt nach dem Tod ihrer Mutter auszuwandern. Über eine ehemalige Mitschülerin erhält sie das Angebot, nach Hamburg zu ziehen und dort einen Mann zu heiraten. Voller Zuversicht und Hoffnung auf ein besseres und wohlhabenderes Leben begibt sie sich auf den Weg nach Deutschland. Doch bereits kurz nach ihrer Ankunft zeigt sich, dass ihre Erwartungen nicht erfüllt werden: Ihre Unwissenheit führt sie in die Zwangsprostitution. Doch selbst als es ihr gelingt, dieser Gewalt zu entfliehen und in Süddeutschland neue Wege einzuschlagen, bleibt ihr Leben in der ungewohnten und fremden Umgebung voller Demütigungen und Herausforderungen. Die Erfahrungen, die sie als Schwarze Migrantin in Deutschland alltäglich macht, führen sie schließlich zu einer unerwarteten Entscheidung. Tete Loeper gelingt in ihrem Buch eine starke, und ergreifende Innensicht der Protagonistin, die verdeutlicht, wie schwer es ist, in Deutschland anzukommen und Fuß zu fassen. Dabei wird die Konfrontation mit Vorurteilen, die Negierung einer persönlichen Identität und die Enttäuschung eindrücklich nachvollziehbar, die viele Migrant*innen erleben, wenn ihre idealisierten Vorstellungen an der Realität scheitern. Darüber hinaus zeigt sie aus der Perspektive einer ruandischen Frau den Alltagsrassismus in Deutschland auf.
Julia Weber, Die Vermengung (Limmat, 1. April)
Julia Weber arbeitet an ihrem zweiten Roman, als sie schwanger wird. Ein zweites Kind? Wie wird ihr Leben sein? Woher Kraft und Zeit nehmen für zwei Kinder und das Schreiben? In der Angst, dass das Leben und seine Forderungen ihre Kunst auffressen könnten, beginnt Julia Weber schreibend ein Gespräch mit ihren Romanfiguren. Der Alltag drängt sich in ihre Kunst und die Kunst drängt sich in den Alltag, dazu die Frage, wie es gelingen könnte, das Leben zu viert mitsamt ihrer Kunst. Sie protokolliert Gespräche mit H., ihrem Mann, sammelt Briefe an ihre Freundin A., Nachrichten ihrer Mutter, Erinnerungen an das eigene Kindsein, das Hineinwachsen in einen Frauenkörper, in einen erwachsenen Alltag der Notwendigkeiten, das Dagegenhalten gegen die Notwendigkeiten mit Hilfe der Kunst, das Dagegenhalten gegen die grosse Traurigkeit, gegen die Angst, und immer wieder die Anläufe in den Roman, die Verwandlung des Lebens in Literatur, Bewusstheit, Glück. «Die Vermengung» ist eine eindrückliche Beschreibung des weiblichen Körpers und seiner Transformation und die Erkundung einer weiblichen Biografie von heute zwischen Berufstätigkeit und Familie, zwischen Leben und Kunst, Freundschaft und Gesellschaft. Sie entwirft zugleich eine weibliche Poetik weit abseits einer hartnäckig überlieferten Genietradition, eine radikale und doch weiche, auf das Leben gerichtete Auffassung von Kunst.
Edie Calie, Erzähl es den Bäumen (Milena, 1. März)
Literaturbetriebsgeschichten und seltsame Sekten? Count me in!
Die junge Journalistin Martina Hölderlein sucht ihre ehemalige Schulfreundin Kat. Diese fehlte beim Klassentreffen. Unterschiedlichste Gerüchte kursieren, was aus Kat geworden ist. Sitzt sie in einer psychiatrischen Anstalt fest? Hat sie ihren Mann und die Kinder sitzen lassen, um auf Kreta als Hundesitterin zu arbeiten? Als ihre Mutter felsenfest behauptet, ihre Tochter sei an einer Überdosis Marihuana verstorben, wittert die ehrgeizige Journalistin eine Story. Das ist der Stoff, aus dem Bestseller bestehen! Die Geschichte soll als Vorlage für Martinas Roman dienen, der sie aus dem langweiligen Redaktionstrott in den Olymp des Literaturbetriebs katapultiert. Hölderlein taucht in Kats Leben ein, spricht mit den wichtigsten Menschen und einem Teddybären. Jeder zeichnet sein ganz persönliches Bild der jungen Frau. Martina erfährt von zerbrochenen Freundschaften, zweifelhaften Arbeitsbedingungen, gesundheitlichen Problemen und der Sehnsucht nach Stille. Für ihre Recherche schleust sie sich in eine bizarre Öko-Glaubensgemeinschaft ein, versucht Kontakt zu Bäumen herzustellen, riskiert Beziehungsprobleme und reist in einen der letzten Urwälder Europas. Kat und damit des Rätsels Lösung erscheint ihr ständig zum Greifen nahe. Edie Calies neuer Roman handelt davon, den eigenen Lebensweg zu finden. Feministische Grundsätze treffen auf geteilte Geistesstörungen, brennende Heiligtümer auf sinnsuchende Manager und mütterliche Fehlannahmen auf einen harmlosen Goth. Vielleicht ist es am Ende doch das Beste, alles den Bäumen zu erzählen!
Teresa Präauer, Mädchen (Wallstein, 9. März)
Gerade erst habe ich Präauers etwa 10 Jahre alten Roman Johnny und Jean gelesen und fand ihn toll. Klar also, dass mich ihr neues Buch jetzt interessiert.
Ein literarisch-verspielter Text über Zugehörigkeit und Abgrenzung, über die Schwierigkeiten und Heiterkeiten des Heranwachsens.Teresa Präauer widmet sich in diesem Buch einer Figur, die in ihren Büchern bisher beinah ausgespart geblieben ist: dem Mädchen. In persönlichen Erinnerungsstücken und literarischen Betrachtungen erzählt sie über Kindheit und Konkurrenz, Mädchenbanden und Bubenspiele. Über Zugehörigkeit und Abgrenzung und über die Schwierigkeiten und das Glück des Heranwachsens. »Mädchen« steckt voller Beobachtungen, Zärtlichkeit und Heiterkeit und ist ein intimes Geschenk der sprachmächtigen Autorin an ihre Leserinnen und Leser.
Übersetzungen:
Mary Robinette Kowal, Die Berechnung der Sterne (Ü: Judith C. Vogt, Piper, vorgestern erschienen)
Meine Freundin Kathrin hat dieses Buch für den Piper Verlag eingekauft und Judith Vogt hat es übersetzt, außerdem ist es feministische SciFi, mehr Gründe brauche ich nicht!
»Frauen gehören in die Küche, nicht in den Weltraum« - eine weit verbreitete Meinung in den USA der 1950er Jahre. Die junge Physikerin Dr. Elma York, die als menschlicher »Computer« täglich die Flugbahnen von Raketen berechnet, lässt sich davon jedoch nicht abhalten. Schließlich steht die Menschheit vor ihrer größten Herausforderung: Ein gigantischer Meteoriteneinschlag hat das Klima für immer verändert, sodass die Eroberung des Alls sehr viel dringlicher geworden ist. Die Widerstände sind zahlreich, doch als erste Astronautin in den Weltraum zu fliegen ist Elmas größter Traum - und niemand wird sie daran hindern!
