Ein Sonnenstich mitten im Weihnachtsgeschäft
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Ihr Lieben,
heute wird es wirklich nur eine ganz ganz kurze Ausgabe meines Newsletters, weil ich wie bereits angekündigt so mitten im Weihnachtsgeschäft leider nur sehr wenig Energie für andere Verpflichtungen neben meiner hauptberuflichen Arbeit habe. Aber nach den Feiertagen wird es dafür nochmal eine extralange Sonderausgabe dieses Newsletters geben, in der ich euch meinen persönlichen literarischen Jahresrückblick präsentieren will.
Wenn in den letzten Jahren in Deutschland Übersetzungen aus dem Spanischen erschienen sind, handelte es sich dabei in den meisten Fällen um Texte lateinamerikanischer Autor*innen; literarische Werke spanischer (im Gegensatz zu allgemein spanischsprachigen) Schriftsteller*innen sind hierzulande leider kaum bekannt. (Woran das liegen könnte, hat Isabella Caldart bereits 2019 mit Blick auf den coronabedingt um ein Jahr nach hinten verschobenen Gastlandauftritt Spaniens auf der Frankfurter Buchmesse dargelegt.) Das Problem ist aber nicht etwa ein Neues, sondern scheint bereits seit über hundert Jahren bekannt (und bedauert): "So seltsam fern entrückt uns das Land der schönen, verschleierten Señoritas erscheint, so fremd wir uns seiner unruhigen inneren Politik gegenüber fühlen, so wenig bekannt ist uns auch – im Gegensatz zu der geradezu vorschriftsmäßigen Kenntnis seiner Klassiker – Spaniens Literatur der Moderne. Und das ist und bleibt bedauerlich" — so heißt es bereits 1908 im Vorwort zu einer von Else Otten (nach ihr ist der seit 2000 verliehene Else-Otten-Übersetzerpreis benannt) und Rosa Speyer übersetzten Anthologie Spanische Novellen, die im Buchverlag fürs Deutsche Haus (Berlin — Lepzig) erschien.
Neben verschiedenen kürzeren Erzählungen (männlicher) spanischer Autoren enthält dieser Band auch eine längere Novelle der Autorin Emilia Pardo Bazán, "die in der Gilde der spanischen Romanschriftsteller (beiderlei Geschlechts) einen allerersten Platz einnimmt." Pardo Bazán gilt als Wegbereiterin des Naturalismus in der spanischen Literatur und war eine der ersten Feministinnen Spaniens. Laut Wikipedia "tritt [sie] zwar gegen Determinismus und Pornographie ein, verteidigt aber unflätige Wörter und unmoralische Situationen in der Literatur" und wenn das nicht neugierig auf ihr Werk macht, weiß ich auch nicht.
Leider wurde von ihren vielen Romanen und Erzählungen bisher kaum etwas ins Deutsche übersetzt, lediglich von einem ihrer berühmtesten Romane, Das Gut von Ulloa, gab es mal eine Manesse-Ausgabe (in der Überetzung von Ute Frackowiak), aber auch die ist leider längst vergriffen.
Glücklicherweise ist aber die in der bereits erwähnten Anthologie von 1908 enthaltene Übersetzung ihrer Novelle Insolación (1889) unter dem deutschen Titel Sonnenstich inzwischen gemeinfrei und daher digital verfügbar, so dass ich sie (mit großer Begeisterung) lesen konnte. Der Text "zeichnet sich durch seinen ausgeprägten Feminismus und seine Infragestellung der moralischen Werte und der Doppelmoral der damaligen Gesellschaft aus, und zwar durch die Geschichte der sexuellen Affäre einer Witwe mit einem jüngeren Mann" (per DeepL aus der spanischen Wikipedia geklaut, weil ich zu müde für eigene Formulierungen bin!).
Für diesen "ausgeprägten Feminismus" ist bspw. der folgende Dialog (na gut, eher mansplainy MONOlog, aber inhaltlich hat der Kerl recht!) ein gutes Beispiel:
»Wenn Sie mir mit dem Respekt und der Selbstachtung kommen, die sich ein jeder schuldig ist ...«
»Nun, was das anbetrifft, ...« entgegnete Asis zögernd.
»Ich will gern zugeben, daß solche Dinge eine Frau adeln, im Grunde hängt sie aber doch vom gesellschaftlichen Urteil ab. Eine Frau kommt sich selbst nach einem Fehltritt befleckt und unehrenhaft vor, weil man ihr von Kindheit an klar zu machen versucht hat, das sei das Niedrigste und Schlechteste und niemals wieder gut zu machen. Es sei wie die Hölle, aus der es kein Entrinnen gibt. Uns hingegen impft man das Gegenteil ein, daß es für einen Mann halbwegs eine Schande sei, keine Abenteuer erlebt zu haben, und daß man ihn albern finde, wenn er ihnen aus dem Wege geht, so daß dasselbe, was man von den Männern verlangt, die Frauen erniedrigt. Das sind ererbte Vorurteile, wie Spencer sagen würde. Und lassen Sie mich Ihnen noch einige weitere Beispiele nennen.«
Besonders gefallen hat mir an dieser Erzählung — neben einer ziemlich lustigen Schilderung des betrunkenen, sonnenstichigen Zustands der Protagonistin während eines klandestinen romantischen Ausflugs mit ihrem andalusischen Verehrer —, dass darin die Heldin nicht nur die gesellschaftlichen Konventionen verletzen darf, wie es beispielsweise auch Edna Pontellier in Kate Chopins erst zehn Jahre später erschienenem amerikanischen Roman The Awakening (1899, Das Erwachen, aus dem Englischen von Barbara Becker et al., neu bearbeitet von Karen Nölle und Christine Gräbe) tut, sondern dass sie dafür am Ende nicht einmal mit dem Tod bestraft wird, wie es so vielen unkonventionellen Heldinnen in der Literatur des 19. Jahrhunderts ergangen ist (meistens entweder durch Suizid oder durch Tuberkulose) — nein, Asís Taboada bekommt sogar ein waschechtes Happy End!
Auch wenn sie an einigen Stellen etwas altbacken daherkommt und auch die im Original vorkommenden (habe ich mir sagen lassen) dialektalen Eigenheiten einiger Figuren im Deutschen nicht umgesetzt wurden, fand ich die Übersetzung von Else Otten und Rosa Speyer insgesamt doch erstaunlich angenehm zu lesen. Mit einer sorgfältigen Überarbeitung könnte man sie meiner Meinung nach relativ einfach für eine Neuausgabe dieses tollen feministischen Textes übernehmen! Falls also irgendein Verlag noch dringend für 2022 und den Gastlandauftritt eine Übersetzung aus dem Spanischen ins Programm nehmen möchte, bekommt ihr hiermit einen perfekt geeigneten Titel quasi auf dem Silbertablett serviert! Worauf wartet ihr also?
Das war’s also für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich wieder an einem Mittwoch verschicken, vermutlich in zwei Wochen und dann mit irgendeiner Form von literarischem Jahresrückblick. Bis dahin findet ihr mich wie immer mit buchnahem Content auf Twitter.
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Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda