Ein enttäuschender Schlüsselroman und ein literarischer Schwindel
Und warum ich eine bestimmte Autorin erst jetzt für mich entdeckt habe
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jetzt hat es wieder ein paar Wochen gedauert, bis ich mich aufraffen konnte, mal wieder einen Newsletter für euch zu schreiben. Ich hoffe, ihr nehmt es mir nicht übel, dass ich euch so lange habe warten lassen, und plane, mich in der nächsten Zeit wieder auf einen etwas regelmäßigeren Rhythmus einzupendeln — Ideen für die nächsten Ausgaben habe ich mehr als genug! Aber für heute lasse ich es nochmal etwas langsamer angehen…
Ich habe mich kürzlich zu einem Experiment hinreißen lassen und mir ausnahmsweise mal wieder ein Buch von einem (weißen alten) Mann gekauft und muss nun leider berichten, dass es nur so semierfolgreich ausging. Dass ich mich überhaupt in diese für mich ungewohnten Gefilde gewagt habe, hatte zwei Gründe: erstens kann ich unter bestimmten Umständen ein extrem oberflächlicher Mensch sein und die englische Hardcoverausgabe des neuesten Romans von Julian Barnes (von dem ich übrigens noch nie zuvor etwas gelesen hatte) ist einfach wunderschön gestaltet. I mean:
Zweitens hatte ich neulich zufällig irgendwo im Internet gelesen, dass es sich bei Elizabeth Finch (die deutsche Übersetzung von Gertraude Krueger erscheint diesen November bei KiWi, sieht aber viel weniger hübsch aus) quasi um eine Art Schlüsselroman über die Schriftstellerin und Kunsthistorikerin Anita Brookner handelt, und weil ich Brookner, wie aufmerksamen Leser*innen dieses Newsletters nicht entgangen sein wird, sehr verehre (ich habe bisher fünf ihrer über 20 Romane gelesen und fand jeden einzelnen davon großartig), war damit eh alles entschieden und so habe ich mich mit vergleichsweise hohen Erwartungen an meinen ersten Roman von Julian Barnes gewagt.
Elizabeth Finch wird erzählt aus der Sicht von Neil, einem eher mittelerfolgreichen Schauspieler, Ehemann und Vater, der in seinen 30ern einen Kurs über "Culture and Civilization" an der Abendschule belegt, der von der titelgebenden Elizabeth Finch unterrichtet wird. Neil ist beeindruckt von der exzentrischen, stoischen, anspruchsvollen Dozentin und obwohl er an der Aufgabe scheitert, einen abschließenden Essay zu ihrem Kurs bei ihr einzureichen, bleibt er auch nach dem Studium weiterhin in regelmäßigem Kontakt mit ihr. Als Elizabeth Finch einige Jahre später schwer erkrankt und schließlich stirbt, vermacht sie Neil ihre Bibliothek und ihren schriftlichen Nachlass, und Neil setzt alles daran, die Persönlichkeit seiner einstigen Mentorin anhand ihrer Aufzeichnungen endlich zu ergründen. So weit, so interessant und nachweislich auch brookneresque, denn wer vor der Lektüre des Romans auch Barnes’ Nachruf auf seine 2016 verstorbene Freundin Anita Brookner gelesen hat, der springen die Parallelen zwischen der fiktiven und der realen Frau sofort ins Auge.
Leider wird der Roman nach dem ersten Drittel aber sehr, sehr langweilig. Der komplette zweite Teil des Romans (etwa 50 Seiten) besteht nämlich aus einem Essay — vermeintlich von Neil anhand der Notizen in Elizabeth Finchs Nachlass verfasst — über den römischen Kaiser Julian, der von 360 bis 363 regierte und vor allem für seinen vergeblichen Versuch bekannt ist, das von Kaiser Konstantin dem Großen eingeführte Christentum zugunsten der griechischen Religion und östlicher Mysterienkulte wieder zurückzudrängen.
In der Praxis liest sich das wie ein sehr ausführlicher Wikipediaeintrag oder eben wie eine Hausarbeit an der Uni, jedenfalls aber nicht wie ein mitreißender literarischer Text. Und auch sonst bleibt die brooknereske Figur der Elizabeth Finch, der wir ja nur durch die Linse von Neil begegnen, leider viel zu blass. Eine Aneinanderreihung von ein paar Quirks und Exzentrizitäten ergibt eben nicht automatisch eine interessante, tiefgründige Charakterstudie, und so hat mich dieser Roman eher enttäuscht zurückgelassen.