Mariana Enriquez, Unser Teil der Nacht (Ü: Inka Marter & Silke Kleemann, Tropen, 19. Februar)
Hier ist es nun, das Buch, das ich im letzten Newsletter als meine beste Lektüreerfahrung 2021 angeteasert habe! Auf eine Übersetzung dieses Romans habe ich sehnsüchtig gewartet, seit mein Freund Daniel vor etwa 1,5 Jahren (?) auf Twitter von der spanischen Originalversion erzählt hat, denn was er da über okkulte Geheimbünde etc. berichtete, klang irgendwie, als ob es extra für mich geschrieben worden sei. Wovon ich auch nach der Lektüre noch überzeugt bin! Im Februar erscheint endlich die deutsche Übersetzung dieses 800-Seiten-Ungetüms und ich hatte das große Glück, schon Mitte Dezember ein Vorabexemplar zu erhalten. Das Buch hat mich über die Weihnachtsfeiertage begleitet und es war das erste Mal seit ca. 2 Jahren, dass ich mich auf ein Buch mit mehr als 500 Seiten eingelassen habe. Davor hatte ich erst ein bisschen Angst (weil die Pandemie irgendwas mit meiner Konzentrationsfähigkeit angestellt hat), aber sie war völlig unbegründet — das Buch hätte gut und gerne nochmal 100 bis 400 Seiten länger sein dürfen und ich hätte es trotzdem verschlungen, so sehr hat es mich gepackt. Weil es noch eine Sperrfrist hat, erzähle ich euch erst im Februar mehr darüber, was mich an dem Roman so begeistert hat, aber ihr solltet ihn euch unbedingt schonmal vormerken!
Dunkelheit und Licht, Grausamkeit und Liebe. Eine große Familiensaga in einem von Extremen geprägten Land. Mariana Enriquez nimmt uns mit in die gewaltvolle Geschichte Argentiniens und die albtraumhaften Abgründe der Macht. Eine einzigartige Vater-Sohn-Geschichte, in der doch die Frauen alle Fäden in der Hand halten.
Ein Vater und sein Sohn fahren quer durch Argentinien, als wären sie auf der Flucht. Wohin wollen sie? Vor wem fliehen sie? Es sind die Jahre der Militärjunta: Menschen verschwinden spurlos, überall lauert Gefahr. Sein Vater versucht den jungen Gaspar vor dem Schicksal zu schützen, das ihm zugedacht ist, seit seine Mutter unter ungeklärten Umständen gestorben ist. Bei einem Unfall, der vielleicht keiner war.
Wie sein Vater Juan soll Gaspar einem Geheimbund, genannt der Orden, als Medium dienen. Mit grausamen Ritualen versuchen sie, dem Geheimnis des ewigen Lebens auf die Spur zu kommen. Doch der Preis ist hoch und der körperliche und geistige Verfall schnell und unerbittlich, wie Juan weiß. Eine scheinbar aussichtslose Flucht beginnt, denn der Einfluss des Ordens kennt keine Grenzen.
Unser Teil der Nacht ist eine Reise durch die Zeit in die Seelen der Menschen. Eine große Geschichte, die Enríquez so poetisch, lakonisch und episch erzählt, dass sie noch lange nachhallt.
N. K. Jemisin, Die Wächterinnen von New York (Ü: Benjamin Mildner, Tropen, 19. März)
Jemisins Kurzgeschichtenband How long ‘til Black Future Month? ist einer der besten, die ich kenne, und eine der darin enthaltenen Erzählungen bildet quasi die Grundlage zu diesem Roman. Natürlich muss ich ihn also lesen!
Jede Stadt hat eine Seele. Manche so alt wie die Mythen. Andere so jung und ungestüm wie Kinder. Und New York City? Hat gleich mehr als eine. Gerade erst erwacht und so unterschiedlich, wie das Leben in New York, müssen sich die Wächter der Stadt zusammenschließen, um sie vor dem Grauen zu schützen, das unter ihr lauert.
Torrey Peters, Detransition, Baby (Ü: Nicole Seifert & Frank Sievers, Ullstein, 31. März)
Erstens hat Nicole Seifert das Buch übersetzt und zweitens haben mir Leute, deren Geschmack ich sehr vertraue, gesagt, dass es zu ihren Lieblingslektüren 2021 zählt.
Reese und Amy waren ein glückliches Paar, zwei trans Frauen in New York mit dem Traum von einer Familie. Doch dann entschloss sich Amy, wieder als Mann zu leben, und die Beziehung zerbrach. Als Ames drei Jahre später seine Chefin Katrina, eine starke, unabhängige Frau, schwängert, fasst er den Plan, dieses Kind gemeinsam zu dritt aufzuziehen. Ungewöhnlich - aber machbar. Ein moderner Gesellschaftsroman, der den Nerv der Zeit trifft.
Jackie Polzin, Brüten (Ü: Nikolaus Stingl, dtv, 16. März)
Klar will ich einen Roman übers Hühnerzüchten lesen, wer nicht?
Im vorstädtischen Minnesota versucht eine Frau, ihre vier Hühner durch den Alltag zu bringen, sie vor Wind und Wetter zu schützen, vor Krankheiten und Raubtieren. Nicht ihr Mann Percy, der sich in wissenschaftliche Abhandlungen vertieft, sondern Gloria, Gam Gam, Darkness und Miss Hennepin County sind der Mittelpunkt ihres Lebens, ihr tägliches Faszinosum. Wissen die Hühner, auf welchen Namen sie getauft sind? Mögen sie es, wenn man ihre Federn streichelt? Vermissen sie die Eier, die sie legen? Obwohl nie Küken daraus geschlüpft wären? Wie verarbeitet man den Verlust eines Kindes, das nie geboren wurde? Die Frau kennt die Antworten auf diese Fragen nicht. Aber nach einem ereignisreichen Jahr wird sie die Welt mit anderen Augen sehen.
Deesha Philyaw, Church Ladies (Ü: Sabine Roth & Elke Link, Ars Vivendi, 31. Mai)
In einem meiner ersten Newsletter habe ich darüber geschrieben, wie absolut großartig ich diesen Erzählungsband fand. Umso mehr freue ich mich, dass er bald auch auf Deutsch erscheint!
Die Debüt-Sensation aus den USA! Die neun Geschichten dieses sensationellen Erzählbands umspannen vier Generationen schwarzer Frauen und Mädchen, die für ihren Platz in der Welt kämpfen, die mit dem moralischen Korsett hadern, in das sie gesteckt wurden, die wenigstens für kurze Zeit ihren Leidenschaften folgen und nach Freiheit streben. Da ist die vierzehnjährige Jael, die sich in die Frau des Priesters verliebt; Lyra, deren Unwohlsein im eigenen Körper zwischen ihr und ihrer neuen Liebe steht; da sind Rhonda und Leelee, die aus dem Süden an die Kalte Norostküste entflohen sind, um der sozialen Kälte der Heimat zu entfliehen; da sind die trauernden Fremden, die sich in den dunklen Schatten des Hospizparkplatzes Trost spenden. Sie alle leben ein zweites Leben im Verborgenen, haben Affären, sind verführerisch und verletzlich, mutig und ängstlich. Neun Geschichten, die mit einem neuen, erfrischenden Sound von der Liebe im 21. Jahrhundert erzählen.
Adania Shibli, Eine Nebensache (Ü: Günther Orth, Berenberg, 15. März)
Was bewahren Geschichten? Was wird erzählt, was ausgelassen? Im Sommer 1949 wird ein palästinensisches Beduinenmädchen von israelischen Soldaten vergewaltigt, ermordet und in der Wüste verscharrt. Jahrzehnte später versucht eine junge Frau aus Ramallah, mehr über diesen Vorfall herauszufinden. Sie ist fasziniert, ja besessen davon, nicht nur wegen der Art des Verbrechens, sondern vor allem, weil es auf den Tag genau fünfundzwanzig Jahre vor ihrer Geburt begangen wurde. Ein Detail am Rande, das jedoch ihr eigenes Leben mit dem des Mädchens verknüpft. Adania Shibli verwebt die Geschichten beider Frauen zu einer eindringlichen Meditation über Krieg, Gewalt und die Frage nach Gerechtigkeit im Erzählen.
Juhani Karila, Der Fluch des Hechts (Ü: Maximilian Murmann, homunculus verlag, 3. März)
Auffällig viele Bücher mit übernatürlichen Phänomenen und okkulten Praktiken in diesem Frühjahrsprogramm. Freut mich!
Wie jedes Jahr kehrt Elina Ylijaako in ihr Heimatdorf im Osten Lapplands zurück - eine bedrückende Einöde, die nach ihren ganz eigenen Regeln funktioniert. Dort hat sie drei Tage Zeit, um einen Hecht zu fangen. Doch dieses Jahr läuft nichts wie geplant. Als ein Wassermann in den Sümpfen erscheint und sich Elina in den Weg stellt, wird ihr Angelausflug plötzlich zu einem Abenteuer auf Leben und Tod. Währenddessen sucht eine Polizistin wegen Mordverdachts nach ihr und wird selbst in das mysteriöse Treiben magischer Gestalten hineingezogen. Magie und Realität verschwimmen, doch in Ostlappland scheint das niemanden zu wundern. In einem fulminanten Showdown gilt es einen Fluch zu brechen, der tief in Elinas Vergangenheit verwurzelt ist.Der Fluch des Hechts erzählt eine tragische Liebesgeschichte sowie eine Geschichte über die unberechenbare Macht der Natur, ihre Magie, und nicht zuletzt über den Menschen und was er mit der Natur anrichtet. Mit sprachlicher Virtuosität schafft es Karila in seinem Debütroman, dass seinen Leser:innen immer wieder das Lachen im Halse stecken bleibt.
Jenny Hval, Perlenbrauerei (Ü: Rahel Schöppenthau, März Verlag, 22. Februar)
Ich habe einen anderen Roman von Hval in englischer Übersetzung gelesen und fand ihn ziemlich faszinierend.
Jo ist als Austauschstudentin in einem seltsamen neuen Land. Sie verläuft sich, findet keine Wohnung und erst recht keinen Anschluss. All ihre Probleme scheinen gelöst, als Carral sie bei sich aufnimmt. In einem alten Brauereigebäude ohne Wände, das sie sich fortan mit der immer grenzenloser werdenden Frau teilt, werden Jos Sensibilität und all ihre Sinne auf eine harte Probe gestellt. Je näher die beiden sich kommen, desto weniger kann Jo zwischen ihrem und Carrals Körper unterscheiden, beide erscheinen ihr wie ein zusammenhängendes Geflecht, wie Pflanzen. Auch ihre Träume und ihr waches Erleben verschwimmen, bis sie glaubt, sich selbst in der Fremden verloren zu haben. Die norwegische Musikerin und Schriftstellerin Jenny Hval schafft in ihrer Prosa das, wofür auch ihre Musik gefeiert wird: Ein so tiefer wie kompromissloser Blick auf Politik und Sexualität, Begehren und Körper.
Dominika Słowik, Tal der Wunder: Der Esoteriker, die Genossin und der Arsch im Heiligenschein (Ü: Alexandra Tobor, KATAPULT-Verlag, 1. März)
Noch mehr Übersinnliches, juhu!
Eine Kleinstadt atmet Geheimnisse: Fußspuren im Schnee kommen aus dem Nichts und verschwinden im Nirgendwo, am Himmel erscheint ein Arsch im Heiligenschein und der Imker dressiert seine Bienen. Während die Menschen im Tal auf das nächste Wunder warten, werden Schätze gesucht und eine Leiche gefunden. Dominika Słowik erzählt von kiffenden Jugendlichen, deren Tage zwischen harter Lebenswirklichkeit und unerklärlichen Phänomenen mäandern und Erwachsenen, die in einer dem Untergang geweihten Welt um Bedeutung ringen. Wie wirklich ist die Wirklichkeit, wenn alles, was wir haben, Erzählungen sind?
Markéta Pilátová, Die dunkle Seite (Ü: Mirko Kraetsch, Wieser, 31. März)
Im Mittelpunkt stehen die Eigenbrötler Mirek, freiberuflicher Therapeut und Heiler, und Rudy, einst am Institut zur Erforschung paranormaler Erscheinungen tätig. Die beiden eint die Tatsache, dass sie mit übersinnlichen Begabungen ausgestattet sind, die jeder auf eigene Weise nutzt. Ihr Talent lässt sie allerdings auch einen „Sicherheitsabstand“ zueinander wahren. Die dritte Hauptpersonen ist Majka alias Evangelina. Mit einem gravierenden persönlichen Problem sucht sie nacheinander beide Männer auf und bittet um Hilfe. Keiner der zwei leistet diese Unterstützung jedoch ganz uneigennützig. Die Handlung spielt nicht nur im schroff en nordmährischen Altvatergebirge, sondern immer wieder auch außerhalb der greifbaren Realität, in Parallelwelten, in eigenen und fremden Gedankenpalästen, wo sogar Verstorbene auftreten. So etwas scheint im 21. Jahrhundert keinen Platz zu haben, allerdings verweist die Autorin auch auf die langen Schatten der Vergangenheit: die Hexenprozesse von Groß Ullersdorf/Velké Losiny am Ende des 17. Jahrhunderts oder die Versuche zu Zeiten des real existierenden Sozialismus, esoterische Phänomene auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen und Nutzen daraus zu ziehen. Es entspinnt sich ein regelrechter Krimi: Was haben die schwarzen Mäntel zu bedeuten, von denen beide Männer träumen? Können in der Vergangenheit verübt Taten nachträglich ungeschehen gemacht werden? Wie geht man mit eigenen Schuldgefühlen um und mit Vorkommnissen, an denen man eine Mitschuld zu tragen glaubt? Wo liegen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Unterbewusstem?
Abi Palmer, Sanatorium. Essay (Ü; Astrid Köhler & Henrike Schmidt, INK press, 17. März)
Dieses Buch schreit ja geradezu meinen Namen!
Eine queere junge Frau mit chronischen Krankheiten verbringt einen Monat in einer luxuriösen Therme auf der Margareteninsel in Budapest. Sie beschreibt in diesem Dämmerzustand ihre physischen und metaphysischen Zustände und beobachtet vom Beckenrand so empathisch wie polemisch die versammelte Kur- und Wellnessgemeinde. Zurückgekehrt in London versucht sie, in einer aufblasbaren blauen Wanne zu Hause gesund zu werden. Die Wanne wird zur Metapher für das Eindringen körperlicher Behinderung in ein Leben: eine Stolperfalle inmitten eines ungeeigneten Raumes, die langsam an Luft verliert und ständig Gefahr läuft, sich über den ganzen Boden zu ergieβen. "Sanatorium" bewegt sich durch kontrastreiche Räume - London und Budapest, Wasser und Luft, Tag und Nacht -, verwebt Erinnerung, Poesie und Meditationen über den Körper zu einer hypnotischen Erfahrung und ist eine Art Biografie der eigenen Sexualität unter den Bedingungen von Krankheit, die sich in eigenwilliger Korrespondenz mit den autobiografischen Schriften der christlichen Mystikerin Teresa von Ávila entfaltet.
Olga Tokacrzuk, Anna In: Eine Reise zu den Katakomben der Welt (Ü: Lisa Palmes, Kampa, 28. April)
Olga Tokacrzuk UND mythologische Reinterpretationen? Aber hallo!
Inanna, oder AnnaIn, Göttin der Liebe, der Fruchtbarkeit, des Mondes, aber auch des Krieges, herrscht über das sumerische Uruk – ein mythischer, lichter Ort, wo Fahrstühle auch nach links und rechts fahren und Gärten vom Himmel hängen, ein Ort, der eher in der nahen Zukunft als in einer fernen Vergangen- heit zu liegen scheint. AnnaIn ist schön, jung, verführerisch, aber auch ungestüm, unstet und machtbewusst. Eines Tages ruft ihre Zwillings- schwester, die Herrscherin der Unterwelt, sie zu sich. Und AnnaIn steigt hinab, in die Kata- komben, ins dunkle Reich des Todes. Niemand ist je von dort zurückgekehrt. Welches Opfer wird AnnaIn bringen müssen, um wieder hinaufzusteigen, zu den Lebenden? Olga Tokarczuk erzählt in Frau Dies seits und Frau Jenseits einen 4000 Jahre alten Mythos auf einzigartige Weise neu. Mit viel Ironie und einer großen Portion Respektlosigkeit verbindet sie das Hohe und Erhabene mit dem Profanen, Allgemeinmenschlichen – und holt den altehrwürdigen Mythos so in unsere Gegenwart.
Anna North, Die Gesetzlose (Ü: Eva & Sonia Bonné, Eichborn, 25. März)
I’m here for queeren Western!
1894, der Wilde Westen: Nach einer mysteriösen Grippewelle herrscht Unfruchtbarkeit. Umso wichtiger, dass Frauen ihrer weiblichen Pflicht nachkommen, heiraten und gebären. Als die siebzehnjährige Ada jedoch trotz Ehe nicht schwanger wird, verdächtigt man sie, mit einem Fluch belegt zu sein. Sie wird verstoßen und flieht - zur berüchtigten "Hole in the Wall"-Gang. Doch einmal von der Gang aufgenommen, stellt Ada fest, dass die Gesetzlosen ganz anders sind, als der örtliche Sheriff glauben machen will.
Die diverseste Gruppe von Geächteten, die der altehrwürdige Wilde Westen je gesehen hat. Ein wilder Ritt von einem Buch!
Cristina Morales, Leichte Sprache (Ü: Friederike von Criegern, Matthes & Seitz, 3. März)
Leichte Sprache erzählt die Geschichte von vier Frauen, die mit der Diagnose einer geistigen Behinderung in einer betreuten Wohnung im gentrifizierten Barcelona leben. Nati beschreibt ihre Symptomatik als »Schiebetüren-Syndrom«: Unter Druck verändert sich ihr Verhältnis zur Umwelt. Alle vier haben Lernschwierigkeiten. Marga ist Analphabetin und sexuell überaus aktiv, Àngels stottert, Patri hat Logorrhö. In integrativen Tanzgruppen und in der Hausbesetzerszene Barcelonas versuchen die Frauen, sich von der Bevormundung durch staatliche Einrichtungen und Justiz zu befreien und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. So scharfsinnig wie wütend demaskiert die Tänzerin Nati die Ideologie der nach den Vorstellungen der »neoliberalen Macho-Faschos« funktionierenden Gesellschaft, ihre Cousine Àngels entdeckt mit »leichter Sprache« ein Instrument der Teilhabe und verfasst ihre Lebensgeschichte auf WhatsApp mit erstaunlicher Poesie. Vielstimmmig erzählt Cristina Morales vom Leben dieser Frauen und montiert dabei Gerichtsakten, Protokolle der anarchistischen Okupas und ein Fanzine zu einem großen Roman.
Wiederentdeckungen (deutsch und übersetzt):
Ihr wisst alle, dass mich das Thema der Wiederentdeckung vergessener Autorinnen sehr umtreibt. Deswegen muss ich zu den folgenden Büchern gar nicht mehr viel sagen, es erklärt sich quasi von selbst, warum sie mich interessieren:
Marian Engel, Bär (Ü: Gabriele Brößke, btb, 28. Februar)
Von diesem berühmt-berüchtigten kanadischen Bärensex-Roman habe ich ja schon mehrfach und auf verschiedenen Plattformen geschwärmt. Jetzt erscheint endlich bald eine Neuauflage der deutschen Übersetzung, ergänzt durch ein Nachwort von Kristine Bilkau, und wenn diese Ausgabe draußen ist, werde ich euch allen bestimmt noch sehr oft damit auf die Nerven gehen, bis ihr das Buch endlich lest:
Lou ist eine schüchterne, fleißige Bibliothekarin. Sie lebt eine maulwurfartige Existenz, begraben zwischen vergilbten Karten und Manuskripten in ihrem staubigen Kellerbüro. Da sie nichts und niemanden hat, zu dem sie nach Hause gehen kann, gibt sie sich dem leidenschaftslosen Sex mit dem Direktor des Instituts auf ihrem Schreibtisch hin. Den Sommer soll sie auf einer abgelegenen Flussinsel im Norden Kanadas verbringen, um den Nachlass von Oberst Jocelyn Cary zu katalogisieren. Dass sie nicht allein in der Einsamkeit der kleinen, wuchernden Insel lebt, sondern sich auch um einen halbzahmen Bären kümmern muss, hat ihr vorher niemand erzählt. Als der Sommer über der Flussinsel blüht und Lou die Stadt von sich abschüttelt, verfliegt der erste Schreck über dieses hungrige, undurchschaubare Wesen mit seinem dicken Pelz und seiner rauen Zunge, und Lou erforscht die Grenzen ihrer Lust...
Maria Edgworth, Belinda (Ü: Gerlinde Völker, Reclam, 18. März)
Der Roman »Belinda« sorgte bei seinem Erscheinen 1801 für einen Skandal, denn er war seiner Zeit voraus und brach mit so mancher Konvention: Eine Weiße heiratet einen Schwarzen, zwei Frauen duellieren sich in Männerkleidung. Kein Wunder, dass das Buch lange nur zensiert erhältlich war.
Maria Edgeworth erzählt die Geschichte der jungen, behütet aufgewachsenen Belinda Portman, deren intrigante Tante sie zu einer Bekannten auf den Londoner Heiratsmarkt schickt. Belinda merkt bald, dass ihre Gastgeberin Lady Delacour, eine vergnügungssüchtige und kapriziöse Dame, keine geeignete Mentorin für sie ist. Sie muss also lernen, sich im turbulenten Gesellschaftsleben selbst zurechtzufinden. Dabei verliebt sie sich in Clarence Hervey, einen Freund Lady Delacours, der aber anderweitig versprochen ist …
»Belinda« ist ein literarisch-satirischer Gesellschaftsroman erster Güte und ein mitreißendes Psychogramm einer jungen Frau – erstmals ins Deutsche übersetzt und natürlich unzensiert.
George Sand, Gabriel: Ein Dialogroman (Ü: Elsbeth Ranke, Reclam, 11. Februar)
George Sand lebte mit Verve gegen die Konventionen ihrer Zeit an: Sie trug oft Männerkleidung, ließ sich früh scheiden und hatte Liebesbeziehungen mit Männern und Frauen. In keinem ihrer Werke hat sie sich mit Geschlechterrollen und -normen so persönlich und unkonventionell auseinandergesetzt wie in »Gabriel«. Sie nannte den Text einen »Dialogroman« oder auch eine »Phantasie«: Gabriel, Enkel und Alleinerbe des Fürsten von Bramante, erfährt erst als Jugendlicher, dass er eine Frau ist – der Fürst hat ihn fernab von der Welt mit nur zwei ins Geheimnis eingeweihten Bediensteten als Jungen aufziehen lassen, damit Titel und Vermögen nicht Gabriels Cousin Astolphe zufallen. Als Gabriel sich gegen seinen Großvater auflehnt und Kontakt zu Astolphe sucht, bahnt sich eine Katastrophe an.
Mechthilde Lichnowsky, Werke (4 Bände im Schuber, Zsolnay, 16. Mai)
Mechtilde Lichnowsky war eine auffallende Frau, eine „majestätische Erscheinung … mit großen blauen, neugierigen Augen“ (René Schickele) und von einer „gespannten, herzlichen Wärme“ (Oskar Loerke). Ihre Bücher – Romane, Erzählungen, Reiseberichte, Gedichte – erschienen in renommierten Verlagen, Max Reinhardt brachte eines ihrer Stücke in Berlin zur Uraufführung. Heute kennt man sie bestenfalls als Freundin von Rilke und Karl Kraus. Mit dem Erscheinen dieser Ausgabe wird sich das ändern. Sie zeigt eine unkonventionelle, streitbare und sprachbewusste Autorin, und sie enthält darüber hinaus einen bisher unpublizierten Roman aus dem Nachlass der entschiedenen NS-Gegnerin.
Kay Dick, Sie (Ü: Kathrin Razum, Hoffmann & Campe, 2. April)
Die Wiederentdeckung eines beunruhigenden Meisterwerks: Dieser lange verschollene Roman von 1977 erzählt von einer Gesellschaft, in der jede Kunst von einer anonymen Masse gewaltsam verhindert wird.
An der englischen Küste in einer nahen, unbestimmten Zukunft: ein toter Hund, ein verschwundenes Buch, ein paar flüchtige Spuren, so fängt es an. Dann räumen SIE die Galerien und schließen die Museen. SIE wollen keine Freiheit des Einzelnen, SIE wollen keine Kunst. SIE zeigen sich selten und doch sind SIE scheinbar überall. Wer es noch wagt, zu malen, zu singen oder zu schreiben, den bringen SIE zum Schweigen. Doch eine kleine Gruppe von Menschen kann und will nicht anders, als weiter kreativ zu sein – was IHNEN nicht verborgen bleibt.
Yosano Akiko, Männer und Frauen (Ü: Eduard Klopfenstein, Manesse, 23. Mai)
Warum hält sich das Vorurteil des substanziellen Geschlechterunterschieds derart hartnäckig? Woran liegt es, dass Frauen in der Gesellschaft immer noch chronisch unterschätzt und benachteiligt werden? Und wie kriegen wir endlich veraltete Rollenbilder aus den Köpfen? – Diese eminent wichtigen Fragen stellte Yosano Akiko vor hundert Jahren mit unverhohlener Klarheit – und gab Antworten, die noch heute ins Schwarze treffen.
Stichhaltig und luzide plädiert die japanische Frauenrechtlerin für die überfälligste Sache der Welt: für die Gleichstellung der Geschlechter. Ihre Essays tragen programmatische Titel wie «Männer und Frauen» («Otoko to onna», 1915), «Die essentielle Gleichheit von Mann und Frau» (1916), «Frauen und politische Aktivitäten» (1915) oder «Die japanische Politik aus der Perspektive der Frauen betrachtet» (1917). Daneben erfährt man in diesem Band Essentielles zum literarischen Selbstverständnis der Dichterin Yosano Akiko und bekommt in «Aufzeichnungen aus dem Wochenbett» (1911) intime Einblicke ins Privatleben der dreizehnfachen Mutter. Den Abschluss machen zwei Fundstücke. «Aus der Grippe-Station» (1918) und «Angst vor dem Tod» (1920) schildern Pandemieerfahrungen während der Spanischen Grippe, die vor hundert Jahren auch in Japan wütete.
Goliarda Sapienza, Tage in Rebibbia: Gefängnistagebuch (Ü: Verena von Koskull, Aufbau, 11. April)
Meine Liebe Kollegin Maria hat ein Vorwort zu dieser Wiederentdeckung geschrieben und allein deshalb will ich sie unbedingt lesen!
Um ihren Jahrhundertroman "Die Kunst der Freude" zu schreiben, gibt Goliarda Sapienza alles auf: Ihre Karriere als Schauspielerin in Film und Theater und alle anderen Schreibaufträge. Vollkommen verarmt, begeht sie einen Diebstahl, um zu überleben und weiterschreiben zu können. Sie wird verurteilt und kommt in ein römisches Frauengefängnis: Rebbibbia, das ihr zur Schule des Lebens wird.
Schonungslos offen beschreibt Goliarda Sapienza ihre Monate in Rebibbia, die Begegnung mit den anderen Frauen, sie entdeckt, was Solidarität und Freundschaft bedeutet, Wärme, Freundschaft und die Freiheit, die in einem geschlossenen Raum entstehen kann.
Goliarda Sapienza, Die Kunst der Freude (Ü: Esther Hansen & Constanze Neumann, Aufbau, 11. April)
Die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts aus der Perspektive einer außergewöhnlichen Frau: Modesta ist eine Sizilianerin, die nach Leben dürstet und für ihre Unabhängigkeit kämpft. Sie erlebt das zwanzigste Jahrhundert auf der Suche nach persönlichem Glück und Erfüllung - gegen alle Widerstände. Als großzügige Freundin, liebende Mutter und leidenschaftliche Liebhaberin begegnet sie dem Leben mit der inneren Größe, die den Heldinnen und Helden der Weltliteratur eigen ist.
