Surprise!
Ihr dachtet doch nicht etwa, ich entlasse euch aus diesem unfassbar langen und anstrengenden Jahr, ohne euch auf den letzten Metern noch einen kleinen Newslettergruß mitzuschicken! Zugegeben, die letzte Ausgabe ist jetzt schon wieder ziemlich lange her, in der Zwischenzeit war bei mir extrem viel los, vieles davon war positiv (zum Beispiel mein Coronatest Mitte November, 0/10, would not recommend!), aber vieles auch ganz schön anstrengend — und für mich als Einzelhandelsangestellte ist das Arbeitsjahr auch noch längst nicht vorbei (die vermutlich anstrengendste Buchhandelsschicht des Jahres absolviere ich vermutlich gerade, während ihr diesen Newsletter lest!), weshalb dies auch nur eine äußerst kurze Ausgabe wird. Im Januar verschicke ich dann wieder meinen inzwischen traditionellen, meist seeehr ausführlichen Rückblick auf mein persönliches Lektürejahr 2023. Außerdem könnt ihr mir in den Kommentaren oder als Mailantwort gerne mal Rückmeldung geben, ob ihr euch von mir eine Vorschau auf interessante Titel aus den Frühjahrsprogrammen deutschsprachiger Verlage wünscht oder ob ihr eh schon überfordert seid, weil eure Merklisten aus allen Nähten platzen und ich mir das deshalb lieber sparen soll. Jetzt möchte ich euch aber erstmal noch einen sehr atmosphärischen australischen Thriller empfehlen und euch davon erzählen, wie ich kürzlich ein persönliches literarisches Vorurteil überwunden habe, bevor ich euch mit guten Wünschen in die Feiertage und das neue Jahr entlasse!
Eine der tollsten Sachen, die dieses Jahr passiert sind, war ja das Erscheinen der ersten drei Bände der von mir und Nicole Seifert im Rowohlt Verlag herausgegebenen Reihe rororo Entdeckungen — und der anschließenden kleinen Veranstaltungstour, auf der ich im November unterwegs war. Eines der Tour-Highlights war definitiv mein Auftritt auf der Buch Wien, wo ich gemeinsam mit Julia und Sophia vom feministischen Buchpodcast Die Buch vor Live-Publikum eine Podcastfolge über das Wiederentdecken von Schriftstellerinnen im Allgemeinen und über Louise Meriwethers großartigen Roman Eine Tochter Harlems (Ü: Andrea O’Brien) im Besonderen aufzeichnen durfte. Hier gibt es die Folge zum Nachhören.
Bei einer Familienfeier Ende September hat mir mein Onkel sehr von einem australischen Roman vorgeschwärmt, der u.a. von Joan Lindsays Australian Gothic-Klassiker Picnic at Hanging Rock inspiriert sei, nämlich Felicity McLeans Cordie (Ü: Kathrin Bielfeldt, orig. The Van Apfel Girls Are Gone) — und da wurde ich natürlich sofort hellhörig! (Manche von euch erinnern sich vielleicht noch an eine frühe Ausgabe dieses Newsletters vor über 2 Jahren, in der ich neben anderen Gothic Novels auch über Lindsays Roman geschrieben habe.) Als ich von der Familienfeier nach Hause kam, habe ich mir daher sofort die englische Originalausgabe von McLeans Debütroman bestellt, die sich dann als perfekte Lektüre für Tag 3 meiner Corona-Isolation entpuppte, als das Fieber schon etwas abgeklungen, mein Kopf aber immer noch ziemlich matschig war, was ganz gut zu der vage bedrohlichen Atmosphäre des Romans gepasst hat.
In Hanging Rock ging es, um das kurz zu rekapitulieren, um eine Klasse von Internatsschülerinnen, die am Valentinstag des Jahres 1900 gemeinsam mit ihrer Lehrerin einen Ausflug zum Hanging Rock, einer Felsformation etwa 70 km nördlich von Melbourne, unternehmen, wobei einige der Mädchen während dieses Ausflugs spurlos verschwinden und trotz aufwändiger Suchen und polizeilicher Ermittlungen niemals wieder gefunden werden. Auch in The Van Apfel Girls Are Gone, das in einem von wildem Buschland umgebenen australischen Vorort spielt, geht es um das mysteriöse Verschwinden junger Mädchen, in diesem Fall das der titelgebenden Van Apfel-Schwestern Hannah, Cordelia und Ruth, Töchter sehr strenger, religiöser Eltern, die an einem Abend im Sommer 1992 während einer Schulaufführung gemeinsam unbemerkt den Zuschauerraum verlassen und von da an nie mehr wieder gesehen werden — bis auf die jüngste Schwester Ruth, die einige Tage später tot aus einer Felsspalte geborgen wird. Aber was mit Hannah und Cordie passiert ist, ob sie weggelaufen sind oder entführt wurden, ob sie ebenfalls tot sind oder sich womöglich irgendwo unter falschem Namen eine neue Identität aufgebaut haben, bleibt auch zwei Jahrzehnte später und bis zum Ende des Romans unaufgeklärt.
Erzählt wird die ganze Geschichte aus der Sicht von Tikka Molloy, die zum Zeitpunkt des Verschwindens "elf Jahre und zwei Monate" alt und deren ältere Schwester eng mit dem ältesten der Van Apfel-Mädchen befreundet war und der die Ereignisse rund um das Verschwinden der Mädchen auch Jahrzehnte später nicht aus dem Kopf gehen. Als sie nach jahrelanger Abwesenheit schließlich als erwachsene Frau zu ihrer Familie nach Australien zurückkehrt, versucht Tikka deshalb, sich an die Ereignisse jenes Sommers zu erinnern und in Gesprächen mit ihrer Schwester, ihren Eltern und ihrer leicht dementen älteren Nachbarin die Tage und Wochen vor dem Verschwinden der Van Apfels zu rekonstruieren, ohne dabei jedoch eindeutige Antworten auf ihre zahlreichen Fragen zu finden.
Wenn ihr nur Bücher mögt, in denen alle Handlungsfäden am Ende übersichtlich miteinander verknüpft und alle offenen Fragen eindeutig beantwortet werden, lasst lieber die Finger von diesem Roman, wenn ihr andererseits Bücher meistens mehr für den Vibe als für den Plot lest und Fans von bspw. Jeffrey Eugenides’ The Virgin Suicides oder auch von Catherine Chidgeys Pet (das ich im November-Newsletter empfohlen hatte) seid, dann solltet ihr auch diese atmosphärisch-düstere Coming-of-Age-Geschichte definitiv auf eure Merkliste setzen!
Habt ihr schonmal etwas von der irischen Bestsellerautorin Maeve Binchy gelesen? Bis vor etwas über einer Woche hätte ich selbst diese Frage mit "nein" beantworten müssen, denn wenn ich ehrlich bin, hatte ich den Namen bisher immer mit seeehr seichter, kitschiger Massenware, wie sie in deutschen öffentlichen Bücherschränken zu tausenden zu finden ist, assoziiert und als für mich völlig uninteressant abgetan. Was einerseits daran liegt, dass ihre Bücher heutzutage mit solchen Covern vermarktet werden:
Und andererseits zeigt es natürlich, dass selbst ich, die ich mich inzwischen seit vielen Jahren mit der Unterschätzung, Fehlkategorisierung und sexistischen Vermarktung von Schriftstellerinnen beschäftige und eigentlich gelernt habe, mich nicht von mieser Covergestaltung etc. hinters Licht führen zu lassen, nicht völlig davor gefeiht bin, selbst hin und wieder in alte Vorurteile zu verfallen, wenn es um sog. "Unterhaltungsliteratur" geht. Ich habe nämlich neulich ganz zufällig und quasi unabsichtlich meine allererste Erzählung von Maeve Binchy in einer englischen Weihnachtsanthologie gelesen und diese Geschichte war keinesfalls seicht, sondern ganz im Gegenteil so in sich rund und zynisch und witzig und lebensnah und einfach rundum gelungen, dass ich sofort beschlossen habe, meine Vorurteile über Bord zu werfen und mich näher mit Binchys Werk zu befassen.
Die Erzählung, die bei mir dieses Umdenken bewirkt hat, heißt "This Year It Will Be Different" und handelt von einer berufstätigen Ehefrau und Mutter erwachsener Kinder, die nach Jahren der Aufopferung, in denen sie — neben ihrem Beruf und der restlichen Hausarbeit — ganz allein für die Vorbereitung und Abwicklung des perfekten Familienweihnachtsfestes verantwortlich gewesen ist, plötzlich entscheidet, sämtliche Weihnachtsvorbereitungen zu boykottieren. Als ihrem Mann und ihren Kindern schließlich ein Licht aufgeht, spucken sie große Töne, dass dieses Jahr alles anders würde, doch die Hoffnungen unserer Protagonistin auf echte Veränderung fallen beim Anblick der großen Überraschung, die ihre Familie für sie vorbereitet hat, schnell in sich zusammen: sie haben ihr einen Fernseher in der Küche installiert, damit sie beim Kochen und Abspülen nicht alles verpasst, was der Rest der Familie sich währenddessen im Wohnzimmer ansieht. Diese recht zynische kurze Erzählung hatte mich vom ersten Satz an so überzeugt, dass ich gleich beim Onlineantiquariat meines Vertrauens den gleichnamigen Erzählungsband mit 19 weiteren Weihnachtskurzgeschichten von Maeve Binchy bestellt und innerhalb weniger Tage auch gelesen habe. Denn die Geschichten waren zwar sprachlich und formal nicht außergewöhnlich komplex oder innovativ und die Handlungen, in denen es größtenteils um irgendwelche Familien- oder Beziehungskonflikte während der Feiertage geht, häufig relativ vorhersehbar, aber das macht nichts, denn dafür waren die Geschichten allesamt auch unfassbar "wholesome", warmherzig und aufmunternd und haben mir inmitten des anstrengenden Weihnachtsgeschäfts in der Buchhandlung einfach enorm die Laune aufgehellt. Und das ist schließlich ein nicht zu unterschätzendes Kriterium für die Wahl der privaten Lektüre! Deshalb habe ich mir für die Weihachtsfeiertage jetzt auch gleich noch Maeve Binchys 1982 erschienenen Debütroman Light a Penny Candle (dt. Irische Freundschaften, Ü: Christine Strüh und Ursula Wulfekamp) eingepackt und freue mich unglaublich darauf, in die 600 Seiten dicke Geschichte über die jahrezehntelange Freundschaft zwischen einem irischen und einem englischen Mädchen, die beginnt, als letztere als Kind nach Irland geschickt wird, um dem "London Blitz"zu entkommen, einzutauchen. Wie gut es mir dann tatsächlich gefallen hat, werdet ihr vermutlich dann im nächsten Newsletter erfahren.
An dieser Stelle möchte ich nochmal darauf hinweisen, dass ich Mitte Januar wieder einen Online-Lesekreis zu einem sehr dicken und komplexen Buch starten werde, das ich mit euch gemeinsam lesen möchte, und zwar die erste vollständige deutsche Übersetzung von Ursula Le Guins experimentellem SciFi-Roman Immer nach Hause (Ü: Matthias Fersterer, Karen Nölle & Helmut W. Pesch), die vor kurzem im neu gegründeten Carcosa Verlag erschienen ist:
Ich tüftle gerade noch am genauen Ablauf des Lesekreises herum, da es sich ja um keinen linear erzählten Roman handelt, bei dem man einfach die verschiedenen Kapitel auf mehrere etwa gleich große Leseabschnitte verteilen kann und fertig. Sobald ich mir überlegt habe, wie sich das alles am besten organisieren lässt und wann der genaue Starttermin zum gemeinsamen Lesen und Diskutieren sein soll, erfahrt ihr es hier natürlich als erstes. Aber wenn ihr jetzt schon wisst, dass ihr teilnehmen wollt, könnt ihr euch das Buch ja schonmal besorgen.
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter mit meinem Jahresrückblick 2023 werde ich Mitte Januar verschicken. Bis dahin findet ihr mich mit buchnahem Content auf Instagram und neuerdings auch auf BlueSky.
Sollte diese Ausgabe nicht in eurem Postfach auftauchen, dann checkt euren Spam-Ordner und fügt ggf. diese Mailadresse eurem Adressbuch hinzu. Grundsätzlich könnt ihr alle alten Ausgaben des Newsletters auch jederzeit im Archiv auf der Substack-Seite nachlesen.
Ich wünsche euch einen angenehmen Jahreswechsel, auf bald!
Eure Magda
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Die normalen Beiträge (ca. einmal im Monat) bleiben ganz normal für alle Abonnent*innen zugänglich, egal ob mit oder ohne Bezahlabo.
Auch über einmalige Trinkgelder auf Paypal freue ich mich natürlich immer sehr.
Liebe Magda, auch ich würde mich über eine Vorschau freuen, auch diesmal mit vielen Tipps aus Indie-Verlagen. Ich hab in diesem Jahr versucht, mehr Indie zu lesen, aber ich bin noch nicht so ganz zufrieden mit meiner Quote, da geht noch was.
Wünsch dir noch ein paar ruhige Tage und einen guten Rutsch!
Liebe Grüße aus Wien,
Birgit
Moin, liebe Magda, ich freue mich schon auf Deinen Jahresrückblick und wäre auch auf eine Vorschau gespannt.
Liebe Grüße,
Anne-Marit