Ein weiblicher Text
Ein Rückblick auf meinen September voller persönlicher und literarischer Höhepunkte
Ihr Lieben,
der September ist schon wieder fast vorbei und beinahe hätte ich es nicht geschafft, einen Newsletter zu verschicken, weil mir diesen Monat so viele wirklich wunderbare Dinge passiert sind, die meine Aufmerksamkeit und Energie gefordert haben. Sie hatten aber fast alle irgendetwas mit Literatur zu tun, weshalb ich euch hier gerne davon erzähle:
Gleich am ersten Septemberwochenende durfte ich im Rahmen des diesjährigen LCB Sommerfests mit der Ullstein-Lektorin Melina Brüggemann und der Autorin Antonia Baum auf einer Bühne sitzen und gemeinsam mit den beiden über das Werk von Marlen Haushofer sprechen, von der im November endlich eine Werkausgabe mit ihren gesammelten Romanen und Erzählungen erscheint.
Die Einladung zu dieser Veranstaltung hat mich aus verschiedenen Gründen sehr gefreut: einerseits, weil ich kürzlich erst mit großer Begeisterung Antonia Baums neuen Roman Siegfried gelesen hatte, der viele Themen beeinhaltet, die mich literarisch betrachtet in letzter Zeit besonders interessiert haben: die Doppelbelastung von Autorinnen- und gleichzeitiger Mutterschaft, romantische (Hetero-)Beziehungsstrukturen innerhalb unserer patriarchalen Gesellschaft, das Aufdecken innerfamiliärer Konflikte und Gewaltstrukturen und den daraus resultierenden intergenerationellen Traumata. In dieser Hinsicht stand Antonia Baums Roman für mich in einem eindeutigen Dialog mit den Romanen von z.B. Anne Rabe oder Elfi Conrad, mit Alena Schröders neuem Buch Bei euch ist es immer so unheimlich still (das mir — schwer vorstellbar — sogar noch besser gefallen hat als der Vorgänger Junge Frau, am Fenster stehend etc.) und natürlich auch mit Marlen Haushofers eigenen Romanen und Erzählungen, die ja fast allesamt das giftige Brodeln hinter den aufgeräumten Fassaden bürgerlicher Ehen zum Thema haben. Haushofers Texte sind natürlich der zweite Grund, weshalb ich das Event auf dem LCb Sommerfest so gerne zugesagt habe. Ich nutze ja sowieso seit Jahren jede Gelegenheit, um von Haushofers literarischer Genialität zu schwärmen, denn sie nimmt seit Jahren einen festen Platz in meinem ganz persönlichen Autorinnen-Olymp ein. Dennoch lag meine letzte intensive Haushofer-Lektüre schon ziemlich viele Jahre zurück (2016 verbrachte ich meinen “Summer of Haushofer”, in dem ich innerhalb weniger Wochen fast ihr gesamtes Werk am Stück verschlang) und deshalb war ich enorm dankbar für diese Gelegenheit, mich sozusagen beruflich und gegen Bezahlung nochmal einigen meiner liebsten Haushofer-Texte zu widmen. Im Vorfeld unseres Bühnengesprächs habe ich deshalb neben Eine Handvoll Leben und Die Tapetentür vor allem auch meinen absoluten Lieblingstext von ihr, nämlich die Novelle Wir töten Stella, wiedergelesen. Bei dieser Erzählung aus der Sicht einer unglücklichen Hausfrau und Mutter, die sich selbst eine Mitschuld am Suizid einer jungen Frau gibt, mit der ihr Ehemann eine kurze Affäre begonnen hatte, stimmt wirklich jedes Wort! Falls ihr noch nichts von Haushofer gelesen habt, wäre das meine persönliche Empfehlung für den Einstieg — danach wollt ihr euch eh dringend die gesamte Werkausgabe anschaffen!