Wo wir aber gerade bei schriftlichen Nachlässen sind: Ein sehr gutes Buch wiederum über eine Erzählfigur, die nach dem Tod ihres*ihrer Partner*in deren*dessen schriftlichen Nachlass inklusive Vortragsnotizen sichtet und davon ausgehend eigene Gedanken zu den Themen Liebe, Verlust, Trauer etc. formuliert, ist übrigens Ali Smiths Artful, eine wunderbar experimentelle Mischung aus Fiktion und Essay, die ich an einem einzigen Tag verschlungen habe. Obwohl mir Ali Smiths Bücher, allen voran ihre Jahreszeiten-Tetralogie, seit Jahren von allen Seiten angepriesen wurden (teilweise von Leuten, deren literarischem Geschmack ich quasi blind vertraue, weil er sehr stark mit meinem eigenen übereinstimmt), habe ich mich aus Gründen, die mir selbst nicht ganz ersichtlich sind, lange dagegen gesträubt, ihre Bücher zu lesen. Neulich habe ich aber dem Drängen eines Freundes nachgegeben und ihren schon etwas älteren Roman How to be both (dt. Beides sein, Ü: Silvia Morawetz) gelesen — und war schockverliebt in diesen sprachlich und formal experimentellen Roman über Kunst und Trauer, über Mutter-, Tochter- und Freundinnenschaft, über Geschlechterrollen und frühen Internet-Aktivismus. Als ich die letzte Seite umgeblättert hatte, war mir sofort klar, dass kein Weg dran vorbei führt: entgegen meiner früheren Absichten muss ich mich nun eben doch durch Ali Smiths Gesamtwerk arbeiten. Und ich freue mich sehr auf alles, was dabei noch auf mich zukommt!
Ich habe mich heute spontan an eine interessante Geschichte über einen vergessenen Bestseller aus den 1920er Jahren erinnert, die ich vor drei Jahren schon einmal ausführlich auf Twitter zum Besten gegeben habe. Weil viele von Euch mich damals noch nicht kannten, recycle ich ganz dreist meinen eigenen Thread, um euch heute hier noch einmal diesen faszinierenden Fall zu schildern:
1925 erschien beim Verlag Thornton Butterworth Publishers unter dem Titel The Diary of a Young Lady of Fashion in the Year 1764-1765 das Tagebuch einer jungen irischen Erbin namens Cleone Knox. Herausgegeben wurde das Tagebuch, „written in a fine Italian hand, in four leather-bound notebooks“, von Alexander Blacker Kerr, einem Nachfahren von Cleone Elizabeth Knox, der laut eigener Aussage erstmals 1904 von Verwandten auf dessen Existenz aufmerksam gemacht wurde. Miss Cleone Elizabeth Knox wurde am 12. Mai 1744 in Castle Kearney, Co. Down, als Tochter des wohlhabenden Landbesitzers Edward Knox und der Erbin Selina Allen geboren. Da Castle Kearney 1808 in einem Feuer zerstört wurde, existiert heute leider kein Porträt von Miss Knox.
Das Tagebuch setzt im März des Jahres 1764 ein, als Cleones Liebschaft mit dem benachbarten Mr Ancaster auffliegt und ihr Vater sie, um sie dem Einfluss des indiskutablen Verehrers zu entziehen, auf eine Grand Tour durch England und das europäische Festland mitnimmt:
March 3rd
This morning had a vastly unpleasant interview with my Father. Last night, Mr Ancaster, who is the indiscreetest young man alive, was seized suddenly while riding home along the shore with the desire to say good night to me. He climbed the wall, the postern gate being locked at that late hour, and had the Boldness to attempt to climb the ivy below my window; while but half way up the Poor Impudent young man fell. (If he hadn't Lord knows what would have happened for I am terribly catched by the Handsome Wretch.) As ill luck would have it Papa and Ned, who were conversing in the library, looked out at that moment and saw him lying Prostrate on the ground!
No need to describe the scene that followed. My father it seems thinks me guilty of Indiscretion and Immodesty, though why I don't know, for I was sound asleep the whole time and never heard so much as an Oath (and I dare swear there were plenty flying round!). My father said some mighty unkind things to me this morning and I wept loudly for more than Half an Hour.
Poor Mr A. from all accounts is a Scoundrel, a Libertine and a Blackguard, and I have been forbidden ever to see, speak or indeed think of him again. Well, we shall see.
March 4th
Keep to my room to avoid the sour glances that are cast at me if I venture below. My father as grim as death will not say a word to me. Ned puts on monstrously Virtuous Prudish Airs. In short I am made to feel I am in disgrace. Declare I cannot see how I am to blame if a Foolish Headstrong young man attaches himself a trifle too warmly to me. Tried on my new striped silk gown which becomes me excessively well. Poor Mr A. I doubt will never see me in it.
[…]
March 22nd
My father called me to his study this morning, and communicated to me a most amazing piece of intelligence. We are to set off next month for a Grand Tour of Europe, visiting first my sister Foley and her husband in Derbyshire, proceeding from thence to London and the Continent. My father offered as his reason for this sudden decision his earnest desire that Ned and me should see more of the World than is possible in this uncivilized country, and thus be enabled to enlarge and cultivate our minds. I own that at first the prospect of this Trip and all the many Pleasures 'twould bring in its train filled me with delight. Then I realised that poor Mr A. would most certainly not be permitted to accompany me on this journey, and my eyes filled with tears.
Would I meet any young man more handsome in all the capitals of Europe? Would the sight of the finest Churches and palaces be more agreeable to me than a loving glance from his Wicked black eyes? Plainly no.
Es folgen amüsante Beschreibungen ihrer Reisen und Begegnungen mit historischen Größen wie Voltaire oder König Ludwig XV. Besonders aufgrund der willkürlichen Großschreibung und obsoleter Schreibweisen wurde das Tagebuch von Kritikern für authentisch befunden. Es avancierte nach Veröffentlichung 1925 sowohl in Großbritannien als auch in den USA sofort zum Bestseller und wurde von Kritikern in eine Reihe mit dem Tagebuch von Samuel Pepys gestellt. Winston Churchill soll gar seine Verspätung bei einer Dinnerparty einmal damit entschuldigt haben, dass er erst das Buch von Miss Knox habe fertiglesen müssen.
Einer der begeisterten Kritiker war jedoch unbewusst auf der richtigen Fährte: "In fact the whole book is full of vivid description of every day life as it was lived so long ago. It is related in so lively a fashion that the whole diary seems writ but yesterday. She isn’t a modern lady in the sense that she is all leg exhibition and lipstick. In fact she lived two hundred years ago. Otherwise she is as modern as a post war flapper."
Trotz oder gerade wegen seiner großen Beliebtheit bei den Leser*innen wurde die Authenzität des Tagebuchs nämlich schnell infrage gestellt, zumal der vermeintliche Herausgeber Alexander Blacker Kerr sich standhaft weigerte, öffentlich in Erscheinung zu treten. Anfang 1926 war man sich weithin einig, dass es sich bei dem Tagebuch um einen literarischen Hoax handle, eine Mutmaßung, die schließlich durch zwei Interviews im Daily Express und der New York Times bestätigt wurde.
Tatsächlich stammten Cleones amüsante Tagebucheinträge aus der Feder der 19jährigen Magdalen King-Hall. Sie hatte laut eigener Aussage das Tagebuch innerhalb weniger Wochen während eines langweiligen Aufenthalts am Meer zur eigenen Belustigung geschrieben und war nun selbst relativ erstaunt über den Erfolg ihrer Erfindung: "I thought everyone would realise it was only fiction… If I had realized that so many distinguished persons would take it seriously, I would have spent more time and pains on it. […] Chiefly I wrote the book to escape from boredom. It was my first serious essay in literature." Es sollte aber nicht ihr letzter Ausflug in die Welt der Literatur bleiben. Sie schrieb später noch diverse historische Romane, der erfolgreichste davon, Life and Death of the Wicked Lady Skelton, wurde sogar zwei Mal verfilmt (1945 und 1983).
Das Tagebuch und seine Veröffentlichungsgeschichte dagegen gerieten mit der Zeit in Vergessenheit. Ab und zu stießen neue Leser*innen in Antiquariaten auf das Buch, ohne zu ahnen, dass das Ganze als „the greatest literary hoax of the century“ (Times) entlarvt worden war. In den 80er Jahren sendete die BBC sogar eine Radiolesung des Tagebuchs unter der Annahme, dass es tatsächlich aus dem 18. Jahrhundert stamme und daher keinem Copyright mehr unterläge. 1994 wurde eine 12teilige Bearbeitung des Tagebuchs als Teil der BBC Women’s Hour ausgestrahlt, wiederum unter Annahme der Authentizität des Textes. In einem Kommentar aus dem Harvard Crimson vom Juni 1926 heißt es: "It is now time for all those who suspected a take to be gently proud of their perspicuity and for those who were taken in to admire the delicacy and completeness of the art that could deceive them."
Das Tagebuch der Cleone Knox wurde leider nie ins Deutsche übersetzt und ist auch im englischen Original schon lange nicht mehr lieferbar. Wenn ihr es irgendwo antiquarisch günstig ergattern könnt, schlagt zu!
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich voraussichtlich wieder an einem Mittwoch verschicken, welcher genau das sein wird, steht aber in den Sternen. Bis dahin findet ihr mich mit buchnahem Content auf Twitter.
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Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda