Ihr Lieben,
was für eine emotional auslaugende Woche liegt hinter uns! Ich hoffe, ihr und eure Lieben seid alle wohlauf. Ich hatte mir eigentlich verschiedene ganz andere Themen für diese Ausgabe meines Newsletters zurechtgelegt, aber dann ist mir am Sonntag etwas passiert, was alle diese Pläne über den Haufen geworfen hat, und deshalb erscheint auch dieser Newsletter einen Tag später als üblich…
Das klang jetzt dramatischer, als es in Wahrheit war. Tatsächlich kam ich am Sonntag Abend auf dem Nachhauseweg vom Quesadilla-Essen an einem offenen Bücherschrank vorbei und musste natürlich kurz stehen bleiben und gucken, ob sich darin seit meinem letzten Besuch irgendwas getan hat. Hatte es. Neben alten Reiseführern, zerfledderten Witzesammlungen und gefühlt 300 Bänden Konsalik fiel mir nämlich dieses Buch hier ins Auge:
Der Name Dorothea Kleine sagte mir nichts (was für mich ja erfahrungsgemäß erstmal ein ganz gutes Zeichen ist), der Blick ins Impressum ließ vermuten, dass es sich bei ihr um eine DDR-Autorin handelt, und der Klappentext klang ein wenig seltsam, aber irgendwie auch spannend, also steckte ich Jahre mit Christine ein und ging nach Hause.
Am Montag beim Frühstück habe ich den Roman dann zu lesen begonnen und der Einstieg mit seiner Umkehrung der typischen Geschlechterrollen (wie etwa diese zum Klischee gewordene "Honey, I’m home"-Szene der amerikanischen 50er Jahre) hat mich sofort fasziniert:
Es ist wie jeden Tag; du wartest, daß sich der Schlüssel im Schloß dreht und Christine nach Hause kommt. Du nimmst ihr den Mantel ab, legst ihn über einen Bügel, hängst den Bügel in den Garderobenschrank, schiebst den Seidenschal in einen Ärmel des Mantels. Währenddessen schaut Christine in den Spiegel, der über dem niedrigen Tischchen im Korridor hängt, sie beugt sich ihm entgegen, nahe an das Glas heran, streicht mit dem Zeigefinger die Haut unter den Augen glatt, obwohl sie noch glatt ist. Du weißt, diese Geste soll Bekümmerung ausdrücken, ist aber nur Entschuldigung, vielleicht auch ein wenig Koketterie.
Du beobachtest verstohlen ihr Gesicht, weil du wissen willst, wie der Abend verlaufen wird. – Dieser Abend wird sein wie hundert andere Abende, belanglos.
Du redest, was du jeden Abend redest: Post, nein, Post ist nicht gekommen, eine Karte aus Oberhof, ich kann die Unterschrift nicht entziffern. Angerufen hat auch niemand, die Wäsche ist gekommen, natürlich liegt Jenny im Bett, es ist ja halb neun, Schularbeiten hat sie gemacht, selbstverständlich.
Christine geht ins Wohnzimmer, setzt sich in den Sessel, legt die Unterarme auf die Lehne, den Kopf nach hinten, schließt die Augen, bis heut bist du nicht dahintergekommen, ob das Theater ist.
Ich brüh dir Tee, hörst du dich sagen, den Fernseher mach ich aus, den Film hab ich schon mal gesehen. Wenn ich so sitze und auf dich warte, ist Fernsehen immer noch das beste, aber jetzt bist du ja da.
Das Buch handelt von Christine, der selbstbewussten Direktorin einer Konservenfabrik, und ihrem Mann Mattes, einem sanftmütigen und verträumten Betriebsschlosser, der sich – aus ideologischer Sicht fatal! – sehr wenig mit seiner Arbeit identifiziert, unter einem – von Christines Verhalten ihm gegenüber noch verstärkten – Gefühl permanenter Unzulänglichkeit leidet und sich die Zeiten zurücksehnt, in denen er und Christine sich noch etwas zu sagen hatten. Als Mattes erfährt, dass Christine eine Affäre mit dem Parteisekretär und Freund der Familie Friedemann hat, entschließt er sich zu einem außergewöhnlichen Schritt mit weitreichenden Folgen…
Erzählt wird diese Geschichte kapitelweise abwechselnd aus den Perspektiven von Mattes, Christine und von Leutnant Peter Berg, dem stellvertretenden Dezernatsleiter der örtlichen Kriminalpolizei. Besonders fasziniert hat mich dabei die Tatsache, dass sich hier nicht nur die Figuren abwechseln, sondern auch die grammatischen Personen. Die Mattes-Kapitel sind alle in der 2. Person Singular, also der Du-Form, verfasst, die Christine-Kapitel in der Ich-Perspektive und die Kapitel aus der Sicht von Peter Berg sind in der 3. Person geschrieben. Ich habe schon diverse Bücher gelesen, in denen zwischen 1. und 3. Person gewechselt wird und auch einige wenige, die in der . Person geschrieben waren, aber einen Roman, in dem alle drei Varianten vorkommen, kannte ich tatsächlich bisher noch nicht. Ich finde aber, dass es in diesem Fall sehr gut funktioniert und auch sehr gut zu den Rollen bzw. Beziehungen zum*zur Leser*in gepasst hat, die die einzelnen Figuren jeweils in diesem Roman einnehmen (Mattes als Identifikationsfigur, Christine als von sich selbst überzeugte und mit sich selbst beschäftigte Antagonistin und Peter Berg als das Geschehen kommentierende Außenseiterfigur). Obwohl das Ende des Buches mich zwar dann doch nicht vollends überzeugen konnte, fand ich den Roman ungewöhnlich und unterhaltsam genug, dass ich unbedingt sofort mehr über seine Autorin und ihr Werk herausfinden wollte.
Leider sind die Informationen insgesamt eher spärlich. Kleine wurde am 6. März 1928 als Dorothea Morawietz in Krappitz, Oberschlesien geboren. Sie studierte Journalismus und arbeitete bis 1961 als Redakteurin bei verschiedenen Tageszeitungen der DDR, später war sie als Gerichtsreporterin tätig. Letzteres inspirierte sie immer wieder auch in ihrer Arbeit als Schriftstellerin und Drehbuchautorin, denn in ihren Kriminalromanen und auch in ihren Szenarien für DDR-Fernsehkrimis (u.a. für mehrere Folgen von Polizeiruf 110) griff sie immer wieder auf reale Fälle zurück. Eine Angewohnheit, die ihr mehr als einmal Ärger mit der Obrigkeit einbrachte. So war ihr Roman eintreffe heute von 1978 beispielsweise fünf Jahre lang verboten, und der vom Fall Hagedorn inspirierte Polizeiruf Am hellerlichten Tag, für den sie die erste Fassung des Drehbuchs schrieb, wurde seinerzeit noch vor der Ausstrahlung vernichtet und erst Jahrzehnte später in einer rekonstruierten Fassung erstmals im deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Doch Kleine reizte bereits in den 60ern mit einem ihrer ersten Krimis die Grenzen der sozialistischen Kulturpolitik aus: "Heftig angegriffen wurde Kleine bereits für ihren 1966 erschienenen Kriminalroman Mord im Haus am See, denn die Täterin gehörte als Vorsitzende der Bezirksgewerkschaftsleitung der Funktionärselite an. Damit hatte Kleine ein wichtiges Tabu des DDR-Kriminalromans verletzt: die Täter stammen nicht aus der Führungselite." (Gerhard Schilling, Ostdeutsche Kriminalliteratur nach der Wende: Eine thematische und gattungsgeschichtliche Untersuchung)
Dorothea Kleine verstarb am 9. Januar 2010 in Cottbus. "Zu ihren Lebzeiten standen viele andere, zum Teil große Autorinnen aus der DDR an ihrer Seite, angefangen von ihrem Vorbild Anna Seghers. Und eines Tages wird man sie auch in den aufwendigen Lexika deutscher Literatur westlicher Provenienz finden, wo man sie in diesen Tagen noch vergeblich sucht." Dieser Tag, den Roland Müller damals in seinem Nachruf auf die Autorin vorhersagte, scheint noch nicht gekommen zu sein, denn von ihren zahlreichen Romanen ist inzwischen leider kein einziger mehr in einer Print-Ausgabe lieferbar (lediglich zwei ihrerKrimis sind momentan noch als eBooks zu beziehen).
Ich hoffe dennoch, dass er mit seiner Einschätzung recht behalten wird. Ich selbst freue mich nun erst einmal auf meine persönliche weitere Entdeckung ihres Werks. Das Päckchen mit meiner antiquarischen Großbestellung müsste schließlich jeden Moment hier ankommen…
Bevor ich mich in die Dorothea Kleine-Lektüre stürze, noch eine Ankündigung in eigener Sache: meine Twitterfreundin Sarah Raich hat einen ganz großartigen feministisch-dystopischen Jugendroman geschrieben, der nächste Woche bei Piper erscheint:
„Mad Max: Fury Road trifft Marlen Haushofers Die Wand: Dieser schonungslose und doch hoffnungsvolle Jugendroman verbindet Feminismus, Klimakrise und knallharte Action zu einem unglaublich spannenden dystopischen Plot, der nicht nur räumlich gar nicht so weit von unserer Realität entfernt scheint.“ (So habe ich es in meinem Blurb, der auf dem Buchrücken zitiert wird (!), beschrieben.)
Zur Feier dieses freudigen Anlasses habe ich Sarah und ihre Lektorin Kathrin Dodenhoeft (Disclaimer: auch eine gute Freundin von mir) zu einer kleinen Gesprächsrunde/Lesung per Instagram-Livestream eingeladen, das Ganze findet am Donnerstag, den 29.7. um 20 Uhr auf meinem Instagram-Kanal statt. Wir freuen uns auf euch!
Das war’s für heute. Über Feedback, Wünsche, Vorschläge und Anregungen jeder Art freue ich mich immer.
Den nächsten Newsletter werde ich wieder an einem Mittwoch verschicken, vermutlich aber diesmal nicht in zwei Wochen schon, sondern erst in drei oder vier, denn ich gönne mir eventuell eine kleine Sommerpause, in der ich einfach mal gar nichts tue außer Faulenzen und Lesen. Bis dahin findet ihr mich aber wie immer mit buchnahem Content auf Twitter.
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Bis zum nächsten Mal, frohes Lesen,
eure Magda
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Super. Tausend Dank für diese neue Ausgabe des Newsletters. Bin begeistert von dieser Autorin und werde sofort versuchen, an ihr Buch ranzukommen.