Ein Rübezahl-Cocktail, zwei Kassandras, ein Blurb und noch mehr...
Heute wird es lyrisch, mythologisch, kurzgeschichtlich und leicht depressiv, aber vielleicht ist das auch einfach nur das Leben
Hallo ihr Lieben,
es sind schon wieder zwei Wochen vergangen seit meinem letzten Newsletter und die ersten 1,5 Wochen davon waren ehrlich gesagt, aus verschiedenen Gründen und (frei)beruflichen Verpflichtungen, ziemlich stressig für mich. Aber dann hatte ich von Samstag bis Montag drei glorreiche freie Tage, die ich diesmal komplett nur den Freuden privater Lektüre und guten Essens gewidmet habe, und aus diesem Lesekurzurlaub haben sich diverse Themen ergeben, von denen ich euch nun hier berichten möchte. Also los:
Ich gestehe, dass ich a) nur ziemlich selten Lyrik lese une b) deshalb wenig Ahnung davon habe. Vergangenes Wochenende allerdings habe ich eine frisch erschienene Lyrikanthologie gelesen, die mir enorm viel Freude bereitet hat:
Als letztes Jahr im März weltweit die ersten Lockdowns begannen, Schulen und Kindergärten geschlossen wurden und die Menschen ihre Wohnungen nur noch aus triftigen Gründen verlassen durften, erfand die Autorin Kathrin Schadt für ihre 7jährige Tochter eine Poesiewerkstatt, die schnell auch das Interesse anderer Familien erregte. In der zugehörigen Facebookgruppe wurde den teilnehmenden Kindern und Jugendlichen wöchentlich eine Poesieaufgabe von namhaften deutschsprachigen Dichter*innen gestellt, über die unterschiedlichen Ergebnisse der jeweiligen Aufgabe konnten sich die jungen Poet*innen dann zunächst innerhalb einer geschlossenen Gruppe austauschen, bevor die so entstandenen Gedichte auf der offiziellen Facebookseite des Projekts POEDU auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Aus all diesen Beiträgen begabter Sprachkünstler*innen zwischen 4 und 14 Jahren ist ein ganzes Buch entstanden, das jetzt im Elif Verlag erschienen ist. Und dieses Buch macht ganz schön was her! Nicht nur hat sich der dichtende Nachwuchs ausgesprochen coole Künstler*innennamen zugelegt (einer nennt sich z.B. "Rübezahl Cocktail", jemand anderes dichtet als "Wanda, der riesige Riesensalamander"), auch die Texte selbst können sich in vielen Fällen eindeutig mit so manchen etablierten erwachsenen Künstler*innen messen. So bringt z.B. Maurits, 9 Jahre, meine aktuelle Stimmung nach einem jahr Pandemie und Stubenhocken sehr gut auf den Punkt:
Es regnet.
Die Kanalisation trinkt das Regenwasser.
Der Kuchen schmeckt lecker, und alles ist wie immer.
Auch Raketenpeter, 5 Jahre, findet sehr einfache und tiefgründige Worte für die aktuelle Situation:
Die Welt ist gerade
nicht interessiert –
wenn die Sonne abends auf
und morgens untergeht
Und haben wir uns nicht in letzter Zeit alle mal so gefühlt wie in diesem Gedicht von der 9-jährigen Regina?
In diesem Buch lassen sich noch viele weitere talentierte Nachwuchsautor*innen entdecken, weshalb ich es euch nur allerwärmstens empfehlen kann.
Hier war es. Da stand sie. Diese steinernen Löwen, jetzt kopflos, haben sie angeblickt. Diese Festung, einst uneinnehmbar, ein Steinhaufen jetzt, war das letze, was sie sah. […] Mit der Erzählung geh ich in den Tod. Hier ende ich, ohnmächtig, und nichts, nichts, was ich hätte tun oder lassen, wollen oder denken können, hätte mich an ein andres Ziel geführt.
Mit diesen Worten beginnt mein absoluter Lieblingsroman, Christa Wolfs Kassandra, der mein Interesse an (feministischen) Nacherzählungen und Neuinterpretationen mythologischer Stoffe vor etwa 12 Jahren, als ich ihn zum ersten Mal las, entfacht hat. Der Roman erzählt die Geschichte des trojanischen Krieges und damit verknüpfter Ereignisse, wie man sie aus Homers Ilias und den antiken Tragödien von Aischylos und Euripides kennt, aber aus einer dezidiert weiblichen Perspektive, nämlich aus der Sicht von Kassandra, der trojanischen Prinzessin und Seherin, die das Schicksal der Stadt vorausgesehen, der aber niemand gelaubt hat, bis es zu spät war. Seit das Buch gegen Ende meiner Gymnasialzeit Schullektüre bei uns war, habe ich es viele Male gelesen und jedes Mal Neues darin entdeckt. Die interessanteste Entdeckung in dem Zusammenhang habe ich aber tatsächlich erst vergangenes Wochenende gemacht…
Letzten Sommer habe ich mir in einem englischsprachigen Antiquariat in Berlin (dem famosen Hopscotch Reading Room) einen ganzen Stapel Bücher ausgesucht und in letzter Sekunde noch ein Buch dazugelegt, von dem ich noch nie gehört hatte und dessen Autorin mir auch überhaupt nichts sagte. Aber diesem Titel konnte ich, bei meiner Christa Wolf-Liebe, einfach nicht widerstehen:
Ich kaufte also auch Ursule Molinaros Roman The Autobiography of Cassandra, Princess & Prophetess of Troy (leider nur noch antiquarisch erhältlich). Und dann landete es wie so viele meiner Bücher erstmal auf einem unaufhaltsam anwachsenden Stapel und geriet ein wenig in Vergessenheit, bis ich es vor einigen Tagen doch endlich hervorkramte und zu lesen begann. Und anfing, ein bissche über die Autorin Ursule Molinaro in Erfahrung zu bringen. Und hier wird es spannend.