Elin Wägner, Die Sekretärinnen (Ü: Wibke Kuhn, Ecco, 24. Mai)
Stockholm, Anfang des 20. Jahrhunderts. Vier junge Frauen haben es sich in den Kopf gesetzt, eigenständig in der Großstadt zu leben, was zu dieser Zeit unerhört ist. Ihr Gehalt reicht kaum zum Überleben, sie teilen sich eine kleine Wohnung und leben an vielen Tagen von kaum mehr als trockenem Brot. Jeder Versuch, dieses Unrecht zu ändern, stößt auf Unverständnis, immer wieder wird ihnen nahegelegt, sich einfach einen Mann zu suchen und zu heiraten. Aber gemeinsam setzen die vier ihren Traum um.
Mit viel Witz und auch heute noch moderner Sprache wird in diesem erstmals 1908 erschienenen Roman vom Leben junger Frauen in der Großstadt erzählt, die sich auch durch Widerstände nicht einschüchtern lassen.
Oriana Fallaci, Brief an ein nie geborenes Kind (Ü: Heinz Riedt, ebersbach & simon, 16. Februar)
Das feministische Kultbuch – wiederentdeckt! Eine junge Frau wird ungewollt schwanger. Während der ersten, sehr bewusst erlebten Wochen versucht sie, sich seelisch und geistig auf die neue Rolle als Mutter vorzubereiten, die sie zugleich herbeisehnt und fürchtet. Als erfolgreiche Journalistin und emanzipierte Frau will sie ihre Unabhängigkeit bewahren, die teils heftigen Reaktionen ihrer Umwelt und der gesellschaftliche Druck, unter dem sie steht, setzen ihr zu. Sie spricht zu ihrem ungeborenen Kind und durchlebt dabei ein Wechselbad der Gefühle – freudige Erwartung, zärtliche Ungeduld, Verzweiflung, Traurigkeit, Angst und Hoffnung … Ein Klassiker der feministischen Literatur – berührend, authentisch und überraschend aktuell.
Luise Straus-Ernst, Zauberkreis Paris (Südverlag, 7. März)
Sie ist Künstlermuse, leidenschaftliche Autorin und die geschiedene Frau des Malers Max Ernst: Luise Straus-Ernst. Im Jahr 1934 erhält sie von der deutschsprachigen Emigrantenzeitung "Pariser Tageblatt" den Auftrag zu einem Exilroman: "Zauberkreis Paris".
Temporeich erzählt dieser autobiografisch grundierte Roman das Schicksal eines Paares, das unter dem Druck der NS-Verhältnisse auseinandergerissen wird. Während Peter ins Exil nach Paris geht, sich dort in die geheimnisvolle Russin Borja verliebt und müßiggängerisch in den Tag hinein lebt, versucht Ulla, sich trotz aller Restriktionen in ihrer Heimat durchzuschlagen. Als sie nach ein paar Monaten ihrem Freund in die französische Metropole folgt, muss sie feststellen, dass er inzwischen ein Verhältnis mit Borja eingegangen und ihre Liebe zerbrochen ist.
Anstatt zu resignieren, stellt sich Ulla den Widrigkeiten der Fremde: Das Exil wird für sie zu einer harten Schule, ihr Kampf um Existenzsicherung, um Anerkennung zu einem Prozess der Emanzipation und des wachsenden Selbstvertrauens. Am Ende gerät Peter in einen tödlichen Strudel krimineller Machenschaften, während es Ulla in der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des Exils gelingt, sich neu zu (er)finden … Ein einzigartiges Plädoyer gegen den Ungeist und die Mutlosigkeit, zugleich für den Glauben an die Zukunft.
Françoise Sagan, Blaue Flecken auf der Seele (Ü: Eva Brückner-Pfaffenberger, Wagenbach, 17. März)
Bonjour Tristesse ist seit meiner Jugend eines meiner Lieblingsbücher, Sagan hat also immer bei mir einen Stein im Brett.
Frankreich in den frühen siebziger Jahren. Die schönen Geschwister aus Schweden haben noch nie gearbeitet. Und daran soll sich nichts ändern, obwohl sie inzwischen nicht mehr jung sind und es allmählich etwas mühevoll wird, spendable Gönner aufzutreiben. Abwechselnd und durchaus lustvoll geben sie sich hin für Kost und Logis und versetzen für ein luxuriöses Diner notfalls die letzten Ohrringe. Ein wenig müde sind sie ihres ziellosen Daseins aber doch, was der Autorin Gelegenheit gibt, sich selbst und ihre eigenen kleinen Erkenntnisse über Politik und Erotik, Freiheit, Überdruss und Einsamkeit in die Handlung einzuflechten. Wie Marionetten setzt sie ihre Figuren in die mondäne Pariser Szenerie, die Fäden, an denen sie hängen, sind jederzeit sichtbar. Dieser modernistisch verspielte Roman von Françoise Sagan spiegelt sich auf intelligente, kurzweilige Weise in sich selbst.
Valerie Solanas, Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer: SCUM-Manifest (Ü: Nils-Thomas Lindquist, März Verlag, 22. Februar)
Das S.C.U.M. Manifesto gilt noch heute als eines der gewalttätigsten und streitbarsten Traktate. 1967 zum ersten Mal im Eigenverlag erschienen, machte das Werk in New York schnell die Runde. Die Olympia Press wurde darauf aufmerksam, die Übersetzung erschien kurze Zeit später schon bei MÄRZ und schlägt auch hierzulande große Wellen. Dass Valerie Solanas noch im selben Jahr Andy Warhol kennenlernt, dem sie eines ihrer Theaterstücke zu lesen gibt, bevor sie wenige Monate danach drei Schüsse auf ihn feuert, ist seither untrennbar mit der Rezeption dieses Buchs verbunden.
Kathy Acker, Bis aufs Blut: Zerfleischt in der Highschool (Ü: Johanna Davids, März Verlag, 29. März)
Mit Bis aufs Blut hat Kathy Acker eine brillant subversive Erzählung geschaffen, die aus Gesprächen, Beschreibungen, Zeichnungen, Vermutungen und Notizen besteht. Durchkomponiert und wild, düster und grell zugleich, fällt dieses Stück Literatur aus jeder Zeit. Acker maßt sich darin an, eine Geschichte so drastisch und bildgewaltig zu erzählen, dass die Lektüre einen völlig verändert zurücklässt.
Ricarda Huch, Frühling in der Schweiz: Erinnerungen (Limmat, 1. März)
1887 kam Ricarda Huch mit 23 Jahren nach Zürich, wo den Frauen die Universität offenstand. Sie legte die Maturaprüfung ab, studierte Geschichte, wurde 1891 promoviert und unterrichtete danach an der Höheren Töchterschule, arbeitete in der Stadtbibliothek. «Frühling in der Schweiz» ist ein hinreissendes Zeugnis des «Frauenstudiums» in Zürich. Huch bezog ein Zimmer bei der so freundlichen wie skurrilen und unglücklich verheirateten Frau Wanner in der Gemeindestrasse. Zu den endlos debattierenden Russinnen an der Universität ging sie auf Distanz, befreundete sich aber mit anderen akademischen Pionierinnen: Marianne Plehn wurde später zu einer der ersten Professorinnen der Naturwissenschaften in Deutschland, Agnes Bluhm wurde zu einer der ersten praktizierenden Ärztinnen in Berlin, Marie Baum spielte als Soziologin und Sozialpolitikerin in der Frauenbewegung der Weimarer Republik eine wichtige Rolle. Daneben vermittelt «Frühling in der Schweiz» ein anschauliches Bild der Zürcher Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ist eine grosse Liebeserklärung an Zürich und die Schweiz, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Konflikts Ricarda Huchs mit der Gestapo.
Aline Valangin, Casa Conti (Limmat, 1. März)
Nach vielen Jahren in Mailand kehrt Alba in ihr Tessiner Heimatdorf zu ihrem Vater zurück. Als sie dort ankommt, ist alles ungewiss: Wie lange sie überhaupt in der Casa Conti bleiben will, ob es an ihrer Ehe mit dem in Mailand zurückgebliebenen Vito noch etwas zu retten gibt und wie sich das Dorf während Albas Abwesenheit verändert hat. Schnell stellt sich heraus, dass eines gleich geblieben ist: Die Casa übt noch immer eine Art magische Anziehungskraft auf die Menschen im Dorf aus. Der Metzger Burri, der mit Albas Schwester verheiratet ist, hat ebenso ein Auge darauf geworfen wie der Wirt Bertolo. Aber es steht Albas Vater Giulio zu, den Besitz des Hauses in seinem Testament zu regeln. Trotzdem entbrennt nach Giulios Tod im Dorf ein Streit um die Casa, bei dem Alba auch ihrer Jugendliebe, dem Anwalt Giovanni, wiederbegegnet. Mit feinem psychologischen Gespür entfaltet Aline Valangin das Schicksal zweier Schwestern, ihre Möglichkeiten in der patriarchalen Gesellschaft zwischen Dorf und Stadt, ihre Liebe im Zeichen ökonomischer Abhängigkeit.
Beatrice Harraden, Wie Schiffe in der Nacht (Ü: Bernd Erhard Fischer, Edition A. B. Fischer, 4. März)
Als Beatrice Harradens Roman über zwei Verlorene, die sich in einem Schweizer Lungensanatorium begegnen, 1893 zum ersten Mal erschien, ahnte sie noch nicht, dass ihr damit ein echter Bestseller gelingen würde. Die englische Schriftstellerin und Frauenaktivistin hatte ganz offensichtlich den Nerv besonders einer weiblichen Leserschaft getroffen, die sich wie ihre Protagonistin Bernardine mit ihrem Leben intellektuell auseinandersetzen wollte. Die oft schroffen, manchmal auch komi- schen Dialoge mit dem „unangenehmen Menschen“ brachten einen neuen, ungewohnten und sehr direkten Ton in die populäre Literatur. Ihr Buch „Ships that pass in the night“ verkaufte sich über eine Million mal und liegt nun in einer völlig neuen Übersetzung von Bernd Erhard Fischer endlich wieder in deutscher Sprache vor.
Henriette Valet, Madame 60a (Ü: Norma Cassau, Das kulturelle Gedächtnis, 1. Februar)
Das Hôtel-Dieu, im Schatten der Pariser Kathedrale Notre-Dame, nimmt seit Jahrhunderten mittellose Schwangere auf, die kurz vor der Entbindung stehen und nicht wissen, wohin. Es ist ein Mikrokosmos, der die Gesellschaft unter Extrembedingungen spiegelt - und doch weiß man wenig über die konkreten Bedingungen, das Erleben an diesem vielfach tabuisierten Ort. In den Jahren um 1930 betritt eine junge Frau dieses Heim. In den überfüllten Saal wird, zwischen die Nummern 60 und 61, ein weiteres Bett geschoben: 60a. Henriette Valets Roman Madame 60a begleitet die namenlose, aber nummerierte Protagonistin bis zur Geburt ihres Kindes und zur Entlassung aus dem Hôtel- Dieu. Wir sehen die Routinen und Schmerzen, die Gehässigkeit und Verzweiflung der Frauen, aber auch ihre Freimütigkeit und ihren Zusammenhalt. Die Niedertracht der Situation, in die sie geraten sind, konzentriert die Niedertracht einer ganzen Gesellschaft. Valets Beobachtungen sind unbestechlich, ungeschönt, aber Madame 60a gestattet sich selbst keine Verbitterung: Gegen die Unterdrückung der Frauen ebenso wie gegen deren Resignation erhebt sie eine wütende und ergreifende Anklage.
Grete Weil, Ans Ende der Welt (Das kulturelle Gedächtnis, 1. Februar)
Am 17. Mai 1943 wird Salomon Waterdragers jüdische Familie in Amsterdam verhaftet. Voll ohnmächtiger Wut versucht Waterdrager die Nazis davon zu überzeugen, dass es sich um einen Irrtum handelt – und sitzt dabei selbst einem schrecklichen Irrtum auf. Ans Ende der Welt ist das erste literarische Zeugnis der Deportation holländischer Juden durch die Nazis. Voller Szenen, die Weil als Emigrantin in Amsterdam selbst mitangesehen hatte: die Abholung der Familien, der Aufenthalt im Theater Schouwburg, das als Sammellager dient, die Arbeit des Jüdischen Rates, der die Verhafteten beruhigt und versorgt, und auch die Arbeit einer Widerstandsgruppe. Vor allem aber: die Verhöre und die Folter durch die Nazis, die die Gefangenen dazu bringen, Verrat an ihren Nächsten zu begehen. Beklemmend schildert Grete Weil die Atmosphäre der Angst, Verzweiflung und Hoffnung, an die sich die Verlorenen klammern. Aber sie erzählt auch einfühlsam von einer ersten, scheuen Liebe im Angesicht des nahen Todes.
Ruth Rehmann, Illusionen (AvivA, 21. April)
In ihrem Roman »Illusionen« erzählt Rehmann vom Arbeitsalltag und den Wochenendvergnügungen dreier Frauen und eines Mannes, die im Großraumbüro eines Konzerns tätig sind. Mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen und Träumen brechen sie samstagmittags ins Wochenende auf. In zwölf Kapiteln schildert Rehmann deren Abenteuer und Enttäuschungen,Träume und Illusionen und lässt uns an der verwirrenden, glücklichen, faszinierenden oder riskanten Vergangenheit und Gegenwart ihrer vier Protagonist:innen teilhaben – bis zur ernüchternden Rückkehr in den 13. Stock am Montagmorgen. Im selben Jahr wie Grass’ „Blechtrommel“ oder Bölls „Billard um halb zehn“ erschienen, lässt Rehmanns Zeit- und Gesellschaftsroman ganz neue Facetten der Wirtschaftswunderzeit entdecken und beeindruckt auch heute noch durch seine Modernität. 1958 las Ruth Rehmann das Kapitel „Das erste Kleid“ auf der Tagung der Gruppe 47 in Großholzleute. Bei der Abstimmung über den Preis der Gruppe unterlag sie schließlich jedoch Günter Grass. Diese Neuausgabe mit ausführlichem Nachwort enthält zum Teil bislang unveröffentlichte Materialien zum Text und zur Autorin.
Ilse Molzahn, Der schwarze Storch (Wallstein, 9. März)
Ein Kindheitsroman von bezwingender poetischer Kraft. Ein Jahr um 1900 in der damaligen deutschen Provinz Posen und ein kleines Mädchen, Katharina, etwa sechs Jahre alt, Tochter eines Gutsbesitzers. Dazu ein schwarzer ausgestopfter Storch, der unheilvoll über dem Esstisch der Familie schwebt. Katharina ist die Tochter des Gutsbesitzers und - ungewöhnlich genug - selbst die Erzählerin. Ilse Molzahn leiht ihr eine bezaubernde und einfache Sprache, die vieles offen lassen muss, denn das Mädchen ist mit einer Erwachsenenwelt und Vorgängen konfrontiert, die es nicht verstehen und nicht immer benennen kann: die scharfe Trennung von Herrschaft und Gesinde, das archaisch ländliche Leben, aber auch Missbrauch, Schwangerschaft, Abhängigkeiten, Rohheit und Gewalt. Von den Eltern, der fromm-bigotten Mutter und dem draufgängerischen Vater, ist keine Erklärung zu erwarten. Einzig in dem Dienstmädchen Helene findet Katharina eine Vertrauensperson. Doch Helene ist plötzlich verschwunden, gestorben bei einem Abtreibungsversuch. Der Autorin ist etwas Seltenes gelungen: In einer verblüffend authentischen, zeitlosen Sprache erfasst sie die Welt des Kindes und sein magisch-inniges Erleben der Natur. Der Roman erschien erstmals 1936, eine zweite Auflage wurde von den Nazis wegen »Herabsetzung des deutschen Junkertums« verhindert. Die Neuausgabe wird von Thomas Ehrsam mit einem umfangreichen Nachwort zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte unter Berücksichtigung der Biografie der Autorin bereichert.
Sachbücher
Doris Hermanns, "Und alles ist hier fremd": Deutschsprachige Schriftstellerinnen im britischen Exil (AvivA, 15. März)
Vor ein paar Monaten habe ich mich lange mit Doris Hermanns über ihre Recherchen zu diesem Buchprojekt unterhalten und war sofort angefixt.
Zahlreiche berühmte wie weniger bekannte meist jüdische Schriftstellerinnen fanden ab 1933 und vor allem nach den Novemberprogromen 1938 Zuflucht in Großbritannien. Welche Rolle spielen Herkunft und Sprache für das Leben und die Identität als Schriftstellerin? Welche Lebens- und Arbeitsbedingungen prägten die Existenz im Exil? Wie war es um Veröffentlichungsmöglichkeiten bestellt, welche Netzwerke gab es? In chronologisch wie thematisch gegliederten Kapiteln widmet sich Doris Hermanns den Schriftstellerinnen im britischen Exil und gibt zugleich aufschlussreiche Einblicke in historische und soziale Zusammenhänge.
Saidiya Hartman, Aufsässige Leben, schöne Experimente: Von rebellischen schwarzen Mädchen, schwierigen Frauen und radikalen Queers (Ü: Anna Jäger, Claassen, 10. März)
Im frühen 20. Jahrhundert erprobten junge afroamerikanische Frauen in großstädtischen Slums neue, subversive Formen der Liebe und der Solidarität außerhalb von Konvention und Gesetz: nichteheliche Partnerschaften und flüchtige Ehen, queere Identitäten und alleinerziehende Mutterschaft. Ihren Lebensentwürfe waren revolutionär, doch sie selbst sind vergessen. In ihrem bahnbrechenden, berührend schönen Buch erweitert Saidiya Hartman unsere Vorstellung von Geschichtsschreibung radikal. Sie belebt das historische Archiv mit literarischer Imagination und rekonstruiert die experimentellen Welten und rebellischen Begehren dieser Vorreiterinnen.
Olivette Otele, Afrikanische Europäer - Eine unerzählte Geschichte (Wagenbach, 17.3.)
Otele erzählt von Personenschicksalen und Schauplätzen der Begegnung, vom engen Austausch zwischen Afrika und Europa, der mit den römischen Expansionsbewegungen begann und im historischen Verlauf heute oftmals vergessene Schwarze Heilige, Herrscher und Intellektuelle hervorbrachte. Auf diese Weise macht sie die Konjunkturen der mitnichten immer gleichbleibenden Unterdrückung Schwarzer Menschen fassbar: den Terror der Sklaverei, Schwarze Körperlichkeit und ihre Exotisierung, ebenso aber auch die Schwarzen Widerstandsbewegungen und Bruderschaften, die für die Freiheit kämpften und die Vorgeschichte der Proteste unserer Tage darstellen.
Walter Schübler, Bibiana Amon: Eine Spurensuche (Edition Atelier, 1. März 2022)
Sie war mit Anton Kuh verlobt, hat in Venedig Peter Altenberg genervt, war in Berlin Schauspielerin und hat 1939 in Paris ihren erfolgreichen Roman »Barrières« veröffentlicht. Daneben war sie gelegentlich selbst Romanfigur, etwa bei Franz Werfel, und stand Modell für Egon Schiele: Die 1892 geborene Bibiana Amon hatte ein ziemlich aufregendes Leben, und doch ist sie heute nahezu unbekannt. Walter Schübler nimmt uns mit auf eine leidenschaftliche und akribische Spurensuche nach den wenigen Zeugnissen, die von ihr geblieben sind - durch Archive, aber vor allem durch »Barrières«. Nahe an ihrem eigenen Leben erzählt sie darin u. a. von sexuellem Missbrauch in der Kindheit und dem Versuch, traditionelle Rollenklischees zu durchbrechen. So verdichten sich die bruchstückhaften biografischen Quellen zum Bild einer imponierenden Persönlichkeit.
Das war es also mit den Büchern, auf die ich 2022 (zumindest in der ersten Jahreshälfte) gespannt bin, und von denen ich jetzt ganz exklusiv nur euch erzählt habe. Ich weiß, es sind wieder viel zu viele geworden! Einige davon werden vermutlich im Laufe des Jahres auch in meinen regulären, für alle frei zugänglichen Newslettern auftauchen (nächste Woche verschicke ich den nächsten davon), aber es ist natürlich völlig illusorisch, dass ich mir tatsächlich alle von ihnen nach ihrem Erscheinen näher anschauen werde. Aber so habe ich doch einen ganz ordentlichen Pool an Neuerscheinungen zusammenbekommen, aus dem ich meine Lektüren der nächsten Monate dann je nach Lust und Laune schöpfen kann. Vielleicht war ja für euch auch was passendes dabei!?
Macht’s gut, vielen Dank für die Aufmerksamkeit und für eure Unterstützung, wir lesen uns hier und/oder auf Twitter! <3
Eure Magda