Weshalb ich dem Haushofer-Panel beim LCB ebenfalls zu großem Dank verpflichtet bin, ist die Tatsache, dass meine Vorbereitung im Vorfeld der Veranstaltung mich auf die Spur einer anderen heutzutage quasi unbekannten deutsch-österreichischen Autorin gebracht hat, deren Gedichte mir buchstäblich Schauer über den Rücken haben laufen lassen. Ich hatte Marlene Krispers Essay Das ordentliche Leben der Marlen Haushofer gelesen und darin war ganz hinten ein Hinweis auf ein weiteres Buch von Marlene Krisper abgedruckt, in dem diese sich mit dem Leben und Werk einer Autorin namens Dora Dunkl befasst — ein Name, der mir bis dahin noch nie untergekommen war. Eine kurze Internetrecherche brachte hervor, dass es sich dabei um eine Steyrer Freundin von Marlen Haushofer handelte, die in ihrem als “Dunklhof” bekannten Haus sogenannte “Serenadenabende” veranstaltete, auf denen neben musikalischen Beiträgen und der Rezitation klassischer Lyrik auch Texte von Marlen Haushofer oder eben von Dora Dunkl selbst vorgetragen wurden. Das hat mich natürlich sofort unglaublich neugierig gemacht, aber an Dunkls Texte heranzukommen, gestaltete sich zunächst schwierig. 1992 erschienen ihre gesammelten Werke unter dem Titel Ein Haus aus Stein in dem österreichsichen Kleinstverlag edition wehrgraben, online konnte ich aber keinerlei antiquarische Exemplare davon finden, auch in keiner Berliner Bibliothek war das Buch vorhanden, sodass ich es schließlich über eine Fernleihe bei einer anderen Bibliothek bestellen musste. Der Aufwand hat sich aber absolut gelohnt, denn als das Buch dann abholbereit war und ich es zuhause aufschlug, blieb mir beim Lesen von Dora Dunkls Gedichten fast die Spucke weg. Ich finde es völlig unverständlich und geradezu skandalös, dass diese Dichterin heutztage beinahe vergessen ist und ihre Texte für ein breiteres Publikum nicht mehr verfügbar sind:
VOM FEUER UND DER APHASIE I feuerzüngiges Blatt Mund der es ansaugt und hält nicht atmen Haare im Rauch Mund im Feuer Füße im Tau wortlos wortlos nichts berühren II dennoch sage ich: Löwenzahn Weisdorn die Wiese und sage Geliebter und sage Musik und Gedicht sage Blick Schwermut und Täuschung vielleicht ist alles nicht zu erkennen III aber ich sehe die Wiese und meinen Geliebten höre Musik und Gedicht fange den Blick mit den Fingerspitzen fühl ich die Kanten von Tisch Mauer und allem was rauh das Seidige legt sich an meine Haut schmiegt sich an und ich fühl es fühl das Seidige und das Rauhe auf meiner Haut sehe was zerreißt verbrennt und verglüht aber sagen wie es war als mir die Glut auf die Haut fiel kann ich nicht (Dora Dunkl, aus: Ein Haus aus Stein. Gesammelte Werke. Herausgegeben von Till Mairhofer, edition wehrgraben, Steyr 1992)
In der Woche nach nach dem Haushofer-Event bin ich nach Island gereist, um für einige Tage meine Freundin Berit zu besuchen, die mit ihrer Familie in Reykjavík wohnt. Während ich mit Berit gemeinsam isländische Antiquariate geplündert habe (ich verspüre seither das dringende Bedürfnis, Isländisch zu lernen, weil es dort so tolle Bücher — Berit hat mir die Klappentexte immer aus dem Stegreif übersetzt — zu entdecken gegeben hätte), wurde mir von den Kolleginnen aus dem Ocelot ein Foto zugespielt, das mir sofort freudiges Herzklopfen verursacht hat:
Während meiner Abwesenheit war dort eine Kiste von der Verlagsauslieferung des Rowohlt Verlags angekommen, die mehrere Stapel der ersten beide Bände der von Nicole Seifert und mir herausgegebenen Buchreihe rororo Entdeckungen enthielt. Ihr könnt vorstellen, wie unglaublich aufregend es ist, zu wissen, dass diese Bücher jetzt deutschlandweit in verschiedenen Buchhandlungen ausliegen und so hoffentlich zu vielen begeisterten Leser*innen finden werden.
Erste Reaktionen dieser Leser*innen haben mich bereits auf verschiedenen Wegen erreicht und es macht mich so froh, dass die von uns ausgewählten Bücher euch auch so beindrucken und mitreißen wie Nicole und mich und unsere Mitstreiterinnen aus dem Rowohlt Verlag. (Wenn ihr eines oder gar beide der Bücher schon gelesen und gemocht habt, dann lasst es mich sehr gerne wissen, hier oder über eines der gängigen sozialen Netzwerke!) Besonders gefreut habe ich mich über Anja Rützels tolle Besprechung (€) von Christa Anita Brücks Ein Mädchen mit Prokura, die kürzlich im SPIEGEL erschienen ist.
Ich war schon lange sehr interessiert an den Angestelltenromanen der Weimarer Republik, habe Vicki Baums Menschen im Hotel, Irmgard Keuns Gilgi und Das kunstseidene Mädchen, Gabriele Tergits Käsebier erobert den Kurfürstendamm oder auch Margaret Goldsmiths Patience geht vorüber (vor einigen Jahren vom wunderbaren AvivA Verlag wiederentdeckt) verschlungen (und auch Kästners Fabian und Falladas Kleinen Mann, aber wen interessieren schon die Männer, gell?), und als ich dann zum ersten Mal Christa Anita Brücks Roman Ein Mädchen mit Prokura gelesen habe, der seit seinem ersten Erscheinen 1932 nicht mehr neu aufgelegt worden war, war mir sofort klar, dass dieser unbedingt in eine Reihe mit diesen anderen inzwischen zu modernen Klassikern avancierten Texten gehört. Er handelt von einer Handvoll Angestellten in einer Berliner Privatbank während der deutschen Bankenkrise des Jahres 1931, allen voran Thea Iken, einer ambitionierten jungen Frau, der es trotz des Neids und der Missgunst ihrer männlichen Kollegen gelingt, sich im Betrieb bis auf die Position der Prokuristin hochzuarbeiten und sich ihrem Chef, dem Bankier Brüggemann, unentbehrlich zu machen. Für diesen beruflichen Erfolg zahlt Thea jedoch einen hohen Preis und gerät schließlich sogar ins Visier der Justiz — in der zweiten Hälfte entwickelt der Roman dann nämlich auch noch einen ziemlich mitreißenden Krimiplot! Abgerundet wird unsere Neuausgabe von Brücks Roman durch ein von mir verfasstes Nachwort, in dem ich Christa Anita Brücks Leben und Werk in den literarischen und gesellschaftlichen Kontext ihrer Zeit einordne — eine spannende Herausforderung für mich, bei der mir vor allem die vorbereitende Recherche (es ist gar nicht so leicht, Sekundärquellen zu einem seit Jahrzehnten vergessenen Buch und seiner Autorin zu finden!) großen Spaß gemacht hat. Ich bin sooo gespannt, was ihr vom Roman und von meinem Nachwort haltet!
Ganz anders und doch auch irgendwie thematsich verwandt ist unser zweiter Reihentitel, Mary Renaults Freundliche junge Damen (Ü: Getrud Wittich), der 1944 erstmals auf Englisch erschienen ist und bisher nie ins Deutsche übersetzt worden war. Zu ihm hat Nicole ein sehr erhellendes Nachwort verfasst, das diese unglaublich warmherzige queere Gesellschaftskomödie über die romantischen Verwicklungen zweier junger Frauen, die gemeinsam (als Paar) auf einem Hausboot auf der Themse leben — eine von ihnen verdient ihren Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Westernromanen! — in den Kontext von Mary Renaults weiterem literarischen Schaffen (sie ist sonst vor allem bekannt für ihre in der griechischen Antike angesiedelten historischen Romane) einordnet.
Ganz besonders am Herzen liegt mir außerdem unsere dritte Entdeckung, Louise Meriwethers Roman Eine Tochter Harlems (Ü: Andrea O’Brien) über ein junges Schwarzes Mädchen, das im Harlem der 30er Jahre aufwächst. Auch zu diesem unglaublich berührenden Roman, der bisher nie auf Deutsch vorlag, habe ich ein Nachwort verfasst, er scheint aber erst Mitte Oktober, deswegen werde ich euch im nächsten Newsletter nochmal mehr darüber erzählen. Ihr solltet ihn aber unbedingt schonmal vorbestellen!
Ab Oktober geht es auch endlich los mit den Veranstaltungen, die Nicole und ich gemeinsam (oder in manchen Fällen auch einzeln) zu unserer Rehe geplant haben:
Montag, 9. Oktober 2023, 20 Uhr, online: Instagram-Livestream mit Nicole und mir, moderiert von meiner lieben Ocelot-Kollegin Maria-Christina Piwowarski
Samstag, 18. Oktober 2023, 15 Uhr, Frankfurt: Ich stelle auf der Mediacampus-Bühne auf der Frankfurter Buchmesse (Halle 4.1 H92) im Gespräch mit zwei Nachwuchs-buchhändlerinnen unsere Reihe vor
Mittwoch, 1. November 2023 abends, Hamburg: Nicole und ich werden im Literaturhaus Hamburg die offizielle Reihenpremiere feiern, genauere Termin- und Ticketinfos folgen, sobald sie feststehen.
Mittwoch, 8. November 2023 abends, Marburg: Im Rahmen der Veranstaltungsreihe “Narrative um Weiblichkeit, Selbstbestimmung und Mutterschaft” des Marburger Literaturforums werden Nicole und ich über unsere Reihe sprechen — genauere Infos demnächst.
Samstag, 11. November 2023, 11:30 Uhr, Wien: Im Rahmen der diesjährigen Buch Wien werde ich auf der DER STANDARD-Bühne zusammen mit Julia Ritter und Sophia Stanger eine Live-Folge des feminsitischen Literatur-Podcasts Die Buch aufnehmen.
Mittwoch, 15. November 2023, 19:30 Uhr, Münster: Ich werde an einer Podiumsdiskussion zum Thema “Frauen im Literaturbetrieb” des Zentrums für Niederlande-Studien in Münster teilnehmen, nähere Infos folgen.
Freitag, 1. Dezember 2023, 19:30 Uhr, Hamburg: Nicole stellt im Büchereck Niendorf Nord unsere Reihe vor.
Ich würde mich sehr freuen, den einen oder die andere von euch bei einer dieser Veranstaltung zu sehen! Und im Laufe des Herbstes werden wir dann natürlich auch irgendwann die nächsten drei Bücher der Reihe bekanntgeben, die im Frühjahr 202 erscheinen sollen. Ich stecke gerade mitten in der Nachwortrecherche zu einem der Titel und habe wieder unglaublich viel Freude daran. Es wird u.a. ein bisschen magisch, so viel kann ich an dieser Stelle schon verraten!
Die nächste unglaublich aufregende Sache, die im September passiert ist, ist, dass ich mein Impostor-Syndrom besiegt habe! Ich wurde vor einigen Monaten nämlich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, im Hessischen Literaturforum in Frankfurt die Lesung von der Autorin eines meiner absoluten Lieblingsbücher der letzten drei Jahre zu moderieren: nämlich Doireann Ní Ghríofa und ihr großartiges, Form- und Genregrenzen sprengendes Buch A Ghost in the Throat (dt. Ein Geist in der Kehle, Ü: Cornelius Reiber und Jens Friebe), über das ich hier ja schon mehrfach gesprochen habe.
Der Knackpunkt: das Gespräch sollte nicht nur auf Englisch stattfinden (was für sich erstmal kein besonders großes Problem für mch darstellt), sondern ich sollte auch noch zwischendrin immer die Antworten der Autorin zusammenfassend übersetzen. Und vor dieser Aufgabe hatte ich wirklich einen Heidenrespekt, 1.) weil ich sowas in der Form noch nie gemacht hatte (auf Englisch moderiert habe ich schonmal, aber ohne Übersetzen) und 2.) weil mir Doireanns Buch so unglaublich viel bedeutet, dass ich das auf gar keinen Fall vermasseln wollte. Aber weil ich mich aufgrund meiner Nervosität wirklich extrem gut auf die Moderation vorbereitet hatte und weil Doireann der netteste Mensch der Welt ist, mit dem ich mich auf Anhieb absolut blendend verstanden habe (es war wirklich Liebe auf den eresten Blick!), lief alles so gut, wie ich es mir besser nicht hätte wünschen können — hinterher bekam ich so viel aufrichtig klingendes Lob von allen Seiten, dass ich an dem Abend bestimmt drei Zentimeter gewachsen bin und gar nicht mehr aufhören konnte zu grinsen. Man sieht das sehr gut auf diesem wunderschönen Foto, das drei Tage später entstanden ist, als Doireann mich und Maria (die sie zwei Tage nach mir auf dem ilb in Berlin moderiert hat) nochmal im Ocelot besucht und ein paar Bücher für uns signiert hat (alle schon weg, sorry!):
Doireann und ich haben uns sowohl auf als auch jenseits der Bühne sehr gut verstanden, wir haben uns ganz viel über Literatur ausgetauscht und diese Gespräche haben auch die Erklärung dafür geliefert, warum mich so tief ebrührt hat: wir beide haben einfach einen sehr sehr ähnlichen Literaturgeschmack, teilen mehrere Lieblingsbücher und haben uns gegenseitig lauter neue Empfehlungen geben können. Besonders schön fand ich es, Doireann von deutschsprachigen Büchern der letzten Zeit zu erzählen, die meiner Meinung nach in einem Dialog mit ihrem eigenen Text stehen, darunter Simone Scharberts grandioses du, alice. eine anrufung über Alice James, die talentierte Tagebuchschreiberin und völlig zu Unrecht viel unbekanntere Schwester des englischen Schriftstellers Henry James, das in der Erstausgabe zwar leider momentan vergriffen ist, aber schon im Januar in einer neuen Ausgabe erscheinen wird. Gemessen an Doireanns Reaktion auf meine Beschreibung könnte ich mir gut vorstellen, dass englischsprachige Leser*innen dieses Buch mit offenen Armen und Augen empfangen würden, falls also irgendwer der hier Mitlesenden für englische Verlage deutschsprachige Literatur scoutet, stoßt sie doch mal in die richtige Richtung! Während Simone Scharberts Buch 2019 und damit vor Doireanns Buch erschienen ist und folglich nicht von diesem inspiriert sein kann, sieht das bei einer anderen aktuellen deutschen Neuerscheinung anders aus: Jarka Kubsovas wirklich toller Roman Marschlande, der sich auf die Spuren einer Bäuerin begibt, die im 16. Jahrhundert in den Hamburger Marschlanden als Hexe verbrannt wurde, und dabei aufzeigt, wie die Folgen von historischem Frauenhass und Hexenverfolgungen bis in heutige Gesellschaftsstrukturen hineinreichen. Jarka Kubsova hat ihrem Roman nicht nur ein Zitat aus A Ghost in the Throat vorangestellt, sondern auch innerhalb des Textes immer wieder Anspielungen auf Doireann Ní Ghríofas Buch versteckt. Wenn ihr den Geist in der Kehle auch so sehr mochtet wie ich und weiterhin eine Antwort auf dessen Kernfrage, was ein weiblicher Text ist, sucht, solltet ihr daher unbedingt als nächstes zu den Marschlanden greifen, um dieser Antwort einen Schritt näher zu kommen. Im Anschluss daran empfehle ich außerdem dringend die Lektüre von Sarah Raichs klugem und mitreißendem historischen Roman Hell und laut, in dem sie das Leben der ersten deutschen Dichterin Hrotsvit von Gandersheim imaginiert — die Art und Weise, wie diese drei Autorinnen/Erzählerinnen jeweils Obsessionen mit bestimmten (literatur)geschichtlich vernachlässigten Frauen (Eibhlín Dubh Ní Chonaill, Abelke Bleken und Hrotsvit von Gandersheim) entwickeln und deren Geschichte freizulegen versuchen, scheint sich zumindest in meinen Augen sehr ähnlich zu sein!
In unserem Gespräch während ihrer Lesung in Frankfurt habe ich Doireann Ní Ghriofa auch genau danach gefragt — ich wollte wissen, welche Bücher sie bei ihrem eigenen Schreibprozess inspiriert haben und eines der Bücher, das sie dabei genannt hat, ist Kate Zambrenos Book of Mutter, das gerade auch in der deutschen Übersetzung von Dorothee Elmiger unter dem Titel Mutter (Ein Gemurmel) im Aki Verlag erschienen ist. Ich bin schon seit vielen Jahren, nämlich seit ich zum ersten Mal ihr Buch Heroines (in dem sie sich ähnlich wie Doireann Ní Ghríofa und co. auf die Suche nach den Spuren vergessener Frauen — in diesem Fall der Töchter, Schwestern und Ehefrauen erfolgreicher männlicher Schriftsteller wie T. S. Eliot, James Joyce usw. — begibt) gelesen habe, großer Fan von Kate Zambreno, ich habe fast alles von ihr gelesen und jahrelang darauf gewartet, dass ihre Texte endlich ins Deutsche übersetzt werden, damit ich sie endlich allen meinen Kund*innen und sonstigen Bekannten empfehlen kann. Wie toll, dass der Aki Verlag hier endlich einen Anfang gemacht hat:
Kate Zambreno hat über dreizehn Jahre lang an Mutter (Ein Gemurmel) gearbeitet. Entstanden ist ein Buch – zwischen Autofiktion, Memoir und Collage – über das Potenzial des Schreibens, der Fotografie und des Erinnerns. Es ist der zärtliche und zugleich unsentimentale Versuch einer Tochter, die Familienapokryphen nach dem Tod ihrer Mutter zu inventarisieren, sich murmelnd der Mutter zu nähern, die Trauer zugleich zu erinnern und zu vergessen. Kate Zambreno spinnt ein assoziatives Netz rund um die Leerstelle, an der die Mutter einst war, schreitet labyrinthische Erinnerungsräume ab, die vom »Muttergespenst« noch immer heimgesucht werden. Mit den Fragmenten der Mutter vermischen sich solche des Vaters, der Geschwister, von Louise Bourgeois, Roland Barthes, Henry Darger, Virginia Woolf, Franz Kafka und vielen anderen.
Als nächstes hoffe ich insgeheim auf eine deutsche Übersetzung von Zambrenos brilliantem To Write As If Already Dead, ein ähnlich genresprengendes Werk wie Book of Mutter, in dem Zambreno auf brilliante Art daran scheitert, eine akademische Analyse von Hervé Guiberts To the Friend Who Did Not Save My Life zu schreiben. Ihr seht schon, alle diese Bücher und Autorinnen, die ich euch heute empfehle, bilden zusammen irgendwie ein riesiges literarisches Netzwerk voller Querverweise und gegenseitiger Bezüge — einen kollektiven “female text” eben!
Bevor ich euch in den Oktober entlasse, möchte ich noch ganz kurz auf drei weitere ganz tolle Neuerscheinungen aus dem September hinweisen, denen ich eine breite Leser*innenschaft wünsche:
Über Rachel Yoders Nightbitch (Ü: Eva Bonné) habe ich vor zwei Jahren in diesem Newsletter schonmal sehr geschwärmt, jetzt ist endlich die deutsche Übersetzung erschienen:
Eine junge Mutter legt ihre eigene Karriere auf Eis, um sich um ihren Sohn zu kümmern. Ein Knochenjob zwischen Holzeisenbahn und Lätzchen. Doch als sie körperliche Veränderungen feststellt – geschärfte Eckzähne und Haare, die sich wie Fellbüschel anfühlen – entdeckt sie eine unbekannte, animalische Seite an sich. Je stärker sich die rationale Künstlerin auf ihre Verwandlung einlässt, desto natürlicher gestaltet sich die Beziehung zu ihrem Kind. Doch wie soll sie es ihrem Mann erklären, dass der Sohnemann neuerdings im Hundekorb schläft und statt Joghurt und Cornflakes lieber rohes Fleisch frühstücken möchte? Rachel Yoder hat mit ihrem sensationell klugen und urkomischen Roman über moderne Mutterschaft einen Nerv getroffen. Ein feministischer Familienroman, der seinesgleichen sucht.
Als ich die Beschreibung von Myriam Leroys Roman Rote Augen las, war ich mir erst unsicher, ob das Konzept, die gesamte Geschichte nur indirekt anhand der Nachrichten eines Online-Stalkers zu erzählen, über einen ganzen Roman hinweg trägt. Aber Leroy hat hier wirklich ein extrem beeindruckendes und erschütterndes Bild von digitaler gewalt und Frauenhass, Täter-Opfer-Umkehr und Himpathy gezeichnet, das von Daniela Högerle kongenial aus dem Französischen übersetzt wurde. Ganz ganz große Empfehlung!
Englische Autorinnen des 19. Jahrhunderts wie Jane Austen, die Brontë-Schwestern oder George Eliot sind aus dem Kanon nicht mehr wegzudenken, ihre Romane werden bis heute weltweit gelesen, übersetzt, neu aufgelegt und verfilmt. Mit ihren deutschsprachigen Zeitgenossinnen sieht es dagegen ganz anders aus, wer Middlemarch, Stolz und Vorurteil oder Sturmhöhe verschlungen hat, kennt die Werke von Fanny Lewald vermutlich eher nicht, auch wenn es sich bei ihr um eine der bedeutendsten deutschsprachigen — und jüdischen — Schriftstellerinnen ihrer Zeit gehandelt hat. Und das ist unglaublich schade, denn Lewald muss sich vor ihren englischen Kolleginnen keineswegs verstecken. Ihr früher Roman Jenny aus dem Jahr 1843, der starke autobiografische Züge aufweist, zeichnet anhand der – unglücklich verlaufenden – Liebesgeschichten der Geschwister Jenny und Eduard Meier, Kinder einer jüdischen Bankiersfamilie, die sich beide jeweils in christliche Partner*innen verlieben, ein eindrückliches Bild des im 19. Jahrhundert grassierenden Antisemitismus und übt dabei auch deutliche Kritik an den beschränkten Möglichkeiten, die Frauen ihrer Zeit offen standen, ohne dass dabei Lewalds feiner Humor auf der Strecke bleibt. Er ist gerade im Reclam Verlag in einer sehr schönen neuen Ausgabe erschienen und hat mir unglaubliche Lust auf weitere Texte von Fanny Lewald gemacht.
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich voraussichtlich irgendwann im Oktober verschicken und vermutlich wird es darin spooky werden. Bis dahin findet ihr mich mit buchnahem Content auf der Plattform formerly known as Twitter (solange es noch funktioniert), auf Instagram und neuerdings auch auf BlueSky.
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This was a female text. Auf bald!
Eure Magda
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So schön, diese Inspirationen zu lesen! Der Oktober mit Lesefutter ist gerettet und die Sehnsucht nach Büchern, die die Seele berühren und erfüllen erst einmal gestillt! Ist nötig wie essen! Danke!
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