Ursule Molinaro (1916-2000) war Romanautorin, Dramatikerin, Übersetzerin und bildende Künstlerin, die 12 Romane und zahlreiche Kurzgeschichten verfasste, Bücher aus dem Deutschen und Französischen ins Englische übersetzte und sechs Sprachen fließend beherrschte. Ihr von all ihren Werken am deutlichsten als feministisch einzustufender Roman The Autobiography of Cassandra erschien 1979, also vier Jahre vor Christa Wolfs Erzählung, und schildert die Ereignisse rund um den Trojanischen Krieg aus der Sicht der Seherin Kassandra, die, nachdem sie sich als Jugendliche den Avancen des Gottes Apollo verweigert hat, von diesem mit einem Fluch belegt wurde, dass niemand ihren Prophezeiungen über das Schicksal von Troja je Glauben schenken möge. In dem kurzen Roman teilt Kassandra 3000 Jahre nach dem Fall Trojas als Geist in der Unterwelt rückblickend ihre Interpretation der Ereignisse (einen ähnlichen Rahmen verwendet Jahrzehnte später Margaret Atwood in ihrer Penelopiade, in der sie die verstorbene Penelope, Ehefrau von Odysseus, aus der Unterwelt heraus eine feministische Neuinterpretation der Odyssee erzählen lässt) und legt dabei den Fokus vor allem auf die Entwicklung der trojanischen Gesellschaft hin zu einem strengen Patriarchat, in dem den Frauen jegliche Autonomie genommen wird. So weit, so ähnlich zu Christa Wolfs Kassandra. Was natürlich reiner Zufall sein kann und höchstwahrscheinlich ist. Molinaros Roman ist schließlich nie in deutscher Übersetzung erschienen und es ist fraglich, ob Wolf in der DDR in den frühen 80ern zufällig über die englische Fassung des Buches hätte stolpern können. In ihren Poetikvorlesungen zur Entstehung von Kassandra aus dem Jahr 1982 wird Molinaros Text jedenfalls nicht erwähnt. Eine Verbindung zwischen beiden Autorinnen bestand allerdings durchaus. Denn als 1980 die englische Übersetzung von Wolfs Roman Kindheitsmuster erschien, war wer dafür verantwortlich? Ein Übersetzerinnenduo, das neben Hedwig Rappolt aus - genau! - eben jener Ursule Molinaro bestand, die ein Jahr zuvor ihren Kassandra-Roman veröffentlicht hatte. Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter spekulieren, aber völlig abwegig scheint es mir nicht, dass Wolf Molinaros Text kannte oder zumindest von dessen Existenz wusste. Falls irgendwelche Wolf-Expert*innen hier mitlesen und Näheres darüber wissen, sagt doch gern bescheid!
Molinaros Roman jedenfalls habe ich nicht nur wegen der Wolf-Connection mit Interesse und Vergnügen gelesen, auch für sich stehend bildet er eine interessante Ergänzung zum Kanon feministischer Bearbeitungen mythologischer Stoffe. Er wird zwar Christa Wolfs Kassandra in meiner Leserinnengunst nie auch nur ansatzweise den Rang ablaufen, aber er hat mir trotzdem so gut gefallen, dass ich auf jeden Fall noch weitere Werke von Molinaro lesen möchte.
Und bevor wir zum nächsten Thema übergehen, möchte ich euch noch dringend das absolut grandiose Foto von Ursule Molinaro zeigen, das die Rückseite von The Autobiography of Cassandra ziert:
Ich wünschte, alle Autor*innenfotos wären so kreativ/exzentrisch/fun. Habt Ihr noch andere Lieblingsbeispiele in dem Bereich?
Den meisten von Euch, zumindest denen, die mich von Twitter und/oder Instagram kennen, wird nicht entgangen sein, wie sehr ich mich für Kurzgeschichten(sammlungen) begeistern kann. Das posaune ich schließlich an jeder virtuellen Ecke und zu jeder erdenklichen Gelegenheit in die Welt hinaus. Deshalb hab ich mich auch nicht lange bitten lassen, als mir angeboten wurde, einen neuen Kurzgeschichtenband vorab in Manuskriptform schon zu lesen und ein Blurb für die Rückseite zu liefern:
Kurzgeschichten sind hierzulande eine vernachlässigte Textgattung. Wer die Texte von Sarah Raich gelesen hat, kann über diese Tatsache nur verwundert den Kopf schütteln.
Ganz richtig, ein Zitat von mir steht jetzt auf einem richtigen, echten, gedruckten und veröffentlichten Buch hinten drauf! Und zwar auf den Erzählungen von Sarah Raich in Dieses makellose Blau, das ganz frisch beim tollen mikrotext Verlag erschienen ist. Wie aufregend!
Wer einen ersten Eindruck von Sarahs Geschichten bekommen möchte, kann eine der Erzählungen auch bei 54books nachlesen, wo sie letztes Jahr schon erschienen ist. Danach aber schleunigst das Buch kaufen, es lohnt sich!
Ein weiterer Verlag, der meine Kurzgeschichtenliebe neuerdings teilt, ist übrigens der Verbrecher Verlag, wo vor einigen Monaten die neue Reihe "kurze form" gestartet wurde. Den Anfang machte die Reihe, in der in Zukunft regelmäßig Kurzgeschichtenbände erscheinen sollen, vergangenen Herbst mit Anke Stellings Grundlagenforschung (auch ein Erzählband, der mir ausgesprochen gut gefallen hat). Als zweiten Titel der Reihe haben sich die Verbrecher*innen nun eine Samlung ins Haus geholt, die mir besonders am Herzen liegt:
Die bosnische Autorin Asja Bakić hat mit Mars (aus dem Kroatischen übersetzt von Alida Bremer) ein Buch geschrieben, das (in seiner englischen Übersetzung von Jennifer Zoble) zu meinen absoluten Lieblingslektüren 2020 gehört hat. Die enthaltenen Geschichten sind grotesk, fantastisch, feministisch und sprühen nur so vor Einfallsreichtum und der Lust an der spielerischen Vermischung unterschiedlicher Genres. Es geht um Unterwelten, Klone, Doppelgängerinnen und das Leben auf dem Mars, aber auch um Freiheit, um Wissen und um Macht und darum, trotz allem der verdrehten Realität irgendeinen Sinn zu entlocken. Wer Erzählungen wie die von Camilla Grudova, Carmen Maria Machado oder Lesley Nneka Arimah mochte, sollte sich auch die Sammlung von Asja Bakić auf keinen Fall entgehen lassen!
Auch wenn ich Kurzgeschichtensammlungen insgesamt sehr schätze, kommt es eigentlich fast immer vor, dass mich ein oder zwei Geschichten jeder gegebenen Sammlung eher kalt lassen. Nicht so bei The Secret Lives of Church Ladies von Deesha Philyaw, das ich letztes Wochenende fast in einem Rutsch gelesen habe. Tatsächlich hat mich hier jede einzelne Erzählung auf ganz unterschiedliche Weise sehr berührt. In den neun Geschichten geht es um unterschiedliche Schwarze Frauen und Mädchen aus vier verschiedenen Generationen, mit unterschiedlichen Wünschen, Begierden und Bedürfnissen, die sie jeweils mit den kirchlichen Doppelstandards und gesellschaftlichen Konventionen in Einklang zu bringen versuchen müssen. Es geht um Sexualität und Begehren, um Mutterliebe und Schwesternschaft, um Selbstbehauptung im Angesicht einer Gesellschaft, die alles weiter so machen möchte, wie es schon immer getan wurde. Es geht um Freiheit, um Hoffnung, um Zuversicht. Schon jetzt eines meiner klaren Jahreslesehighlights!
Eigentlich hatte ich vor, euch zum Schluss noch ein bisschen von dem wahnsinnig guten und berührenden Buch über Depression vorzuschwärmen, das mein Freund Till Raether (ja, ich empfehle auch Bücher meiner Freund*innen öffentlich, wenn ich sie wirklich gut finde, und sage es halt dann dazu; das läuft im Feuilleton auch nicht anders, nur mit weniger Transparenz) kürzlich geschrieben hat, aber dann ist mir doch noch aufgefallen, dass es erst in 2 Wochen erscheint und ich deshalb streng genommen noch gar nicht öffentlich darüber sprechen darf. Auch wenn wir hier ja eigentlich unter uns sind, belasse ich es deshalb erstmal bei einem ganz kurzen Zitat aus dem Buch, das mich sehr zum Nachdenken gebracht hat, und lege euch sehr ans Herz, euch Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben? schonmal vorzubestellen, wenn ihr euch in irgendeiner Form für das Thema Depression interessiert:
"Sich zusammenreißen bedeutet, Kraft aufzuwenden, damit die anderen nicht merken, wie es einem geht."
So, das war’s für heute von mir.
Über Feedback, Wünsche, Vorschläge etc. freue ich mich immer. Auch Fragen nach individuellen Buchempfehlungen könnt ihr mir gerne stellen, die werde ich dann jeweils (nach Lust und Energie) im nächsten Newsletter gesammelt (anonymisiert) beantworten, damit alle etwas davon haben.
Den nächsten Newsletter werde ich wieder an einem Mittwoch verschicken, entweder schon nächste oder in zwei Wochen, je nach Lust und Laune. Bis dahin findet ihr mich auf Twitter.
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Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda